Скачать книгу

Schnitt zum Toten auf dem Boden, die Haare kurz und dicht, nicht mehr dunkel, aber noch nicht völlig weiß, schon älter, aber noch nicht wirklich alt. Sein Kopf im Blut.

      Maxens Blick auf die Leiche ist ein erzwungener, kein kalter Blick, während er um den fötalgekrümmten Körper herumschleicht. Er muss hinschauen. Ist sein Job Spuren zu finden. Er muss ganz dicht ran, sich neben die Leiche knien, sich über den Kopf beugen. Was hochkommt, würgt er zurück.

      Aus dem Einschussloch war das Blut nach rechts über die Stirn und dann über die Backe zum Boden geflossen, war nicht mehr blutrot, sondern bräunlich, verkrustet. In den aufgerissenen Augen der Schreck. Oder? Oder Überraschung?

      Max stand auf und wusste, dass er es heute nicht schaffen würde, zog die Tüte aus der Jackentasche und eilte zur Seitentür mit dem Schild: gnagsuatoN.

      „Was machst du da? Nicht!“, rief ihm Heugabel nach. „Die Klinke nicht anfassen!“ Max drehte sich nicht um, drückte die Klinke mit dem Ellbogen runter, verschwand in dem Gang hinter der Tür und kotzte im Rhythmus der hochkommenden Bilder in die Tüte: die schmerzkrumme Lage des Mannes, das Blutloch, die Glasaugen - sein Magen zog sich zusammen; Säure schoss hoch, verbrannte ihm die Speiseröhre; das Blut, das Blut - dann weitere harte Konvulsionen. Tomatenschalen, ein Apfelsinenkern, Camembert Schleim, ein Spritzer Kaffee und Schinkenfetzen im Wert von einem Eurozwanzig füllten die Tüte - alles in allem drei Euro und achtzig Cent an Nahrungsmitteln.

      Als Max aus dem Gang wieder in den Hörsaal trat, hockte Clarissa neben der Leiche.

      „Nichts berühren!“, rief er.

      Sie schaute nicht auf, sondern schüttelte ihren Kopf sachte und lächelte nachsichtig.

      „Interessant“, sagte sie, „schrecklich und interessant“.

      „Hier“, sie stand auf und hielt ihm einen Kaugummi hin. Hatte sie etwa gesehen, dass er - oder gehört, vielleicht war es auch zu riechen, sicher es war zu riechen, Kotze süßsauer. Hatte er sie unterschätzt, sie schien ganz ruhig und gelassen neben dem Toten, aber die Wirkung konnte später einsetzen. Die Bilder fielen in den Schlaf ein, kamen zurück als wüste Traumgebilde.

      „Hier, nehmen Sie schon, das beruhigt.“

      „Nein, danke“, sagte Max.

      Kauer kommen in den Himmel, Raucher in die Hölle, hatte ihre Mutter gesagt, sie aber sagte: „Kennen Sie die neusten Ergebnisse von Professor Linke aus Bonn? Sollten Sie ernst nehmen. Kluger Kopf, hat festgestellt, dass Kauen das Denkvermögen anregt“, sagte sie.

      „Nein heißt nein“, sagte Max.

      Dann eben nicht, dachte sie. Wahrscheinlich blieb Berger beim Nein, weil er nach seinem Kotzgang den bestimmt Auftretenden markieren wollte. Wo aber hatte er die Kotztüte gelassen? Vielleicht gab es im Gang eine Toilette oder einen Papierkorb, aber nein, dort würde die Spurensicherung darauf stoßen. War seine Jackentasche ausgebeult? Jedenfalls gab es keine Spritzer auf seinen blendenden Schuhen.

      Hundert Leute oder so hatten gesehen, wie der Mord passiert war. Was blieb da noch für seine ausdichtende Phantasie, fragte sich Max. Der Hergang war also klar, jetzt noch die Motive und schon hatten sie den Täter. Die Schlauen waren die Dummen, wenn sie es ganz schlau anstellen wollten, das war eine eiserne Regel der kriminologischen Grunderfahrung. Ohne Ausnahme? Ja, ohne Ausnahme.

      Was wusste Max über die Uni? Eine Ansammlung der besten Köpfe, allesamt den großen Ideen von Toleranz und Fairness verpflichtet, was sonst? Hier traf sich die Hirn-Elite des Landes, die kolossalen Geister auf ihren Gebieten, alle durch und durch beseelt von Forscherdrang und der Verwirklichung der großen Menschheitsideen. Nobelpreisaspiranten! Die Uni war der Tempel, in dem Verständnis und Redlichkeit florierten, wo man frei und friedlich diskutierte, beglückt darüber jeden Tag hundert neue Ideen kennenzulernen, weil man der eigenen überdrüssig war und es natürlich darum ging, sich gegenseitig mit argumentativem Elan zu begeistern und zu bereichern. Das war sein Ort! Warum war er kein Professor?

