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Schade nur, dass ich für die mich umringenden Schwätzer kein Maschinengewehr parat hatte.

      Acht

      Max schreckte hoch, Grillen zirpten in seinem Kopf, der schwer ins Kissen zurücksackte. Im Halbschlaf erschien ihm das heitere Gesicht seiner Schwester, der Kopf eingefasst vom Sommerblau des Südens. Schein war’s, eine pittoreske Lüge im bilderseligen Wachkoma. Wie überhaupt schlafen nach dem Mord, wie schlafen, wenn er täglich damit rechnen musste, seine Schwester bei einem Terroranschlag zu verlieren. Die Angst verließ ihn nie und die begleitenden Gedanken hatten etwas eigentümlich Langsames, bewegten sich, wenn sie sich überhaupt bewegten, wie sich Teig bewegt, aber Teig aus Blei. Immerzu war die Sorge um seine Schwester da als Grundstimmung. Immer!

      Rief er aber bei ihr an, dann lachte sie ihn aus: „Ich habe keine Angst, was glaubst du denn, natürlich wissen wir, dass es uns erwischen kann. Ist aber doch sehr unwahrscheinlich. Maxe wir leben intensiver, die Gefahr bereichert unser Leben eben.“ Sie lachte. „Wer den Tod vergisst, vergisst zu leben. Wir…“, sie machte eine winzige Pause, „wir vergessen den Tod nicht, nie.“ Solcher Bullshit tat Max körperlich weh. Und dann auch noch von seiner Schwester! Das hatte sie ihm ungefähr vor einem Jahr gesagt. Die Situation war inzwischen gefährlicher geworden. Viel gefährlicher.

      Er hätte gern häufiger bei ihr angerufen, aber er ärgerte sich jedes Mal, weil sie seine Befürchtungen auf die leichte Achsel nahm. Ohne die Sicherheit, dass es sie auch an diesem Tag nicht erwischt hatte, konnte er kaum schlafen. Also sprang er ins Internet, sobald er nach Hause kam und überprüfte die Homepage mit den Terroropfern der Israelis. Eine Liste des Schreckens. Chronologisch fanden sich dort alle Namen der Ermordeten, erschossen oder von Irren in die Luft gesprengt. Und fast täglich ein neuer Eintrag mit neuen Toten.

      Am Abend des Attentats auf die Pizzeria umarmte Max den Monitor und küsste die Scheibe, Tränen tropften in die Tastatur, als er Monis Namen nicht unter den 15 Toten fand. Eine Bombe, gefüllt mit Nägeln, Schrauben und Bolzen, in einem Beutel am Körper des Verrückten befestigt, hatte 15 Gäste zerfetzt und 130 verletzt. Das war am 9. August gewesen. Der letzte Eintrag war vom 7. Oktober. In der Zeit vom siebten bis zum zehnten Oktober, zehn ganze Tage lang hatte es keinen Eintrag gegeben, war niemand von einem palästinensischen Desperado erschossen oder in die Luft gesprengt worden, aber dann:

       Yair Mordechai, 43, of Kibbutz Sheluhot was killed when a Palestinian suicide terrorist detonated a large bomb strapped to his body near the entrance of the kibbutz in the Beit She'an Valley.

       Tourism Minister Rechavam Ze'evy, 75, was assassinated by two shots to the head outside his room at the Jerusalem Hyatt Hotel. The Popular Front for the Liberation of Palestine claimed responsibility for the attack.

      Bevor er eingeschlafen war, hatte Max an dem Gedicht weiterbasteln wollen, aber eingesehen, dass daraus nichts würde. Obwohl er schon sämtliche Wörter für sein Werkchen hatte, kam er nicht voran. Die Reihenfolge wollte nicht einleuchten. Um seinem Leben ein Fitzelchen Sinn zu geben, hatte er zumindest ein paar Wörter erfunden: „Stritter, zierfreudig, malaktiv, postintelligent, lippig, insektozentrisch, Übernachtigal, Qwock, untergewöhnlich, Unimord“. Zum eigentlichen Entwerfen und Arrangieren aber brauchte er gewaltige Geduld und ungeheure Gelassenheit. Und dann am Ende fehlte immer ein Wort, ein Wort, das so wichtig war wie die Luft zum Fliegen. Manchmal brauchte er Monate um es zu finden. Manchmal kam er gar nicht drauf.

      Neun

      Max wölbte die Unterlippe vor, um sich Luft ins Gesicht zu blasen. Clarissa betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und erinnerte sich an die vorgewölbten Unterkiefer der Schabemaulbuntbarsche ihres Bruders. Für die Jahreszeit zu warm, hatte einer der Wetterexperten am Morgen die Warmluftdusche kommentiert, die seit zwei Tagen für feuchte Füße und Herzrhythmusstörungen sorgte.

