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sich die Ohren zu. Niemals würde sie diesen Anblick und diese schrecklichen Geräusche vergessen.

      Jacob zog die schluchzende Paula aus dem Zimmer. Glücklicherweise schliefen die Zwillinge bereits in dem Kämmerchen, welches mit Decken von der Küche abgeteilt war. Die Mutter saß auf einem Hocker neben dem Bett, immer noch die Schürze an den Mund gepresst und wiegte sich vor und zurück. Zaghaft legte ihr Emilie eine Hand auf die Schulter. Wilhelmine zuckte zusammen, dann schien sie zu erwachen. Sie nahm Emilies Hand in die ihre und legte sie sich an die Wange.

      „Was soll nun werden?“, fragte sie leise. „Ach, Kind, was soll nun aus uns werden?“

      Hilflos strich ihr Emilie übers Haar. Sonst war es immer die Mutter, die Trost spendete. Wilhelmine lächelte ihre Tochter dankbar an. Es wurde nur ein kleines Lächeln, aber es gab Emilie wieder Mut. Auch die Mutter fasste sich. Entschlossen stand sie auf und beugte sich über ihren toten Mann. Mit einem Tuch wischte sie ihm zärtlich das Blut aus dem Gesicht.

      „Jacob!“, rief sie ihren Ältesten. Der stand sofort in der Tür. „Geh nach Cherson und hole den Pfarrer. Erzähle ihm, was passiert ist, er wird alles Nötige veranlassen.“ Jacob nickte nur und verschwand. Er war froh, etwas tun zu können und aus dem Haus zu kommen, obwohl es schon finstere Nacht war.

      „Emilie!“, wandte sich die Mutter an die Tochter. „Heize den Herd an, ich brauche warmes Wasser. Dann holst du aus der Truhe die guten Sachen vom Vater. Du weißt schon, das weiße Hemd und den dunklen Anzug. Paula soll dir helfen.“

      Wilhelmine entkleidete ihren Mann, wusch, kämmte und rasierte ihn sorgfältig. Obwohl es schon sehr spät war und die beiden Mädchen sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten konnten, gingen sie ihrer Mutter ernst und schweigend zur Hand. Als der Pfarrer kam, hatte Jacob Haisch seinen Sonntagsstaat angelegt und die Hände auf der Brust gefaltet. Die Mutter rief die Kinder herein, damit sie von ihrem Vater Abschied nehmen konnten.

      Auf dem kleinen katholisch-orthodoxen Friedhof fand sich eine Ecke für Jacob Haisch.

      Neben einem reisenden Händler, der auch evangelisch-lutherischen Glaubens gewesen war, und einem jüdischen Apotheker fand er in einer einfachen Holzkiste seine letzte Ruhe. Ein schlichtes Holzkreuz zierte sein Grab. Für einen Sarg und einen Stein fehlte das Geld.

      Einige Nachbarn hatten sich zum Begräbnis eingefunden. Sogar die verrückte Alte war da, die den Kindern solche Angst eingejagt hatte. Emilie blickte scheu zu ihr hin, aber sie war heute ganz friedlich. Sie ging gern zu Beerdigungen und versäumte keine einzige.

      Als Wilhelmine mit ihren Kindern gebetet hatte und sich endlich zum Gehen wandte, trat schüchtern ein junger Mann auf sie zu, der sich die ganze Zeit im Hintergrund aufgehalten hatte. Es war der Gehilfe, der das Pferd erschreckt hatte. Schuldbewusst versicherte er der Witwe sein Beileid, seine Worte kamen stockend. Schließlich brach er in Tränen aus. Wilhelmine legte ihm die Hand auf den Arm und beruhigte ihn.

      „Grämen sie sich nicht, mein Junge. Ich werfe ihnen nichts vor. Leben und Tod liegen einzig und allein in Gottes Hand!“

      Emilie blickte zu ihrer Mutter auf. Wie tapfer und großherzig sie war! Selbst in ihrer tiefen Trauer war sie imstande, demjenigen Trost zu spenden, der den Tod ihres Mannes verursacht hatte.

      Wasile, so hieß der junge Bursche, erschien danach regelmäßig bei den Haischs. Mal brachte er einen Korb voll Eier, mal frischgebackene Maisfladen von seiner Mutter. Er hackte Holz, reparierte kaputte Dinge und grub im Herbst den kleinen Acker hinter dem Haus um. Wilhelmine war sehr froh über die Hilfe, die sie in dieser schweren Zeit von Wasile und seinen Eltern erfuhr. Sonst gab es aber im Dorf nicht besonders viel Aufmerksamkeit für die deutsche Familie. Es waren schließlich zugezogene Fremde und damit Außenseiter. Sie sprachen untereinander eine seltsame Sprache und bereiteten ihr Essen ganz anders zu als die Einheimischen. Man tolerierte sie zwar, aber richtig zugehörig waren sie nicht.

