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Zu nah am Abgrund. Karlheinz Seifried
Читать онлайн.Название Zu nah am Abgrund
Год выпуска 0
isbn 9783847615880
Автор произведения Karlheinz Seifried
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Diese Seile hatten wir so lang gelassen und ins Lager verlegt, sodass wir die Netze durch einen kräftigen Ruck öffnen konnten. Dann wurden Steine in die Netze gelegt und an den Griffen in die Bäume hochgezogen, sodass sie vor dem Zaun hingen. Wir entwickelten ein System, um die Schnüre auch nicht durcheinander zu bringen und beschrifteten sie. So hatten wir einen richtigen Waffenstand, in dem zwei Personen Platz hatten und der von oben und unten uneinsehbar war. Die Kommunikation zu dem Waffenstand lief über Späher, die in der Mitte des Lagers und auf unserem Hochstand waren und den Waffenstand dirigieren konnten.
So waren wir gut vorbereitet und ganz stolz auf unsere waffentrotzende Burg, außerdem hatten wir dann noch Speere und Steinschleudern an gewissen taktischen Stellen hinterlegt, um sie schnell zur Hand zu haben. Jeder von uns wurde in seine Aufgaben eingewiesen und wir übten immer wieder die Abläufe, denn nur so konnten wir auch in Stresssituationen einen klaren Ablauf gewährleisten. Dann war es so weit, es kam nicht unbedingt überraschend, aber so wie es kam, damit hatte dann doch keiner gerechnet.
„He, ihr Luschen! Heute seid ihr dran, wir machen euch platt und übernehmen euer Gebiet. Haut am besten gleich ab, dann tut es nicht so weh!“
Das war der Ruf am frühen Morgen, den wir nicht erwartet hatten. Es war die zweite Liga und wir hatten eigentlich mit der ersten gerechnet. Wir dachten, als erstes kommen die Großen, aber nein, uns machte die zweite Liga eine Kriegserklärung. Die, wie wir dachten, nach uns von den Großen angegriffen werden sollten. Statt sich ruhig zu halten, rissen sie ihr Maul auf. Na ja, gegen Dummheit und Großspurigkeit ist eben kein Kraut gewachsen. Wir waren recht zuversichtlich, was die kommende Auseinandersetzung betraf. Dumm war nur, dass wir jetzt auf jeden Fall zwei Späher an die Grenze der Großen schicken mussten, um uns auch von dieser Seite abzusichern.
Denn dumm waren die bestimmt nicht und so ein paar siebzehn- bis zwanzigjährige Jungs konnten schon ein gewaltiges Kraftpotenzial darstellen. Wir durften uns auch nicht durch Verletzungen außer Gefecht setzten lassen, denn wir hatten schon mehrmals beobachtet, wie sich die Großen während oder nach einem Kampf von rivalisierenden Gruppen den Rest einfach schnappten und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatten. Man hatte dann zwei Möglichkeiten, sich ihnen anzuschließen oder sich geschlagen zu geben, im wahrsten Sinne des Wortes. Uns sollte es nicht so ergehen, da waren wir uns alle einig.
Noch einmal überprüften wir unseren durch den mittleren Teich gebauten Notausgang. Man musste schon genau wissen, wo der Steg verlief, um nicht in die eiskalten Fluten abzutauchen. Wir waren bereit! Versteckt in den Höhlen und Unterständen warteten wir ab und beobachteten unser Gebiet, ohne auf das Rufen der Bande zu antworten.
Dann kamen sie angeschlichen, von oben und von unten. Sie dachten wohl, dass sie besonders clever seien, uns von beiden Seiten anzugreifen. Sie schauten sich sichernd und suchend nach allen Seiten um, das war ein Anzeichen dafür, dass sie das Gebiet und unser Lager nicht genau kannten. Ein unglaublich törichtes Verhalten, denn ein Angriff ohne vorherige Ausspähung war nahezu tödlich.
Kurz vor den Sicherungen angekommen, sahen und bemerkten sie immer noch nichts! Sie befanden sich nun unmittelbar vor unserem „Auslösemechanismus“ für den Zaun. Lauernd blieben sie stehen und sahen sich um, dann stand der Anführer auf und rief seinen Leuten unten zu:
„He, Dieter, seht ihr sie?“
Auf der anderen Seite wurde sofort geantwortet:
„Nein! Ich kann sie nicht sehen, wo sollen sie sein, hast du gesagt?“
„Die müssen hier irgendwo sein, lasst uns weitersuchen.“
Das war der Moment als beide, Dieter von unten und ihr Anführer von oben kommend, einen Schritt zu weit gingen. Es hallte ein Surren durch den Wald und beide Barrieren entspannten sich wie ein Bogen, auf dem ein Pfeil abgeschossen wurde. Der Zaun stand wie eine Schutzmauer zwischen uns. Sie waren so überrascht, dass erst einmal keine Reaktion erfolgte und sie vor Schreck einen Schritt zurückgingen. Dann rief Klaus, ihr Anführer:
„He Dieter, wir haben sie, reißt den Zaun um!“
Dieter schaute sich um und rief fragend:
„Aber wo sind sie denn?“
„Da drinnen natürlich, in der Falle“, kam die Antwort.
