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      Vorsichtig streckte Manne seine Arme aus. Dann die Beine. Laut gähnend dehnte er dann seinen steifen Rücken, bevor er versuchte, langsam aufzustehen. Die Nacht war kalt gewesen, darüber täuschten auch die warmen Temperaturen am Tag nicht hinweg. Die Eisheiligen nannten sie das wohl. Vor Urzeiten, in einem anderen Leben, hatte er einmal einen Garten gehabt und noch über solche Dinge genau Bescheid gewusst. Ja, es musste jetzt die Zeit sein. Er setzte sich auf und rollte den Kopf bedächtig hin und her, während seine rechte Hand neben ihn griff.

      Sie griff ins Leere.

      „Herrgottsakra!“ Mit einem Ruck saß er kerzengerade und starrte wütend auf die Bodenplatten der Einkaufspassage. „Scheiße! Welche Drecksau hat mir die Pulle geklaut!? Eine Sauerei ist das, eine elende! Wenn ich den erwische!“ Seine Hand tastete fieberhaft die Steinfliesen neben sich ab. „Da war noch fast ein Viertel drin, ich hab’s mir extra zum Frühstück aufgehoben! Wenn ich den erwische, den Lumpenhund!“

      Neben ihm raschelte Papier, ein ärgerliches, schmutziges Gesicht kam zum Vorschein. „Spinnst wohl, hier so ‘nen Krach zu mache am frühe Morge, wie? Halt die Klapp’ und penn weiter!“

      „Jemand hat mir den Rest Roten geklaut!“ Mannes Schimpfen ging in ein Wimmern über.

      Sein Nachbar, der Pinnekarl, fuhr hoch. „Du mit deim ewiche Gejammer! Auf de Geist gehste mir – awwer ganz gewaltich! Pass doch uff dein Krempel besser uff!“

      „Aber wenn ich doch schlaf!“ Jetzt flennte Manne wie ein kleines Kind. Dicke Tränen rannen ihm über die geröteten Wangen in den filzigen Vollbart. Das war, wie immer, für Karl das Signal, sich an ihre Freundschaft zu erinnern und unbeholfene Trostversuche einzuleiten.

      „Komm, es is eh’ schon fast Zeit, mir gehn ans Geschäft. Den Rote haste bald widder drin!“

      Vorsichtig wie Manne vorhin reckte er seine Glieder. Beide – Manne unter Schluchzen, Pinnekarl unter leisem Fluchen – packten ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Während Manne seine Plastiktüten mit Zeitungen und einer dünnen Decke vollstopfte, registrierte sein Blick gleichgültig die vier- und fünfstelligen Summen an den glitzernden Colliers, Ringen und Armbändern im Fenster des Juwelierladens, neben dem sie ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten. Sie gingen durch die kleine Einkaufspassage, vorbei an einer Boutique für Baby-Designer-Moden, und traten ins Freie. Es war fast acht Uhr, vom Osten her stand bereits eine wärmende Sonne über der Frankfurter Hauptwache.

      In der Zeil waren kaum Menschen; die beiden Obdachlosen wussten, dass hier an Geschäft noch nicht zu denken war, denn die wenigen Passanten hatten nichts von der Gemütlichkeit der Einkaufsbummler an sich, die in zwei, drei Stunden Frankfurts größte Einkaufsstraße völlig verändern würden.

      Doch unter ihnen, in der B-Ebene, war bereits die Hölle los. Menschen schossen in verschiedene Richtungen an ihnen vorbei und hasteten den Rolltreppen und Aufzügen zu. Und noch weiter unten brüllten und quietschten im Sekundentakt die Züge aus annähernd 20 S- und U-Bahn-Linien. Hier hetzten jeden Tag fast zweihunderttausend Menschen von einem Bahnsteig zum anderen, verstopften die Rolltreppen, rempelten einander an, eilten immer in die Richtung, aus der die anderen gerade gekommen waren. Pünktlich zu Wochenbeginn blähte sich die Mainmetropole zur Millionenstadt auf und platzte aus allen Nähten, indem sie sich schlagartig um die Hälfte ihrer Einwohner vergrößerte. Auf den Straßen und Autobahnen der Stadt war das Bild womöglich noch chaotischer. Am Wochenende gönnte sie sich etwas Ruhe, bevor montags der Hexentanz in eine neue Runde ging.