      Wilhelmine belastete dieser Zustand sehr. Seit Jahren sehnte sie sich schon nach zu Hause. Als Jacob noch da war, fand sie bei ihm Halt und Schutz. Er ersetzte ihr die Heimat. Doch jetzt, so ganz allein und für fünf Kinder verantwortlich, fühlte sie sich oft so einsam und überfordert, dass sie sich nachts in den Schlaf weinte. Immer öfter bemerkte sie, dass sich ihre Kinder untereinander in der Landessprache unterhielten. Selbst zu Hause schlichen sich in deutsche Sätze russische Wörter ein. Eigentlich war es ja gar nicht verwunderlich, dass sich die Kinder ihrer Umgebung anpassten. Gerade das ist ja die große Stärke von Kindern – sie können sich anpassen. Sie wuchsen schließlich hier auf und kannten es nicht anders. Wilhelmine wollte aber, dass ihre Kinder Deutsche blieben, denn sie selbst war kein Kind mehr und konnte und wollte sich niemals von ihrer deutschen Vergangenheit lösen. Schon oft hatte sie versucht, mit ihrem Mann über dieses Thema zu sprechen, doch er war uneinsichtig geblieben. Nun war er aber tot, hatte sie und die Kinder mittellos zurückgelassen und Wilhelmine dachte ernsthaft darüber nach, wie sie wohl nach Hause kommen könnte. Ach, wie sehnte sie sich danach, einen Gottesdienst in der heimischen Kirche zu besuchen. Wie gern würde sie einmal wieder mit Nachbarinnen plaudern, ohne nach den richtigen Worten suchen zu müssen und für ihre Unbeholfenheit belächelt zu werden. Die Kinder könnten die deutsche Schule besuchen und mit Freunden spielen, deren Eltern ihnen die gleichen Märchen erzählten wie die eigene Mutter. Sie würden die Sitten und Gebräuche ihrer Vorfahren kennenlernen und nach ihren Gesetzen leben.

      Ja, so wollte es Wilhelmine. Ihr Ziel war es, irgendwie nach Teplitz zu gelangen und dort im Hause ihres Schwagers um Aufnahme für sich und ihre Kinder zu bitten. Doch wie sollte sie das beginnen? Der Wagen war längst verkauft, ein Pferd hatte sie auch nicht. Selbst wenn sie Pferd und Wagen besäße – wie sollte sie den Weg finden? In solchen Dingen war Wilhelmine nicht bewandert, außerdem waren sie damals kreuz und quer durchs Land gezogen, ehe sie sich hier niederließen. Konnte sie es zudem wagen, eine Reise, die mehrere Wochen dauerte, ganz ohne Schutz vor Raubtieren und Wegelagerern zu beginnen? Schließlich waren die Kinder noch klein, obgleich sich Jacob mit seinen fast dreizehn Jahren schon für einen Mann hielt.

      Wilhelmine dachte nach. Schließlich suchte sie den Briefumschlag heraus, den vor Jahren die Schwägerin geschickt hatte. Er lag mit einigen anderen Papieren wohlverwahrt in dem Holzkästchen unter der Bibel. Den Brief hatte Wilhelmine damals ins Feuer geworfen, den Umschlag jedoch aufbewahrt. Jetzt malte sie sorgfältig die Zahlen und Buchstaben der Adresse ab, die als Absender auf der Rückseite des Umschlages stand. Dann machte sie sich daran, einen Brief zu schreiben. Diese ungewohnte Arbeit war für sie mühsam und langwierig. Die richtigen Worte waren schwer zu finden und noch schwerer zu buchstabieren. Bis spät in die Nacht saß sie bei Kerzenlicht am Tische und grübelte, derweil die Kinder schon in tiefem Schlafe lagen. Doch endlich war sie zufrieden, faltete das Schreiben und verschloss sorgfältig den Umschlag. Jacob musste ihn gleich am nächsten Morgen aufs Postamt bringen. Von diesem Tage an wartete Wilhelmine auf ein Zeichen aus der Heimat.

      * * *

      Der Brief machte eine lange Reise.

      Er rumpelte mit dem Pferdewagen übers Land, wurde an vielen Poststationen verladen und mehrfach sortiert und gestempelt. Auf seiner langen Reise nach Westen wurde er sogar ein Stück von der Eisenbahn transportiert, deren Netz zu jener Zeit bereits im Bau war. Am ersten Oktobertag traf der Brief in Teplitz ein. Der Gemeindeschreiber, der Pisar, bekam ihn zusammen mit der übrigen Post ausgehändigt. Da der Briefwechsel zu jenen Zeiten noch nicht so häufig ausgeübt wurde, gab es keinen Briefträger, obwohl Teplitz eine Kreisstadt war. Der Gemeindediener erledigte das Austragen der wenigen Briefe. Da aber Herr Otto Müller, der Pisar, ein Nachbar der Familie Haisch war, nahm er den Brief auf dem Heimweg selber mit. Er drückte Ludwig, welcher sich auch gerade auf dem Heimweg befand, das Papier in die Hand, rief einen Gruß und fuhr weiter.

      Verwundert drehte der Bursche den Brief hin und her. Wilhelmine Haisch? Diesen Vornamen hatte er nie gehört. Seine große Schwester hatte ihm mal von Verwandten erzählt, die nach Russland ausgewandert waren. Sollten die das sein? Ludwig strich sorgfältig den Schmutz von den Schuhen, bevor er das Haus betrat. Er spähte um die Ecke. Ah, die Mutter war noch im Stall oder in der Küche. Entspannt betrat Ludwig die Stube, um gleich darauf zusammenzuzucken.

      „Ludwig!“,

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