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Aber schreckliche, angstvolle Träume verfolgten ihn. Einmal stand er am Ufer des Euphrats. Der Himmel hatte sich verfinstert. Die Sonne war verschwunden. Der Fluss stieg höher und höher. Er wollte wegrennen, aber seine Füße waren wie angewachsen am Boden. Das Wasser überflutete das Ufer und stieg an seinen Beinen hoch über die Knöchel, dann bis zu den Knien. Endlich konnte er sich bewegen. Er wollte dem Wasser entfliehen. Aber er fiel um, und der Strom riss ihn mit. Er konnte nicht schwimmen. Die Wellen schlugen über ihm zusammen. Und er erwachte mit einem Schrei.

      Hatte er wirklich geschrien? Seine Brüder schienen zu schlafen. Sie hatten nichts gehört. Wieder wälzte er sich lange hin und her, bis er endlich ruhig einschlummerte.

      Am nächsten Morgen sprach niemand im Haus von dem Ereignis. Keiner wollte den Anschein erwecken, dass er sich vor dem kommenden Unbekannten fürchte. Es wollte aber auch sonst kein Gespräch in Gang kommen.

      Terach hantierte in der Werkstatt. Es war aber keine eigentliche Arbeit, die er verrichtete. Er nahm ein Werkzeug von einer Stelle weg, betrachtete es, wendete es hin und her, rieb mit einem Finger daran, als wäre es schmutzig oder als prüfe er, ob es stumpf sei und er den Stein schon wieder schleifen müsse, und legte es wieder zurück. Seine Söhne erschienen auch nicht zur Arbeit. Haran und Nahor liefen zusammen aus dem Haus. Terach rief ihnen nach, sie möchten bald zurückkehren und nicht schon zum Tempel gehen.

      Abram saß bei Sarai und seiner Stiefmutter.

      Sarai machte einen ängstlichen Eindruck.

      »Es wird schon nichts geschehen«, munterte Abram sie auf.

      Er wünschte, er könnte Sarai die Angst nehmen. Er mochte seine kleine Schwester. Obwohl er der älteste der Brüder war und sie zehn Jahre jünger als er, hatten sie sich immer gut verstanden. Ohne es sich eigentlich bewusst zu sein, hatte er stets die Beschützerrolle übernommen. Und Sarai bewunderte ihn, weil er der Vernünftigste unter den Brüdern war. Er hatte sie nie ausgelacht wie die andern, als sie noch klein war, oder, wenn sie geweint hatte, noch mehr gereizt und sie dann wegen ihres lauten Geschreis verspottet.

      Nahor und Haran gingen durch die Stadt. Überall standen Leute in kleinen Gruppen herum. Die Sonne hatte sich bereits über die Mauern der Stadt erhoben und schickte wie immer ihr strahlendes Licht vom wolkenlosen, blauen Himmel herab und warf ihre Schatten in die engen Gassen.

      Niemand konnte sich vorstellen, dass dies bald nicht mehr so sein würde. Und nichts deutete auf das bevorstehende Ereignis hin.

      Als die Zeit allmählich herankam, da sie zum Tempel aufbrechen sollten, schickte Terach Abram auf die Straße, um zu sehen, wo seine Brüder blieben und ob die andern Leute schon zum Gott Nanna unterwegs seien.

      Abram verließ das Haus und ging über den kleinen Hof und durch das verwinkelte enge Gässchen bis zur großen Straße. Es strömten schon viele dem Tempel zu. Hatten sich Nahor und Haran ihnen angeschlossen? Der Vater hatte doch gesagt, dass sie vorher zurückkehren sollten.

      Da sah er sie, wie sie sich eilig durch den bereits fließenden Menschenstrom drängten und auf ihn zukamen.

      »Kommt! Beeilt euch!«, riefen sie. »Die Leute sind schon alle unterwegs zum Tempel.«

      Abram lief zurück ins Haus und rief Vater und Mutter.

      »Wo sind deine Brüder?«, fragte Terach, ängstlich und zugleich verärgert.

      »Sie warten bei der Straße vorn«, antwortete Abram.

      Terach trat nun mit Sia, Abram und Sarai aus dem Haus. Er tadelte Haran und Nahor, weil sie so lange ausgeblieben waren.

      Terach schritt mit Sia voraus. Abram ging beschützend an Sarais Seite. Hinter ihnen kamen, ein wenig beschämt wegen des Tadels, Abrams jüngere Brüder.

      Es war ein weiter Weg durch die Stadt bis zum Tempel. Sie ließen sich von dem Menschenstrom mittreiben bis auf den großen Tempelplatz, der von den Häusern der Priester und Tempeldiener umrahmt war. Hoch erhoben sich die Mauern des aus gebrannten Lehmziegeln erbauten Tempels stufenförmig zum Himmel empor.

