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gingen miteinander ein paar Schritte.

      »Merke dir die Geschwindigkeit, mit der wir gegangen sind«, sagte Sin-Ta. »Und nun geh zur Treppe. Steig auf die obere Terrasse und dann schau zu mir herab!«

      Als Abram über die Brüstung zu dem Priester hinabschaute, rief dieser: »Stell dich genau hier über mich hin. Und nun gehen wir beide im gleichen Schritt wie vorher um den Tempel herum. Wenn du wieder hier angekommen bist, dann schau zu mir herab.«

      Abram gehorchte. Und als er wieder zu der Stelle zurückkam, schaute er hinab, sah jedoch den Priester nicht. Erst nach einer Weile kam er um die Ecke.

      »Nun komm wieder herunter zu mir«, rief Sin-Ta zu Abram hinauf. Und als dieser bei ihm stand, sagte er: »Du warst der Mond, und ich war die Sonne. Beide kreisen um die Erde herum. Weil aber der Mond näher an der Erde ist, hat er eine kürzere Bahn als die Sonne. Damit wir uns genau übereinander wieder treffen würden, müssten wir noch ein paar Mal um den Tempel herumgehen. So ist es auch mit der Sonne und dem Mond. Darum sehen wir den Mond auch nicht immer zur gleichen Zeit aufgehen. Manchmal kommt er am Abend, wenn die Sonne untergeht, manchmal aber erst um Mitternacht oder sogar gegen den Morgen.«

      Abram leuchtete das ein. Doch er überlegte eine Weile. Dann sagte er: »Aber jeden Monat müssten sich doch die Sonne und der Mond einmal treffen.«

      »Das stimmt«, sagte Sin-Ta, »wenn der Mond immer auf der gleichen Bahn um die Sonne kreisen würde. Aber das tut er nicht. Meistens geht er unter oder oberhalb der Sonne durch. Nur sieht man ihn dann nicht, weil er zu nahe an der Sonne ist. Wenn er aber genau vor der Sonne hindurchgeht, dann wirft die Sonne seinen Schatten auf die Erde. Dann gibt es eine Sonnenfinsternis. Das kommt aber selten vor.«

      »Das hab ich verstanden«, sagte Abram. »Aber wie ist es bei der Mondfinsternis.«

      Sin-Ta erklärte: »Ich habe dir erklärt, dass der Lauf des Mondes schwankend ist. Darum geht das Licht der Sonne, wenn sie des Nachts unter der Scheibe ist, an der Erde vorbei, so dass dieses keinen Schatten auf den Mond werfen kann.«

      Abram überlegte scharf. Dann müsste die Sonne ja sehr weiter unter der Erdscheibe vorübergehen. Wie sonst könnte der Mond überhaupt in der Nacht leuchten? Aber er wagte nicht weiter zu fragen. Doch wollte er jetzt noch viel über die Sterne erfahren, aber Sin-Ta sagte: »Wenn du alles über die Sterne wissen willst, dann musst du noch oft kommen. Heute habe ich leider keine Zeit mehr für dich. Komm morgen um die gleiche Stunde wieder. Aber du musst mir versprechen, dass du nicht aufgibst, denn es wird lange dauern, bis du alles weißt und es auch verstehen kannst.«

      »Ich verspreche es dir«, sagte Abram.

      Von da an kam er, so oft er von der Arbeit weggehen konnte, zu Sin-Ta in den Tempel.

      Manchmal forderte Sin-Ta ihn auf, nach Einbruch der Dunkelheit zu kommen. Von der obersten Terrasse, die nur die Priester, Tempeldiener und die Tempelschüler, zu denen nun Abram auch zählte, betreten durften, konnte man die Gestirne gut beobachten. Wenn man um den Hochtempel herumschritt, konnte man in alle Himmelsrichtungen sehen. Dies waren für Abram die schönsten Stunden. Denn in der Stadt, zwischen den Häusern, konnte man nur einen ganz kleinen Teil des Himmels erspähen. Und dann musste man schon Glück haben, wenn man einmal ein ganzes Sternbild sehen konnte. Doch hier oben, wenn ringsum alles in dunkler Nacht lag, sah man unendlich viele Sterne leuchten.

      Abram erfasste eine tiefe Ehrfurcht vor der Schöpfung, wie er sie so nicht gekannt hatte. Noch nie hatte er das ganze Land in so überwältigender Schönheit unter sich gesehen, wie von dieser hohen Warte aus. Wenn der Mond voll war, sah man bis in die Berge, und der Euphrat er­glänzte silbern im Mondlicht. Am eindrücklichsten aber war der Himmel in jenen Nächten, wenn der Mond nicht über den Horizont stieg. Dann erstrahlten die Sterne viel heller und schienen viel näher als sonst. Einmal sah er das Sternbild des Orions ganz nah über der Erde langsam versinken. Es war, als schwebten feu­rige Kugeln ganz sachte auf die Erde herab. Sin-Ta erklärte ihm, dass sie nicht auf die Erde fallen, sondern weit außerhalb der Erdscheibe niedergehen und nach ihrem Lauf unter dem Totenreich hindurch auf der andern Seite wieder heraufkom­men werden.