      „Irgendwie is des alles falsch eingericht’“, hatte Pinnekarl einmal zu seinem Freund gesagt, als sie das Gewühl beobachteten, das sich jeden Werktag so sicher wie die jährliche Fahrpreiserhöhung wiederholte. „Die, die von da komme, könnte doch da auch arbeite. Und die, die von dort komme, könnte doch dort arbeite! Aber nein – es is grad annersderum. Die renne von da nach dort, und die annern von dort nach da. Die Welt is schon komisch eingericht!“

      Vielleicht würde man hier unten ein hastig hingeworfenes Wechselgeld der morgendlichen Zeitung oder Zigaretten im Hut wiederfinden können. Sie zwängten sich langsam die Treppen hinunter, immer am Geländer entlang, umgingen, so gut es ging, den Hauptstrom und konnten es trotzdem nicht vermeiden, dass sie gestoßen und gerempelt wurden. Manne, immer noch seinem Viertel Rotwein nachtrauernd, nahm es mit stoischer Gelassenheit, Pinnekarl dagegen bahnte sich laut schimpfend seinen Weg. Er hatte die Genugtuung, dass die werktätigen Massen mit angewiderter Miene auf Abstand gingen, sobald sie gewahr wurden, mit wem sie gerade ungewollten Kontakt aufgenommen hatten. Sie kamen an den Abgang zum S-Bahnhof und schlurften an Geschäften, Cafés und Ständen vorbei, in denen das bürgerliche Volk vor Bürobeginn hastig einen Kaffee schlürfte und ein fabrikfrisches Croissant dazu aß. Die ganz Eiligen nahmen sich nicht einmal die Zeit, dort stehen zu bleiben, sondern stürmten mit ihren diversen Kaffee-Variationen in Pappbechern bereits weiter.

      „Gucke mal, da liecht des Peterche!“ Pinnekarl deutete auf einen Kollegen, der in einer Ecke nahe der Schließfächer auf seinem Lager lag. Keiner der Vorbeiströmenden nahm Notiz von ihm. „Dass der immer noch schlafe kann – bei dem Lärm! Hat wohl widder zuviel gehabt gestern! He, Peterche, wach uff!“

      „Dem habense ja auch die Pulle nicht geklaut. Komm, lass ihn weiterschlafen. Die Bullen werden ihn schon wachrütteln.“ Manne konnte den Kleinen Peter nicht leiden, seitdem der ihm einmal seinen besten Arbeitsplatz streitig gemacht hatte.

      „He! Guckemal da, was issen des?“ Pinnekarl war nähergetreten. Dann taumelte er zurück. „Um Gottes Wille! Des is ja – des is Blut! Manne, des is Blut! Um Gottes Wille!“

      „Du spinnst ja. Nun mach mal halblang. Das –“ Manne kam vorsichtig hinter seinem Freund hervor und starrte auf den Liegenden. „Oh, mir wird schlecht!“

      „Rufese en Krankewage! Die Bolizei! Der is dod!“ Verzweifelt wandte sich Pinnekarl an die vorüber eilenden Menschen um. Keiner hatte mehr als einen Blick für die beiden, die den Toten noch halb verdeckten. „Mir brauche die Bolizei!“ Er ging auf den nächsten Passanten zu, fasste ihn am Ärmel des teuren Jacketts und taumelte zurück, als der andere ihn brutal zurückstieß. Er versuchte es weiter und erweckte endlich die Aufmerksamkeit einer jungen Frau, die zwar vor ihm zurückwich, aber ihm wenigstens zuhörte.

      „Rufese die Bolizei, Fräuleinche, des Peterche da is dod!“

      Die Frau schaute ihn skeptisch an, dann ging ihr Blick auf das Bündel Mensch, das auf dem Boden lag. „Sind Sie sicher?“

      „Ja doch, ich sach Ihne doch ...!“

      „Vielleicht schläft er nur seinen Rausch aus?“

      „Und des Blut?“

      Ein schmutziger Finger zeigte zitternd auf die dünne Decke, auf der der Obdachlose lag. Die Frau wagte einen zaghaften Blick, zuckte zusammen und nickte.

      „Gut, ich rufe die Polizei. Bleiben Sie am besten hier.“

      Pinnekarl und Manne sahen sich an. Nein, das wollten sie ganz sicher nicht. Hastig ergriffen sie ihre Plastiktüten, die sie vor Schreck hatten fallen lassen, und wandten sich der nächsten Rolltreppe zu.

      Doch es war zu spät. Die Frau brauchte gar nicht erst ihr Handy zu zücken, weil die kleine Gruppe inzwischen die Aufmerksamkeit einer Streife auf sich gezogen hatte, die bereits auf sie zusteuerte. Manne und Pinnekarl legte einen Zahn zu.

      „Halt da! Hier geblieben!“

      Die Polizisten setzten sich in Trab, fingen sie auf der überfüllten Rolltreppe ein und schleiften sie nach oben. Es gab ein fürchterliches Durcheinander, eine Frau kreischte, ein Kind mit einem schweren Schulranzen wurde grob beiseitegeschoben.

      „Bleibt ihr wohl jetzt ruhig stehen!“

      „Is ja gut, Mann!“ Oben im Sonnenlicht wand sich Pinnekarl aus dem harten Griff des Polizisten. „Mir wollte ja gar net abhaue.“ Er glättete den Ärmel des zerrissenen alten Mantels mit einiger Würde. „Also, da unne, da liecht einer und is dod!“ Er zeigte nach unten.

      Die Polizisten sahen sich kurz an, einer

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