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auch Norbert Elias selbst zum Thema gemacht.3 Der Prozess der Informalisierung wird beispielsweise von Cas Wouters geradezu als Indikator dafür gesehen, dass der Zivilisationsprozess weiter voranschreitet. „Im Gegensatz zum oberflächlichen Eindruck führt größere Zwanglosigkeit in der Beziehung interdependenter Personen zu tiefer verwurzelten Selbstzwängen und erfordert sie auch... .“4 Eine professionalisierte Erziehung versucht darauf zu antworten, die Beratung in und durch Zeitschriften ist ein Beleg dafür.

      Obwohl Elias die Rolle der Erziehung im Prozess der Zivilisation nicht explizit erwähnte, ist doch offensichtlich, dass er ihr in seinem dargestellten Entwicklungsprozess einen hohen Stellenwert beigemessen hat. So können denn auch die langfristigen Trends des Zivilisationsprozesses wie Funktionsteilung, Differenzierung und Affektkontrolle durch die bisherigen historischen Arbeiten zur Erziehungsgeschichte gut belegt werden.

      Elias hat seine Analysen vorwiegend mit Hilfe von Anstandsbüchern durchgeführt. Seine Bücher schrieb er Ende der dreißiger Jahre. Hier endet auch vorläufig „sein“ Zivilisationsprozess. Die Analyse der Ratgeberrubrik einer großen Familienzeitschrift5 könnte zeigen, wie sich Verhaltensstandards der Erziehung in den letzten Jahrzehnten seit dem 2. Weltkrieg verändert und angepasst haben. Es wird zu zeigen sein, ob durch dieses langfristig angelegte Fallbeispiel die Kontinuitätsannahmen von Elias bestätigt werden können. Gleichzeitig nimmt diese Untersuchung für sich in Anspruch ein Eignungstest für die weiterentwickelte Konzeption der Zivilisationstheorie zu sein.

      Stellen wir abschließend noch einmal die Vorteile einer Übernahme der Zivilisationstheorie von Elias für eine historisch arbeitende Erziehungswissenschaft heraus: Zunächst wäre mit einem zivilisationstheoretischen Ansatz, so wie ihn Elias darstellt, das Dilemma geisteswissenschaftlicher Idealisierung und Individualisierung überwunden. Ebenso eine materialistische Funktionalisierung der Erziehung aber auch eine mit Universalien arbeitende soziologische Entwicklungstheorie. Ein weiterer Vorteil ist die empirische Überprüfbarkeit der Theorie von Elias.

      Beispielgebend und gerade für eine Geschichte der Erziehung fruchtbar erscheint die Verbindung von Soziogenese und Psychogenese. Eine parallele Entwicklung von Soziogenese und Psychogenese wird auch durch neuere Entwicklungen nicht in Frage gestellt. Fortschreitende Individualisierung und wirtschaftlicher Strukturwandel haben allerdings einen gesellschaftlichen Wandel herbeigeführt, der nicht zwangsläufig zur Ausbildung von Mustern verinnerlichter Selbstzwänge geführt hat, wie sie Norbert Elias beschrieben hat. Tendenzen zur Informalisierung und die Ausbildung von ego-zentrierten Kontrollsystemen müssen in ihrer Gewichtung analysiert werden. Weitere Forschungsarbeit wird zeigen, wie sich der weitere Wandel der Gesellschaft auf die Herausbildung von inneren Kontrollstrukturen auswirkt und welche Bedeutung dabei der Erziehung zukommen kann.

      Besondere Problembereiche für Anwendung und Interpretation werden sein: die Reichweite der Theorie (Kontinuitätsannahme), die Gegentendenzen im Prozess der Zivilisation, der postulierte Trend zum Selbstzwang, der blind verlaufende Prozess, der Verzicht auf den Fortschrittsgedanken, das psychogenetische Entwicklungsmodell der Verinnerlichung von Normen, die Sicht von Sozialisation und Erziehung als ungeplanter, automatisch und reflexartig erfolgende Konditionierung, die Lockerung von Verhaltensstandards in der heutigen Gesellschaft, die postulierten langwierigen Verinnerlichungsprozesse, die weitgehende Ausblendung ökonomischer Bedingungsfaktoren.