      Eine lange Treppe führte von vorne über eine kleine, vorgelagerte Terrasse hinweg zu einem Tor, einem eckigen Vorbau der Grundmauer. Auch von links und rechts ging je eine Treppe mit über siebzig Stufen zu einem Tor in diesem Vorbau. Kam man durch eines der drei Tore, so konnte man auf einer kleinen Treppe noch weiter zur ersten Terrasse hinaufsteigen, die rund um eine weitere, quadratisch auf die Terrasse aufgebaute Mauer lief. Auf der linken und der rechten Seite waren wieder kleine Vorbauten, durch deren Tore die Eingeweihten in verschiedene Tempelräume eintreten konnten. Von dieser ersten großen Terrasse ging nur noch eine einzige Treppe mit vierzig Stufen zu einer zweiten Terrasse, von der aus man wieder über eine Treppe mit dreißig Stufen zu einer dritten gelangte, in deren Mitte der hohe, viereckige Hochtempel aufgebaut war. Ein schmales, hohes Tor mit rundem Bogen führte in diesen fensterlosen Tempel hinein.

      Von der alten Königsburg, in der jetzt Sin-Aschar, der Statthalter Rim-Sins, residierte, bis zur mittleren Treppe des Tempels hatten mit Speeren bewaffnete Soldaten, die ähnlich aussahen wie jene, die bei Abram und seinen Brüdern angeklopft hatten, eine Gasse gebildet, durch die der Vizekönig mit seinen Hofleuten zum Tempel schreiten würde.

      Vor den Treppen auf der linken und der rechten Seite standen ebenfalls bewaffnete Soldaten und sorgten für Ordnung. Denn das Volk strömte herbei zu den seitlichen Treppen. Viele brachten eine Opfergabe, die bei den ersten Stufen von den Tempeldienern in Empfang genommen wurden. Auch Terach hatte ein Krüglein mit Öl abgegeben.

      Der Platz vor dem Tempel füllte sich immer mehr. Es mussten Zehntausende sein. Man stand dicht nebeneinander. Die zuletzt Gekommenen mussten sich, oft unter Murren und anderen Missfallensäußerungen, durchdrängen, um ihre Opfergabe bei den Treppen abgeben zu können. Die Tempeldiener trugen diese Gaben, Bier, Brote, Honig, Sesamsamen oder Öl, die Treppen hinauf bis zur ersten Terrasse. Dort wurden sie den Priestern übergeben, die sie über die zweite Terrasse bis zur dritten hinauftrugen. Es war ein faszinierendes Schauspiel, das auch Abrams Familie staunend beobachtete, wie die unzähligen Tempeldiener und Priester in ihren festlichen Gewändern mit den Opfergaben in langer Reihe die Treppen hochstiegen, dann wieder herunterkamen, um neue Opfergaben heraufzuholen. Auf der obersten Terrasse wurden die Opfergaben von den Hohepriestern in Empfang genommen und in das Innere des Hochtempels gebracht, wo sie die Speiseopfer auf Tische legten und die Trankopfer in große Gefäße schütteten. Der Erste Hohepriester nahm das Feuer, das zwei andere Priester entfacht hatten, entgegen, ging damit in den Hochtempel hinein und entzündete in einer Schale das Harz einer Zeder, hob die Hände vor der goldenen Statue des Gottes Nanna empor und lud ihn zum Opfermahl, das ihn versöhnlich stimmen sollte, damit er das Unheil von der Stadt und vom ganzen Land abwende.

      Diese Zeremonie war natürlich dem gemeinen Volk verborgen. Nur die Hohepriester auf der dritten Terrasse, die vor dem offenen Tor standen, konnten den Ersten Hohepriester bei diesem kultischen Ritual beobachten.

      Alle Blicke waren auf den Tempel gerichtet. Von hier unten, wenn man nicht zu nahe stand, was aber durch die Soldaten ohnehin verhindert wurde, sah man bis hinauf zum eigentlichen Tempel, dem Hochtempel, in dem der Mondgott Nanna thronte. Nachdem alle ihre Opfergaben abgegeben hatten, verteilten sich die Priester in ihren weißen Gewändern auf den Terrassen. Die meisten stellten sich auf der ersten Terrasse hinter der Brüstung auf. Einige blieben auf der zweiten und verteilten sich dort hinter der Mauer. Nur ihre Oberkörper ragten über die Brüstung hinaus. Auf der dritten Terrasse stellten sich die Hohepriester auf, mit dem Rücken zum Volk, das Gesicht zum Tor des Hochtempels gewandt.

      Nur der Erste Hohepriester des Nanna blieb während der ganzen Zeit im Sakralraum des Heiligtums.

      Unten vor dem Tempel wurden nun keine neuen Opfergaben mehr angenommen. Der Weg wurde freigemacht für den Statthalter des Königs.

      Sin-Aschar, begleitet von Wächtern und Hofleuten, trat nun unter dumpfem Trommelklang in vollem Ornat und mit der spitzen Haubenkrone auf dem Haupt, die ihn als Stellvertreter des Königs auswies, aus dem Burgtor heraus. Würdevoll schritt er durch die von den spalierstehenden Soldaten gebildete Gasse bis zur mittleren Treppe des Tempels. Die Wächter und Hofleute blieben unten an

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