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Der Seelendieb. Annette Philipp-Scherer
Читать онлайн.Название Der Seelendieb
Год выпуска 0
isbn 9783847665458
Автор произведения Annette Philipp-Scherer
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Erneut wurde sie auf einen Stuhl gedrückt, und als man ihr die Augenbinde abnahm, sah sie vor sich auf dem Tisch ein leeres Blatt Papier und einen Stift. Dann hörte sie Zhang Liehs Stimme hinter sich. »Guten Morgen, meine Liebe, Sie sehen nach der kleinen Behandlung doch recht gut aus. Ich hatte eigentlich gedacht, dass Sie nach der Sache von gestern abend mehr gelitten hätten«, vernahm sie seine Fistelstimme. »Wie mir Doktor Peterson berichtet hat, waren Sie allem Anschein nach doch schwanger. Zu Ihrer Entschuldigung, Sie waren in einem so frühen Stadium, dass Sie es selbst wahrscheinlich noch nicht wussten. Wie machen Sie das nur, dass Sie so gut aussehen?«, fragte er sie beiläufig. Daphne presste die Lippen fest aufeinander und drängte ihre Tränen und ihre Wut zurück. Sie zog es vor, ihm keine Antwort zu geben. »Ich werde Sie jetzt bitten, die Beschwörungsformel von der Pergamentrolle zum Seelentausch aufzuschreiben«, hörte sie ihn sagen. »Nicht, dass ich sie unbedingt benötigen würde, unser Mönch weiß sie angeblich auswendig. Aber ich möchte ganz sicher sein, dass alles seine Richtigkeit hat. In dieser Zeit können Sie auch noch überlegen, wo dieser verdammte Dolch abgeblieben ist.« Zhang Lieh war dicht hinter sie getreten und legte ihr wieder einmal die Hände auf die Schultern, seine dürren Finger bohrten sich in ihr Fleisch. Ihre weiche Haut ließ ihm viel Platz für Phantasien. Er hatte Mühe weiterzusprechen. »Auch da hätte ich gerne das Original in den Händen gehalten, aber auch hier habe ich einen Ersatz, wenn es sich nicht findet.« Mit Hohn in der Stimme sprach er weiter. »Ich bin mir sicher, Sie werden kooperieren.« Jun Kao betrat die Halle; aus den Augenwinkeln konnte Daphne Marc sehen. Die Hände und Füße wieder in Ketten gelegt, folgte er Jun Kao mit kleinen Schritten. Marcs Körper war zerschunden, sein Gesicht geschwollen, wieder wurde er an der schweren Eisenkette nach oben gezogen, so, dass seine Fußspitzen gerade noch den Boden berührten. Marc hob den Kopf und ihre Augen trafen sich, Daphne erkannte, dass sein Kampfeswille ungebrochen war. »Schreiben Sie«, herrschte Zhang Lieh Daphne an. »In der Zwischenzeit werde ich auch Ihren Mann fragen, ob er weiß, wo dieser Scheißdolch steckt.« Zhang Lieh schlüpfte in seine schwarzen Handschuhe. Liebevoll betrachtete er seine Hände, fast sanft traf der erste Schlag Marcs Körper. Marc stöhnte vor Schmerzen. »Hören Sie auf«, keuchte er, »ich sage Ihnen, wo der Dolch ist.