      Max blickte auf die Leiche und dachte, jetzt aber mal zurück in die Wirklichkeit, zurück zur Erde, die Uni ist auch nur ein gigantisches Affenhaus. Vor ihm lag der Professor, gekrümmt, als hätte er Gift im Leib, ermordet von so einem Uniarsch.

      In Wirklichkeit war das doch geistige Inzucht, was die hier trieben. Schreibst du gut über mich, schreibe ich gut über dich. Du, ich habe da einen Studenten, ein Kopf wie Adorno hieß es bei den Gesellschaftswissenschaftlern oder wie Einstein bei den Naturwissenschaftlern. Du hast doch da dieses Projekt, komm, komm, jetzt hab dich mal nicht so, da ist doch was zu machen. Sie arbeiten sich zu oder sie arbeiten gegeneinander. Wer sich durchsetzen will, muss sich absetzen, wer sich absetzen muss, braucht Gegner, wer keine hat, muss sich welche machen, damit seine Stimme gehört wird im hohen Geschwätz.

      Fälscht sogar ihre Ergebnisse, die nobelgeile Brut. Ruhmekel ist ihnen ein Fremdwort, sind so scharf auf Publicity wie drittklassige Schauspieler im Dschungel, sind selbst auch so Schauspieler - eben nur auf einer anderen Bühne.

      Obwohl Max wusste, was bei der Befragung der Zeugen herauskommen würde, musste er sie interviewen. Er hatte die Wahl, sich über die unnütze Notwendigkeit zu ärgern oder etwas daraus zu machen. Er entschied sich für die förderliche Vorstellung, dass Routinen nur noch stärker machten. Statt sich die gesammelten Märchen der Studenten anhören zu müssen, würde er seine künftige Beförderung für eine Kameraaufnahme des Mordes geben.

      Doch das Spiel musste gespielt, Märchen wollten erzählt werden. Er war gespannt, ob die Elite besser fabulierte.

      Links und rechts oben im Eingangsbereich des Hörsaals mussten die Beamten immer wieder neugierige Studenten und Professoren aus dem Hörsaal drängen. Die beiden Assistenten von Prof. Liedvogel hatten sich wie gebeten zurückgehalten, schauten sich die Arbeit der Spurenleser an und steckten ein paar Mal die Köpfe zusammen.

      Die scharf hervorspringende Nase und das Kraushaar von Zimmermann erinnerten Max an jemanden, mit dem er mal zusammen gespielt hatte, damals in Damaskus. Als er die Stimme des Assistenten hörte, zuckte er zusammen, auch der näselnde Tonfall war ganz ähnlich. Unheimlich!

      Kürzlich hatte Max sich Stings Konzert vom Elftenseptember angesehen und ganz nebenbei hatte er in den Tagebüchern von Thomas Mann geblättert und schließlich zum ersten Band gegriffen. Und auf welchen Tag fiel der erste Eintrag? Auf den 11. September, allerdings 1918. Unheimlich! Aber letztlich nur allzu menschlich, der Glaube an den unheimlichen Zufall.

      „Sie sind also Assistenten bei Liedvogel und haben sich die Vorlesung angehört?“, fragte Max

      „Nein!“ Chrissi Hains und Robert Zimmermann hatten gleichzeitig gesprochen.

      „Ich bin studentische Hilfskraft“, sagte Chrissi.

      „Und zusammen haben wir für Professor Liedvogel PC und Beamer bedient“, sagte Zimmermann.

      „Gut, aber Sie wollten bei ihm promovieren, kennen ihn schon länger?“

      „Ganz richtig“, antwortete Robert.

      „Und Ihr Thema?“

      „Über die Glorifizierung der Gewalt im Kino zwischen Katharsis und Mimesis“, sagte Zimmermann.

      „Und worunter fällt das hier“, fragte Max und zeigte auf die Leiche. „Katharsis oder Mimesis?“

      Zimmermann zog die Schultern hoch und Max hatte den Eindruck, dass Robert Zimmermann nicht nur wegen der fiesen Umstände kein Mann des Lächelns, geschweige des Lachens war. Zugleich zeigte sein Gesicht den quälenden Kampf mit dem Gedanken, das gibt’s doch nicht, dieser gelackte Bulle weiß doch wohl nicht, wovon ich rede. Machen die Medien denn nun alles gleich? Bildung für alle, selbst das gemeine Volk ist nicht mehr mit bloßen Wörtern zu blenden.

      „Trotzdem ist die Realität längst nicht so hoffnungslos und finster, wie uns die Meinungsindustrie das vorgaukelt“, sagte

Скачать книгу