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Emilie. Angela Rommeiß
Читать онлайн.Название Emilie
Год выпуска 0
isbn 9783847670643
Автор произведения Angela Rommeiß
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
„Sie wird leben!“, flüsterte die Ahna, und antwortete damit auf die Gedanken, die Wilhelmine gerade durch den Kopf gegangen waren. „Winterkinder sind zäh. Wenn sie die kalte Zeit überlebt, wird sie ein starker Mensch werden!“. Dankbar lächelte Wilhelmine die Ahna an. Dann schlossen die Frauen leise die Tür.
Die Nachbarn waren noch vor der Taufe erschienen, das neue Kind zu betrachten und kleine Gaben zu bringen. Gestrickte Schuhchen aus feiner Wolle, ein gewebtes Stück Leinen, mehrere Kuchen und eine Räucherwurst waren dabei. Wilhelmine freute sich sehr, waren diese Geschenke doch ein Zeichen der Wertschätzung. Bei Jacobs Geburt vor zwei Jahren waren die Leute noch zurückhaltender gewesen, obwohl das Kind ein Junge war. Aber damals hatte Jacob seine junge Frau, die aus einer entfernteren Gemeinde stammte, gerade erst heimgeholt. Die Hochzeit mit dem Kirchgang und dem Hochzeitsessen wurde zwar ganz traditionell abgehalten, dennoch brauchten die Menschen hier eine ganze Weile, ehe sie das neue Gemeindemitglied als eine der Ihren akzeptierten. Üblicherweise heiratete man untereinander, sofern genügend Heiratskandidaten zur Auswahl standen. Auf den schmucken Jacob hatte so manche Dorfschöne ein Auge geworfen und jetzt hatte ihn sich tatsächlich eine Fremde geangelt! Doch in der Zeit, die Wilhelmine derweil hier lebte, hatte sie sich unter den Teplitzern viele Freunde gemacht, weil sie immer freundlich und hilfsbereit war. Sie ahnte nicht, dass ihr die Akzeptanz der Dorfbewohner noch einmal sehr nützlich sein würde.
Der lange Winter ging vorüber, so wie alle Winter irgendwann vorbei gehen. Das Weihnachtsfest war besinnlich und angenehm verlaufen. Gertrud war wie verwandelt, hatte sogar kleine Geschenke für Wilhelmines Kinder vorbereitet. Die Ahna hatte die letzten Reserven mobilisiert und ein prächtiges Festessen gemacht, das nach alter schwäbischer Art aus Dampfnudeln, groß wie Kinderköpfe, saftigem Schweinebraten, braunen Zwiebelringen und Knoblauchzehen in Fettsoße bestand.
Die Großeltern wollten Jacob überreden, noch bis zum Osterfest zu bleiben, aber der wollte noch vor der Frühjahrsaussaat fort. Sollte doch Viktor sehen, wie er mit der Arbeit allein fertig wurde, die Ernte wollte er schließlich mit dem Bruder auch nicht teilen.
Der Wagen wurde mit Hausrat und Vorräten vollgeladen, die Kinder in Decken gewickelt und der alte Gaul vorgespannt – dann war es soweit. Die Ahna küsste ihre Enkelkinder und segnete sie, umarmte den Sohn und die Schwiegertochter. Dabei kullerten unaufhörlich Tränen über ihre runzligen Wangen. Etliche Dorfbewohner hatten sich eingefunden, es wurden Hände geschüttelt, aufmunternde Worte gesprochen, Scherze gemacht und Schultern geklopft. Der Ehne hatte eine rote Nase, als er Jacob letzte Anweisungen im Umgang mit dem Pferdegeschirr gab. Hanna und Gertrud standen an der Hofmauer und winkten mit Tüchern, der kleine Ludwig hopste noch eine ganze Strecke hinter dem Wagen her, als er die Dorfstraße entlang rumpelte.
Die Sonne stieg gerade auf und tauchte die langgestreckten Hügelketten, die die weite Steppe in der Ferne begrenzten, in ein sanftes rotgoldenes Licht. Die Bäume am Straßenrand hatten schon dicke Knospen. Der Frühling war da.
„Geht mit Gott!“, murmelte die Ahna, als der Wagen in einer Staubwolke verschwand.
IN DER FREMDE
Man schrieb das Jahr 1905, es war Sommer.
Die Hitze flirrte über dem Stoppelacker. Im heißen Sonnenlicht glänzten die Ähren wie Gold, wenn sie unter den kraftvollen Sensenstrichen der Männer zu Boden raschelten.
Emilie richtete sich auf. Oh, wie der Rücken schmerzte! Aber sie war noch jung, zehn Jahre erst, da reicht es, sich einmal nach hinten zu beugen, die Fäuste ins Kreuz zu drücken – schon war der Schmerz vorbei. Bei den älteren Frauen ging das nicht mehr so schnell. Die ganz Alten hatten das Aufrichten völlig aufgegeben, ihre Rücken blieben gebeugt, wenn sie abends nach Hause gingen.
Emilie strich sich eine hellblonde Haarsträhne unter das buntgeblümte Kopftuch. Dabei wanderten ihre Blicke über die arbeitenden Menschen. Die Männer mit ihren Sensen, hemdsärmelig die meisten, mit nackten, glänzenden Oberkörpern einige Jüngere. Na, die wollten wohl den Mädchen gefallen. Die Frauen und Mädchen hatten allerdings kaum einen Blick für sie. Emsig rafften sie die gefallenen Halme und banden sie zu Garben, die dann als Puppen zusammengestellt wurden. Für Emilie wurde es Zeit, wieder mitzutun. Seufzend warf sie die blonden Zöpfe nach hinten und bückte sich.