« Zhang Lieh lächelte erwartungsvoll. »Ich habe ihn vor ein paar Tagen mit dem Versand nach Tibet geschickt«, flüsterte Marc. Zhang Lieh schien einen Augenblick richtig böse zu sein, eine Ader an seiner Schläfe trat hervor, und Marc konnte sie pochen sehen. Schnell hatte Zhang Lieh sich wieder unter Kontrolle, dann nickte er und meinte: »Wenn das so ist, wird er in Kürze in chinesischer Hand sein. Leider hätte ich ihn gerne vorher in meinen Händen gehalten, doch wie gesagt, es geht auch anders«, sprach Zhang Lieh mehr zu sich selbst. Daphne hatte angefangen zu schreiben, doch sie würde es ihm nicht so einfach machen. Manche Sätze vertauschte sie und ließ da und dort eine wichtige Beschwörung weg, denn insgeheim glaubte sie nicht, dass es einen Mönch gab, der das Originalschriftstück kannte. Ihr Gefühl sagte Daphne, dass Zhang Lieh diese Sachen für sich brauchte. Daphne schauderte es, was hatte Zhang Lieh genau vor? Schließlich schob Daphne das Papier über den Tisch und sagte: »Ich bin fertig.« Zhang Lieh hob es an sein Gesicht. »Sie verzeihen, dass ich solch einen Druck mache«, sagte er, »aber mir läuft die Zeit davon. Ob wir nun diesen Dolch haben oder nicht, Sie, meine Liebe, werden heute noch eine Seelenübertragung machen«, zischte er. Wie aus dem Nichts hielt er plötzlich einen Dolch in den Händen und legte ihn vor Daphne auf den Tisch. Er war um einiges größer als ihrer, doch er hatte auch eine grüne Klinge, die an geschmolzenes Glas erinnerte. Der Griff war einfaches Silber, und es fehlten die Schriftzeichen, die sich bei ihrem Dolch über den Schaft und die Klinge zogen. Daphne schloss die Augen und fühlte in den Dolch hinein; eisige Kälte schlug ihr entgegen. Sie sah, dass man schon einige Male versucht hatte, mit ihm eine Seelenübertragung zu machen. Das war ein todbringendes Instrument, gefertigt von einem, der sich gewaltig selbst überschätzte. »Aber der ist gänzlich ungeeignet«, sagte Daphne entsetzt. »Wir versuchen es trotzdem«, herrschte Zhang Lieh sie an, »und wenn es schiefgeht, versuchen wir es noch einmal. Ich werde so lange nach einem anderen Körper suchen, bis alles seine Richtigkeit hat.« Daphne starrte den Dolch an. »Wer soll denn mit wem den Körper tauschen?«, fragte sie verunsichert, denn sie hatte Angst vor der Antwort. Wieder klang Zhang Liehs Stimme fast sanft als er antwortete. »Ihr geliebter Marc wird mit mir den Körper tauschen.« Daphne war nicht fähig, etwas zu sagen, sie fühlte, wie ihr alles Blut aus dem Gesicht wich, sie konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. Aber das Schlimmste war, dass Marc zu lachen anfing, er musste kurz davor sein, seinen Verstand zu verlieren. Zhang Liehs Wut schäumte über und er schlug Marc mit der flachen Hand ins Gesicht. Dann nahm er den Dolch vom Tisch und hielt ihn Marc an den Hals, über seine Schulter sprach er zu Daphne. »Ich könnte seinem jämmerlichen Leben schon jetzt ein Ende setzen. Wenn Sie sich weigern mir zu helfen, schneide ich ihm auf der Stelle den Hals durch.« Daphne stöhnte vor Angst auf. Ihre Gedanken rasten, wie sollte sie sich entscheiden? Mit einem Mal wurde sie sehr ruhig, sie wusste, was zu tun war. »Töten sie ihn«, sagte sie gefasst, »ich weiß, er wäre lieber tot, als mit Ihnen den Körper zu tauschen.« Sie sah nicht, wie Zhang Lieh Marc schnell und unauffällig eine Spritze gab; wenig später verlor Marc das Bewusstsein. Mit einem bösen Lächeln wendete er sich wieder Daphne zu.