      

       Allgemeines zu Theorien:

      „In einem strengen erfahrungswissenschaftlichen Verständnis sind Theorien deduktive Aussagensysteme, in denen aus (a) generellen Behauptungen (Propositionen, Gesetze) über die Beschaffenheit eines Realitätsausschnittes, sowie aus (b) auf sie bezogenen Anfangs- oder Randbedingungen (c) Ereignisvoraussagen (Hypothesen) abgeleitet werden, die falsch sein können. Diese Deduktion wird Erklärung bzw. Prognose genannt.“6

      Sind demnach die Theorien sozialen Wandels wirklich Theorien? Die meisten Theorien sozialen Wandels sind nicht Theorien in diesem deduktiven Sinn. „zumeist sind es viel komplexere Aussagen und Interpretationen der Ursachen, Abläufe und Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen: Kombinationen von Theorien, Modellen, Metatheorien und komparativen Analysen.“7 „Unter Modellen kann man stilisierende Rekonstruktionen von Realitätsausschnitten verstehen, die den Zusammenhang oder Ablauf beobachtbarer Phänomene stark vereinfacht wiedergeben.“8

      „Rigorose Methodologen würden die Mehrzahl der Beiträge zum Problem des sozialen Wandels als generelle Orientierungen, begriffliche Schemata, oder Metatheorien bezeichnen: als analytisch mehr oder weniger explizierte Vorstellungen über die ‚Natur’ gesellschaftlicher Realität, als ‚Sprachen’, mit denen Erfahrungen geordnet werden.“9

      Neben dem Interesse an Generalisierungen besteht aber immer auch das Interesse, spezifische historische Wandlungsprozesse zu verstehen und zu bewerten. Die an der Tradition der historischen Soziologie anknüpfende Methode der komparativen Analyse liegt sozusagen zwischen Theorie- und Modellbildung einerseits und Metatheorie und sozialphilosophischer Phraseologie andererseits. Durch den Vergleich zweier Gesellschaften, denen das Vorverständnis bestimmte Entwicklungsbedingungen zuschreibt, kann man Übereinstimmungen und Unterschiede in historischen Begriffen herausarbeiten, „die nur auf einige – anstatt auf alle – Gesellschaften anwendbar sind“.10

      Was sind die Gegenstände von Theorien sozialen Wandels? Theorien sozialen Wandels lassen sich z. B. danach unterscheiden wie weit oder wie eng sie ihren Gegenstandsbereich definieren. Parsons etwa verstand unter sozialem Wandel die Veränderung der Struktur ‚sozialer Systeme’, das entspricht einer makroskopischen Betrachtungsweise. Von einer mikroskopischen Betrachtungseise können wir sprechen, „wenn sozialer Wandel als Veränderung von Beziehungen, Rollen, Rollenverbänden betrachtet wird“.11

      Modernisierung ist in der Regel wohl makroskopisch zu betrachten, daneben sind aber auch Analysen interessant, die psychische und kulturelle Voraussetzungen und Konsequenzen der Modernisierungsprozesse in den Fokus stellen.

      Was sind die Ursachen des sozialen Wandels? Hier hat sich die Unterscheidung von exogenen und endogenen Faktoren eingebürgert; dabei sind heute die klassischen Ein-Faktoren-Theorien des Wandels (intellektuelle oder technische Erfindungen, ökonomische Widersprüche, Umweltveränderungen, Eliteinteressen) weitgehend durch multivariable Theorien ersetzt worden. Die Unterscheide beginnen bei der Bestimmung, was als ‚exogen’ und was als ‚endogen’ zu gelten hat und unter welchen Bedingungen diese Faktoren wirksam werden können.12

      Lässt sich die Richtung des Wandlungsprozesses bestimmen? „Die Frage nach den Dimensionen des Wandels ist zugleich die Frage nach der Möglichkeit, das Ausmaß der Veränderungen beziehungsweise Abweichung vom Ausgangszustand zu bestimmen. Radikalität des Wandels; Rapidität des Wandels; Verhältnis von geplanten und ungeplanten Veränderungen (Steuerung versus Anpassung); Beschleunigung oder Verlangsamung: das sind generelle Dimensionen, die neuere Theorien auch quantitativ zu bestimmen versuchen.“13

      Exkurs: Die Theorie struktureller Selektion

      Bedarf es überhaupt einer Theorie zur Erklärung von Veränderungsprozessen im Bereich familialer Erziehung und Sozialisation? Nun – sollen Veränderungen der für Erziehung und Sozialisation geltenden Wertesysteme nicht ungedeutet bleiben, bedarf es einer theoretischen Klammer. Ein ergänzendes Theorieangebot zum Prozess der Zivilisation von Norbert Elias bietet m. E. die Theorie struktureller Selektion. Sie kann ebenfalls als Erklärungsmodell für die Veränderung von Verhaltensstandards im Bereich familialer Sozialisation und Erziehung dienen und steht in einem parallelen Erklärungsmodus zur Zivilisationstheorie. Wie schon bei der Skizzierung der Zivilisationstheorie nach Elias angedeutet, scheint uns für die Erklärung von Veränderungen von Verhaltensstandards ein integratives Modell besonders geeignet zu sein, da es sowohl individualistische Handlungserklärungen als auch strukturelle Theorien sozialen Wandels miteinander

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