Jetzt folgte der zweite Fehler, sie gingen weiter an den Zaun heran und standen genau unter den Steinnetzen. Unser Späher gab das Zeichen und es wurden drei Seile für den oberen und den unteren Bereich gezogen. Es musste eine schmerzliche Überraschung gewesen sein, denn so ein paar Steine, die auf den Kopf prasselten, das tat schon ganz schön weh und erzeugte Kopfschmerzen. Es reichte aus, um die erste Fluchtreaktion auszulösen. Um ihren Rückzug noch zu beschleunigen, setzten wir auch unsere Steinschleuder ein. Das zeigte Wirkung! Sie rannten wie um ihr Leben. Wir öffneten eine Tür in dem unteren Zaun und jagten, mit ein paar Jungs von unserer Gruppe, den Flüchtigen hinterher. Der Rest blieb im Lager und sicherte weiter unser Revier.
Ich lief, eigentlich war es eher ein Springen, den Hang hinunter, der Gruppe von Dieter hinterher und war meiner Gruppe schon etwas voraus, als Dieter sich umdrehte, mich sah und seinen Leuten zurief:
„He Jungs, den schnappen wir uns jetzt!“
Alle drehten sich um und schauten zu mir, mein Schwung war so stark, dass ich nicht mehr abbremsen konnte und mitten unter ihnen landete. Mein erster Gedanke war:
‚Scheiße, jetzt haben sie dich, warst mal wieder zu schnell.‘
Nun ist es aber so, wenn sich mehrere Personen auf eine einzelne stürzen, wird es eng. Ich machte mich klein und ging etwas in die Hocke, damit verkleinerte ich noch mehr die Fläche, die ich dem Feind darbot und sie behinderten sich gegenseitig damit, an mich heranzukommen.
Als sie wie eine Traube über mir hingen, spannte ich meinen Körper an und stand blitzartig auf, sie wurden wie durch eine Explosion von mir geschleudert und boten somit meinen mir folgenden Jungs ein gutes Ziel. Jetzt hagelte es Steine und es wurden die Speere als Schlagwaffen eingesetzt.
Dieters Gruppe suchte das Weite und wir verfolgten sie nicht weiter. Wir hatten genug erreicht und wollten uns nicht noch weiter von unserem Lager entfernen und traten den Rückweg an. Gott sei Dank rechtzeitig, denn kaum waren wir im Lager angekommen, da gab es auch schon eine neue Alarmmeldung von unseren Spähern aus dem oberen Bereich.
„Die Großen kommen!“
Wir schauten uns an und wussten, jetzt wird es erst richtig ernst. Wir nahmen unsere Posten wieder ein und hielten uns ruhig. Dann sahen wir sie! Ruhig und gelassen kamen sie nebeneinander den Hang herunter. Sie wussten genau, wo wir waren und wo die Netze hingen, das konnte man daran erkennen, wo sie stehenblieben und wie sie sich umsahen. Was mich wunderte war, sie hatten nichts in den Händen, keine Waffen. Dann löste sich einer aus der Gruppe und kam noch näher, in den Bereich der Netze. Wir wussten, wer er war, wer kannte Wolfgang nicht, Chef der größten und stärksten Gang dieser Stadt, den „White Angels”. Er schaute nach oben und dann zu uns und sagte:
„Ihr habt das doch wohl im Griff? Ich möchte keinen dicken Kopf bekommen! Wer ist euer Boss?“
Wir brauchten uns nicht abzusprechen, wir waren Fünf und wechselten uns immer ab, wer nach außen als Chef auftrat.
Das machte die anderen meistens unsicher, heute war ich als Sprecher ausgesucht worden. Ich ging zum Zaun und sagte:
„Was willst du, Wolfgang? Wieder abstauben, was die anderen zurückgelassen haben? Das wird aber diesmal nicht so einfach werden.“
„Nein, das wollte ich eigentlich nicht tun. Ich wollte mit euch reden und euch ein Angebot machen.“
„Was für ein Angebot?“, fragte ich zurück.
„Hat doch kein Zweck, sich gegenseitig den Kopf einzuschlagen “, und er sah dabei hinauf zum Netz, „das Angebot,