Betty erwachte mitten in der Nacht, die Uhr zeigte drei Uhr fünfzehn, irgendein Geräusch hatte sie geweckt. Sie griff nach ihrer Waffe, die sie immer unter dem Kissen hatte und ließ sich leise und geschmeidig aus dem Bett gleiten. Angestrengt horchte sie, da war es wieder, es klang, als würde etwas leise an Holz kratzen. Ihr Herz pochte heftig, konnte es sein, dass sich ein Einbrecher in ihre Wohnung verirrt hatte? Ohne das Licht anzumachen, schlich sie von Raum zu Raum. Die Haustür war unbeschädigt und alle Fenster waren geschlossen. Schließlich beendete sie ihren Rundgang, ohne etwas Verdächtiges entdeckt zu haben. Kaum lag sie aber im Bett und wollte gerade wieder einschlafen, hörte sie es wieder. Es kratzte nicht mehr nur, sondern klopfte jetzt auch ganz zart und leise. Mit einem Fluch sprang Betty erneut aus dem Bett, um wieder einen Rundgang durch die Wohnung zu machen. Sie konnte die Quelle des Kratzens und Klopfens einfach nicht finden. Als sie sich zurück ins Bett legte, horchte sie noch einige Zeit angestrengt in das Dunkel, doch es blieb alles still. Um sechs Uhr klingelte der Wecker, Betty stand auf, bestellte in der Garküche ein paar Straßen weiter ein Frühstück und ließ es sich nach Hause liefern. Dann ging sie ins Bad und machte sich frisch, der Bote mit dem Frühstück erschien genau, als sie im Bad fertig war. Mit dem Becher in der Hand setzte sie sich und las die elektronischen Nachrichten, und da war es wieder: etwas kratzte an Holz. Kurz überlegte sie, ob sich hinter der Wandvertäfelung ihrer Wohnung Ratten eingenistet haben könnten, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Es klopfte und schabte, lauter als letzte Nacht, Betty sprang vom Stuhl. »Na warte«, knurrte sie, »was immer du auch bist, ich werde dich bekommen.« Langsam, fast katzengleich, schlich sie wieder durch alle ihre Wohnräume, und in ihrem Büro wurde sie dann endlich fündig. Etwas bewegte sich in der Holzschachtel, die ihr Marc zur Aufbewahrung gegeben hatte. Ungläubig starrte Betty die Schachtel an, ihr Verstand raste. Was zum Teufel war da drinnen? So, wie es sich anhörte, hatte er irgendein Tier dort eingesperrt. Sie schüttelte den Kopf, Marc war nicht jemand, der solche derben Späße trieb, und woher sollte er ein Tier haben? Außer Kakerlaken und Ratten war alles, was es sonst noch gab, nur noch in Inselbiotopen zu bestaunen. Betty ging mit ihrem Ohr dichter an die Holzschachtel, um besser hören zu können. Kein Zweifel, dort war etwas eingesperrt und wollte hinaus. Die arme Kreatur hatte bestimmt Hunger und Durst, dachte sie. Einige Minuten stand sie unsicher vor der Schachtel und kämpfte mit sich, dann gewann ihre Neugier. Vorsichtig drückte sie den Hebel, und die Verriegelung sprang auf, dann hob sie den Deckel ein ganz klein wenig an und versuchte hineinzuspähen. Betty sah nichts, also hob sie den Deckel langsam etwas höher, als plötzlich etwas silbriggrünes aus der Schachtel schoss und an ihr vorbeiflog. Mit einem Schreckensschrei ließ sie den Deckel fallen und sprang ein Stück zurück. Was bitte, war das gewesen?, fragte sie sich. Ein Tier war das auf jeden Fall nicht. Sie schlich in ihr Schlafzimmer und holte ihre Waffe, damit fühlte sie sich schon sicherer. In gebückter Haltung, zum Gegenangriff bereit, machte sie sich auf die Suche nach dem Gegenstand. Sie staunte nicht schlecht, als sie an ihrer Wohnungstür, in Augenhöhe, einen kleinen, silbernen Dolch mit grüner Klinge schweben sah. »Hier will mich jemand auf den Arm nehmen«, sagte sie laut und schaute sich um, doch sie war allein. Vorsichtig näherte sie sich dem Dolch, an seinem hinteren