      Sie beugte sich etwas vor, um die Hausnummern lesen zu können. „Da ist es“, sagte sie. Max fuhr bis zum Ende der Straße, wendete und hielt vor dem Liedvogelschen Haus. Zwar unspektakulär, aber tadellos in Schuss, erweckten Garten und Fassade den Anschein, als ließe man machen.

      Moosige Ziegel auf dem roten Walmdach. Zur Förderung seiner poetischen Versuche nutzte Max auch die kreative Kraft des ersten Eindrucks. Erste Eindrücke lieferten ihm fast immer frische Wortkombinationen. Zur Regel gemacht hatte er sich, mindestens drei Wörter aus einem neuen Eindruck zu ziehen für seine Liste gedichtwürdiger Wörter. Moosige Ziegel, das klang und saß. Wie sehr ihm die Wörter auch gefielen, so machten sie noch lange kein Gedicht.

      Versuche Hildegard Liedvogel, die Frau des Ermordeten, zu erreichen, waren in der Nacht und am Morgen fehlgeschlagen. Er wollte nicht an einen Parallelmord denken. Natürlich erleichterte ein zweiter Mord seine Arbeit.

      Clarissa dachte an „Lamb to the Slaughter“, als sie den Kieselpfad zum Haus hinauf knirschten.

      Berger legte den Zeigefinger auf seine Lippen. Er klingelte und lauschte. Dann versuchte er es mit dem Klopfer. Ein Wolfskopf. Sie horchten. Drinnen blieb es still, während der atemwarme Oktoberwind im Laub der Platanen herumwuschelte. Dieser perverse Oktober würde den September übertreffen mit höheren Durchschnittstemperaturen, hatten die Meteorologen orakelt. Im Haus muckste keine Maus und so gingen sie zur Nummer 15, wo eine Schelle aufschrillte, die offenbar niemanden im Haus, wohl aber Max und Clarissa erschreckte, dass ihre Herzen einen Schlag ausließen.

      Die Tür von Nummer 19 hingegen sprang schon auf, noch bevor Max den Klingelknopf berührte. Lauerzecke dachte Clarissa.

      „Na, es geht doch“, sagte Max.

      „Wie bitte“, fragte die Frau.

      „Nichts weiter.“

      „Frau...“

      „Steinbach.“

      „Frau Steinbach, wir hätten da ein paar Fragen über...“

      „Fragen, Vorwerk, ich brauche keinen Staubsauger.“

      „Kommissar Berger und das ist Frau Klabund.“

      „Berger, der Max Berger?“ fragte Frau Steinbach.

      „Jaja.“

      „Kommen sie herein, bitte sehr.“

      Ihr Mündchen küsste den Wortsammler in Max wach: Knospenmund, Himbeerschnütchen, Teeröschenblüte und auf ihrer Oberlippe hundert geschwätzige Furchen.

      Das Steinbachsche Wohnzimmer überraschte. Es war ein minimalistisches Statement. Richtig, dachte Max, es gab ja mal eine Zeit, kaum mag man daran glauben, dass es sie gab, es gab eine Zeit, in der man das Sofa nicht nach dem Fernseher ausgerichtet hatte. Doch hier gab es weder ein Sofa noch ein Fernsehgerät. Gerade weil in dem Raum nur die nötigsten Möbel standen, fiel der suchende Blick sofort auf ein äußerst selbstbewusstes polychromatisches Großgemälde.

      „Frau Steinbach, Sie können sich vermutlich nicht denken, weshalb wir hier sind?“

      „Doch, doch, hat mein Mann schon wieder eine Bank ausgeraubt?“

      „Wie? Ihr Mann...“

      Begeistert betrachtete Max, wie flott die Mundknospe sich bewegte und die Fjorde auf ihrer Oberlippe lebendig wurden. Frau Steinbach lächelte, als sie erzählte, dass ihr Mann vor zwanzig Jahren oder so verhaftet worden sei. Vom erzählerischen Elan schien sie so begeistert, dass sie nicht danach fragte, ob Max und Clarissa die Geschichte hören wollten.

      „In einem größeren Kreis hatte er gesagt, wenn du nicht reich geboren bist, gibt es nur wenige Chancen, dass du es wirst. Man kann z. B. eine Bank überfallen. Ein paar Tage oder Wochen später, ich weiß das nicht mehr so genau, ist dann die Kripo bei ihm aufgetaucht. So ein Typ mit Schnauzbart hatte wirklich eine Bank ausgeraubt. Irgendwer hatte meinen Mann angeschwärzt, er sähe so aus wie der Bankräuber auf dem Fahndungsfoto. Da sind die bei ihm erschienen. Er sollte dann gegenübergestellt werden. War völlig fertig. Freitags hatten die ihn für Montag geladen.

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