„Sehen selbst aus wie Ähren, deine Zöpfe!“, rief lachend ein halbwüchsiges Mädchen hinter ihr. „Pass nur auf, dass der Mikosch sie dir nicht abmäht!“
Emilie lächelte. Sie war die gutmütigen Scherze über ihr helles Haar schon gewöhnt. Die meisten Menschen hier waren schwarzhaarig, denn sie waren hier in der Ukraine, nahe dem Schwarzen Meer. Wie ihre Mutter sagte, gab es weiter westlich viele Leute mit blonden Haaren, ja sogar ganze Dörfer mit rein deutscher Bevölkerung. Warum sie da nicht wohnten, wollte Emilie von ihrer Mutter wissen. Aber die war einsilbig geblieben und hatte nur gesagt, es ginge eben nicht. Die Wahrheit war einem Kind schwer zu erklären – es war die Sturheit des Vaters. Nachdem Jacob und Wilhelmine mit ihren Kindern von zu Hause weggezogen waren – Reichtum und Wohlstand entgegen – lief nicht alles so wie geplant.
Es war durchaus üblich, dass Bauern, die keine erwachsenen Söhne oder Töchter hatten um die landwirtschaftlichen Arbeiten zu bewältigen, Knechte aus dem eigenen Dorf einstellten. Doch Jacob war zu stolz, um sich bei seinen Nachbarn zu verdingen. Er hatte sogar darüber nachgedacht, nach Amerika auszuwandern, wie so viele seiner Landsleute es taten. Nachdem nämlich die ‚ewige‘ Militärfreiheit nach nur achtundfünfzig Jahren von der russischen Regierung wieder aufgehoben worden war, setzte eine wahre Auswanderungswelle ein. Aber davon wollte Wilhelmine nichts wissen. Lieber würde sie in den Kaukasus, in die Krim oder nach Sibirien auswandern, wie schon einige deutsche Siedler vor ihnen. Dort waren die Menschen freundlich, sagte sie, nicht so wie in Amerika, wo die Männer Waffen trugen und es wilde Ureinwohner gab. Am Ende waren sie hier gelandet, in dem kleinen ukrainischen Dörfchen bei Cherson. Der mächtige Dnipro mündete nicht weit von hier ins Meer und bestimmte das Leben der Menschen. Es gab eine Werft und große Handelsplätze. Um die Stadt herum lagen fruchtbare Weizenfelder. Hier fand Jacob Arbeit, hier ließen sie sich nieder.
Aber, ach, wie weit war es bis nach Hause! Immer, wenn sie weitergezogen waren, entfernten sie sich weiter von der Heimat, bald waren es über vierzig Meilen (fast dreihundert Kilometer) bis Teplitz. Die Nachricht vom Tod der Eltern erreichte Jacob erst, als die schon unter der Erde waren. Gertrud, die derweil noch zwei Kinder bekommen hatte, machte in ihrem Brief unmissverständlich klar, dass sie eine Heimkehr des Schwagers nicht gutheißen würde. Es ginge ihnen ja auch viel besser in der Fremde als hier in Teplitz, schrieb sie scheinheilig. Jacob verfiel nach dieser Nachricht in ein dumpfes Brüten. Wilhelmine steckte den Brief ins Herdfeuer und bemühte sich, ihren Mann auf andere Gedanken zu bringen.
Die Kinderschar war mittlerweile auf fünf angewachsen, was in der damaligen Zeit, anders als heute, als Gottes Segen empfunden wurde. Sie erzogen ihre Kinder im evangelischen Glauben und sprachen mit ihnen deutsch. Natürlich konnten sich die Kinder auch in der Landessprache verständigen. Oftmals mussten sie für die Mutter übersetzen, der die neue Sprache schwerfiel. Ihr Mann war bei seiner Arbeit mehr unter Menschen und konnte sehr gut russisch. Wenn er als Schmied keine Arbeit fand, nahm der Vater allerlei Stellungen an. Er galt als zuverlässig und war handwerklich geschickt. Die Mutter baute auf dem kleinen Acker hinter dem Haus Gemüse, Arbusen (Wassermelonen) und Hülsenfrüchte an. Als Jacob und Emilie, die beiden Großen, alt genug waren, konnten sie zur Erntezeit bei den Bauern helfen. Das brachte auch ein paar Münzen oder Lebensmittel ein. So ging es der Familie in dieser Zeit gar nicht schlecht. Sie hatten sogar eine Kuh angeschafft und allerlei Federvieh tummelte sich auf dem Hof. Das Häuschen war allerdings nur gepachtet und das Pferd derweil gestorben. Doch mit Gottvertrauen und Zuversicht gedachte Wilhelmine, ihre Kinder zu guten Menschen zu erziehen, auch wenn es im Leben keinen Reichtum zu erringen gab.
Ihr Mann sah das ganz anders. Seine Abenteuerlust hatte sich merklich abgekühlt und er haderte mit seinem Schicksal. Wie gerne wäre er als strahlender Held nach Hause zurückgekehrt,