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Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten. Ernst Tegethoff
Читать онлайн.Название Französische Volksmärchen in deutscher Sprache - 583 Seiten
Год выпуска 0
isbn 9783742762917
Автор произведения Ernst Tegethoff
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nicht anders wie Perrault stellte sich die Gräfin
A u l n o y zu den Märchen, die sie bearbeitete. Keine
ihrer Erzählungen ist eine getreue Wiedergabe aus
dem Volksmunde, sondern sie nahm die Motive, wo
sie sie gerade fand, und setzte sie mit dem ihrer Zeit
eigenen Geschmack zu jenen gefälligen, drolligen und
etwas moraltriefenden Geschichtchen zusammen, die
einen so ungeheuren Einfluß ausübten und zum Gesamtbild
des Rokoko gehören wie die Bilder Wat-
teaus und die Dramen Marivaux'. Den Ausschlag gab
die Übersetzung aus Tausendundeinenacht, die Galland
im Jahre 1709 brachte. Die Nachahmungen
schossen derart aus dem Boden, daß die Sammlung
all dieser Erzählungen im »Cabinet des fées«, die zu
Ende des 18. Jahrhunderts veranstaltet wurde, nicht
weniger als 41 stattliche Bände füllen konnte. Diese
Feengeschichten, die zumeist von Frauen geschrieben
sind (Gräfin Murat, Gräfin d'Auneuil, Gräfin Hamilton,
Mlle. de la Force u.a.), und die so zierlich und
zerbrechlich sind wie ein Rokokofigürchen, übten
nicht nur auf die schreibende Mitwelt – man denke an
die orientalischen Erzählungen Voltaires – einen tiefgehenden
Einfluß aus, sondern sie zogen auch das lebende
Märchen in ihren Bann, das sich im Volksmund
nach seinem literarischen Vorbild umgestaltete.
So erscheint das Märchen vom dankbaren Toten, das
im Jahre 1725 von Mme. de Gomez unter dem Titel
»Jean de Calais« bearbeitet wurde, in den meisten
französischen Fassungen der Gegenwart abhängig
von diesem literarischen Vorbild. Das germanische
Märchen von Rumpelstilzchen wurde von Mme. l'Héritier
1705 als »Ricdin-Ricdon« modernisiert, und
diese Umformung verdrängte im Volksmund in starkem
Maße die alte Form. Das Märchen von »La belle
et la bête« wurde 1740 von Mme. de Villeneuve erzählt
und erlangte eine solche Verbreitung, daß die
Wissenschaft die außerordentlich verbreiteten volksmäßigen
Varianten dieser Kunstnovelle auf diese letztere
als auf ihre Quelle zurückführen zu sollen glaubte.
Die meisten Kunstmärchen dieser Zeit freilich sind
leere Phantasien: »Gemische aus sogenannten orientalischen
Zauberwesen und modern schäferischen Liebesgeschichten
«, so charakterisieren sie die Brüder
Grimm. Die »Féeries nouvelles« des Grafen Caylus
und die anonymen »Nouveaux contes de fées« aus
dem Jahre 1718 verdienen noch hervorgehoben zu
werden. Die »Contes bleues« wurden durch die eindringende
Welle der englischen Literaturmode hinweggeflutet,
sie wurden gesammelt, und Sammlungen
beweisen stets, daß das lebendige Interesse an dem
darin gesammelten Objekt im Erlöschen ist.
Die R o m a n t i k bezeichnet den Eintritt der
abendländischen Welt ins Greisenalter; und wie sich
das Alter gern mit einer gewissen sehnsüchtigen Wehmut
vergangener Zeiten erinnert, so lebte jetzt die Anteilnahme
an den Schöpfungen des Volksgeistes neu
auf. Man betrachtete die Märchen mit ehrfürchtiger
Scheu als Produktionen der dichtenden Volksseele
und sah in ihnen einen Abglanz der mythischen Vorstellungen
der germanischen Völker, wodurch das Bemühen
gezeitigt wurde, diese einfältigen Kinder des
Volkes so naturgetreu wie möglich nachzuzeichnen.
Frankreich, das sich von den Anstrengungen der Re-
volution und der napoleonischen Kriege erholen
mußte, erblickte in der Romantik eine willkommene
Reaktion gegen die Überspannung der Jahrhundertwende
und nahm die von Deutschland hereindringende
Strömung willig auf. Während das Drama sich einerseits
bemühte, das historische Kolorit treu zu wahren,
während Victor Hugo im Zeitalter Franz I. den
geeigneten Boden für die Verwirklichung seines
Kunstideals von der Vermischung des Sublimen und
Grotesken erblickte, so fand andererseits der Messias
der Romantik, Shakespeare, in Alfred de Musset seinen
Apostel, der in seinen Märchendramen die Zeitlosigkeit
und sonnenstrahlenhafte Zartheit der Märchengebilde
am besten traf, und der in seiner »Barberine«
nicht ohne Grund dasselbe Zymbelinemärchen verwertete
wie sein großes Vorbild in der Geschichte von
Imogen. Auf dem Gebiete der Novelle wäre vor allem
Nodier zu nennen, der 1842 gemeinsam mit Leroux
de Lincy die »Bibliothèque bleue« wieder aufleben
ließ.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Märchen,
die durch die Brüder Grimm für ganz Europa
angeregt wurde, fand in Frankreich erst spät Nachahmer.
Erst im Jahre 1845 erschien, wenn man von der
kleinen Sammlung Pluquets aus Bayeux von 1832 absehen
will, die Sammlung normannischer Sagen von
Amélie Bosquet, die freilich weniger dem Märchen
dient, und im gleichen Jahre veröffentlichte Souvestre
den ersten Band seiner »Foyers bretons«, ein allzu
individuell gefärbtes Werk, das für die Forschung nahezu
wertlos ist. Von den sechziger Jahren an bemühte
sich eine ganze Anzahl von Sammlern, die Schätze,
die Frankreich noch birgt, unter Dach zu bringen. Vor
allem ist Paul Sébillot, der Schöpfer und das Haupt
der französischen Volkskunde, zu nennen, der nicht
nur weit über seine hochbretonische Heimat hinaus
als zuverlässiger und unermüdlicher Sammler tätig
war, sondern auch in seinem Lebenswerk, dem
»Folklore de France« (1904–07), das gesammelte
Material zu einem Kompendium der französischen
Volkskunde verarbeitete. Paul Sébillot ist der Herausgeber
der