      Abram erfuhr von Sin-Ta auch viel über die Götter. Er wollte alles wissen, doch er hielt wohlweislich mit kritischen Fragen zurück. Für ihn aber war es unvorstellbar, dass die einzelnen Götter all dies erschafft haben sollten.

      Vor allem, wenn er des Nachts den Sternenhimmel betrachtete, kamen ihm solche Gedanken. In dem viereckigen Aufbau auf der Terrasse, hinter ihm in dem Allerheiligsten stand die Statue des Mondgottes Nanna. Er hatte sie noch nie gesehen. Aber er wusste, es war eine viel größere und kostbarere Statue als jene, die er zusammen mit seinem Vater und seinen Brüdern herstellte. Die Statue im Tempel kam nicht aus ihrer Werkstatt. Künstler, die zum Tempelpersonal gehörten, hatten sie geschaffen. Sie bestand aus Holz, das mit Gold überzogen worden war. Sin-Ta erzählte ihm, dass die Priester ihr ein Gewand angezogen und eine kostbare Kette um den Hals gelegt hatten. Schon vor Zeiten habe man ihr in einem feierlichen Ritual den Mund geöffnet. Erst dadurch sei die Statue zu einem lebendigen Gott geworden.

      Doch wie sollte ein solcher Gott, von Menschenhand geschaffen, den Lauf der Gestirne bestimmen, wie sollte er den Menschen Heil oder Unheil bringen können? Indem man ihm den Mund öffnete, konnte er gewiss nicht lebendig werden. Er blieb ein Stück Holz. Genau so, wie Menschen ihn geschaffen hatten, könnten sie ihn auch wieder zerstören. Und wie oft schon war ein Gott in einer Stadt verehrt worden und, nachdem die Stadt von Feinden erobert worden war, vernichtet worden. Und wie viele Götter wurden neu erschaffen! Jede Stadt hatte ihren eigenen Gott. Doch in diesen Zeiten, wo immer wieder Krieg geführt und um die Städte gekämpft wurde, wurden oft auch die Götter ausgewechselt. All diese Götter waren von den Menschen abhängig. Der Gott aber, den er, Abram, ahnte, musste ein Gott sein, der ewig war und von dem die Menschen abhängig waren.

      Je mehr Abram lernte und je mehr er auch von weisen Männern, die nach Ur kamen, hörte, umso stärker wuchs in ihm die Ahnung und der Glaube, dass dieser Schöpfung die Idee eines einzigen Geistes, der größer sein musste als all die Götter, zugrunde liegen musste.

      Haran und Abram

      Haran war glücklich. Seit er sich Lea zur Frau genommen hatte, ging er nicht mehr so oft in die Stadt. Und wenn er Botengänge machen musste, kehrte er schneller zurück als früher. Terach war zufrieden mit ihm. Er hatte ja gehofft, dass sein Sohn verantwortungsbewusster und beständiger würde. Allerdings, von der Arbeit in der Werkstatt blieb Haran fast noch mehr fern als früher. Nur dass er jetzt oft zu seiner Frau hinaufstieg. So sehr sehnte er sich nach ihr, dass er es kaum einen halben Tag in der Werkstatt aushielt.

      Terach ließ es geschehen. Mit der Zeit würde das schon vergehen. Auch er hatte sich am Beginn seiner ersten Ehe kaum von seiner Frau trennen können. Und bei der zweiten war es auch nicht viel anders.

      Lea half oft ihrer Schwiegermutter im Haushalt und in der Küche. Wenn sie aber hörte, dass Haran die Treppe heraufkam – sie erkannte ihn am beschwingten Schritt –, dann ging sie ihm entgegen in den Flur, und zusammen gingen sie in ihre Kammer hinauf, herzten und küssten sich und gaben sich ganz der Liebe hin.

      An diesem Morgen hatte schon die Schwiegermutter eine Veränderung an Lea festgestellt. Sie sah anders aus als sonst, bleicher, fast milchig, aber auch fröhlicher. Es war ein stilles Leuchten in ihren Augen. Mütter erkennen solch selige Zustände. Aber sie sagte nichts, sondern schaute Lea nur mit einem verständnisvollen Blick an. Doch diese tat, als bemerke sie nichts.

      Haran wollte schon am Vormittag seine Arbeit unterbrechen. Doch Terach mahnte ihn:

      »Du kannst jetzt nicht gehen. Deine Arbeit muss heute noch fertig werden. Der Auftraggeber kommt am Abend und will die Figur mitnehmen.«

      Haran gehorchte, etwas widerwillig. Er wusste, er durfte nicht müßig sein, sonst würde er die Arbeit nicht rechtzeitig zu Ende bringen können.

      Beim Essen am Mittag saßen alle zusammen in der Küche. Wie üblich hatten sie sich im Kreis um die in der Mitte bereitstehenden Schüsseln auf den Boden gesetzt. Lea saß ihrer Schwiegermutter

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