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Der Vorfall. Urs Triviall
Читать онлайн.Название Der Vorfall
Год выпуска 0
isbn 9783753190815
Автор произведения Urs Triviall
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Eines war mithin unumstößlich klar: Wo auch immer die Erde im Gemenge des Universums herumkurven mag, die Entfernungen für einen simplen Telefonanruf waren zweifelsfrei unüberwindbar. Die sonnenklare Schlußfolgerung verschaffte mir irgendwie Befriedigung.
Als ich schließlich wieder auf meiner Liege lag, konnte ich sehr entspannt dem amüsanten Gewimmel der Feldsperlinge zuschauen, die in einem kleinen Wasserbecken munter und fidel ein Bad nahmen. Achtungsvoll stellte ich fest, dass Vögel irgendwie auch Individien sind. Manche von ihnen bleiben am Rande des Beckens sitzen, nippen nur ein bisschen Wasser, andere stecken den Kopf hinein, wieder andere springen geradezu kopfüber hinein und planschen ausgiebig. Ein lustiges, ein munteres Völkchen. Ganz offensichtlich ganz und gar ohne jegliche Lebensprobleme.
Womit ich gedanklich denn auch schon wieder bei meinem Problem war. Mir fiel ein, dass heutzutage menschliche Geräte im Weltall unterwegs sind, die Daten über beträchtliche Entfernungen übertragen. Der Mensch ist einfach zur Tagesordnung übergegangen. Aber es ist im Grunde ein echtes Wunder, dass zum Beispiel mein Navi im Auto immer genau weiß, wo ich mich mit meinem PKW just aufhalte, welche Straße ich fahre, und dass es mir den unbekannten Weg weist, wenn ich ihm mitteile, wohin ich will. Dienstbare Satelliten, die um die Erde kreisen, machen es möglich. Dabei geht es hier freilich nur um Bruchteile der Entfernungen im Vergleich zu der Dimension, die mich umtreibt.
Anders ist das schon bei den Instrumenten, die ins Universum ge-schickt werden, um uns von fernen Himmelskörpern Daten zu übermitteln. Geradezu ein Demonstrationsbeispiel scheint mir die Sonde „Osiris Rex“, die den Asteroiden Bennu umkreist und sich für diesen Zweck rund 290 Millionen Kilometer von der Erde entfernt befindet, weshalb ihre Daten-Signale etwa 16 Minuten bis zur Erde brauchen. Was diese Sonde vermag, ist mehr als ein echtes Wunder. Sie nähert sich dem Asterioden bis auf wenige Meter, greift dann mit einem Arm nach dem Staub, der durch Druckluft aus der Sonde aufgewirbelt wird, geht dann in ihre Umlaufbahn zurück und beginnt, die ermittelten Daten der Erde mitzuteilen.
290 Millionen Kilometer ist schon eine gigantische Entfernung. 16 Minuten brauchen die Signale bis zur Erde. Wie lange würden Signale vom Rande des Weltalls bis zur Erde brauchen? Ich mochte nicht anfangen, dies auszurechnen. Die Recherche reichte mir, endgültig und unwiderruflich auszuschließen, dass die provokanten Anrufe aus dem Jenseits kommen. Bis zu dem Tag, an dem der nächste Anruf kam.
Klipp und klar
Als das Telefon eines Nachmittags schrillte, sondierte ich gerade am Computer die Tabelle der Bundesliga und griff nebenbei so einfach mal zum Hörer.
„Ja,“ sagte ich arglos.
„Dad, schön dich zu hören“, sagte die Stimme. Und ich war überrumpelt. Ich hatte geglaubt, für diesen Moment gerüstet zu sein, aber ich war es nicht. Ich war es nicht. Ich hatte keine Strategie, wie ich auf die neuerliche Ungeheuerlichkeit reagieren sollte. So ließ ich sie denn geschehen. Neugierig war ich ohnehin. Und warum nicht mit diesem verrückten Weib ein paar Worte wechseln. Immerhin fand ich zunächst zu einer brüsken Antwort.
„Sie sind nicht meine Frau!“ knurrte ich. „Sie können es nicht sein!“
„Das weiß ich nun wirklich besser.“
„Aha!“ sagte ich etwas verwirrt. „Und? Was soll das Ganze? Was wollen Sie von mir?“
„Wie geht es unseren Kindern?“ bekam ich zur Antwort.
„Ziehen Sie nicht auch noch meine Kinder in dieses absurde Theater“, rief ich empört.
„Dad, das ist bitter, dass Du mir misstraust. Ich verstehe es ja, es ist ungeheuerlich, aus irdischer Sicht wirklich ungeheuerlich. Aber erkennst Du nicht wenigstens meine Stimme?“
„Nein!“ sagte ich trotzig, obwohl ich unsicher war.
„Nein?“
„Nein!“ wiederholte ich.
„Ach, das wird an der Entfernung liegen“, reagierte die Stimme, „die Signale sind wohl so ein paar Tage unterwegs. Da verzerren sich wahr-scheinlich die Töne. Ich erkenne Deine Stimme gut. Du sprichst immer noch so ein bisschen sächsisch.“
Das traf mich ins Herz. Mein Leben lang war ich mein Sächsisch nicht ganz los geworden. Nun wurde es mir sogar aus dem Jenseits bescheinigt.
„Hören Sie auf mit dem Theater!“ brüllte ich, „geben Sie endlich zu, wer Sie sind! Bitte, wer auch immer Sie sind, ich lade Sie ein zu mir! Dann können wir Ihr Problem in Ruhe abklären.“ Ich hatte die Fassung verloren und ausgesprochen cholerisch etwas versprochen, was mir eigentlich nicht in den Sinn hätte kommen dürfen.
„Oh!“ reagierte die Stimme ungerührt. „Bei mir kommt gerade der Brecht vorbei. Er telefoniert auch. Hier ist die Telefonitis ausgebrochen. Entschuldige! Aber das geschieht nicht so oft, dass ein großer Dichter bei mir vorbeikommt. So viele gibt es ja nicht. Die sitzen meist zusammen und diskutieren. Die ganz Großen. Aischylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Goethe, Schiller und die alle. Auch der Müller.“ Und unvermittelt: „Weißt Du, am besten Du beruhigst Dich erst einmal. Ich melde mich wieder.“
Stille! Absolute Stille. Nicht einmal ein Rauschen in der Leitung. Mir aber schwindelte. Was war da jetzt passiert? Hatte ich mir nicht in den letzten Tagen absolut klipp und klar gemacht, dass diese Anrufe nie und nimmer aus dem Jenseits kommen konnten? Und nun?
Ich legte mich auf die Couch und starrte an die Decke. All meine Sinne forderten mich auf, diese elende Story aus meinem Leben zu bannen, endlich bewusst und souverän darüber hinwegzugehen, mich nicht immer wieder beeindrucken zu lassen. Aber ich hatte soeben leibhaft und lebendig telefoniert! Oder? Hatte ich geträumt? Nein, ich hatte mit einer realen Stimme gesprochen, woher auch immer sie erklungen sein mochte. Ich hatte mein Telefon in der Hand gehabt und mich mit einer menschlichen Stimme unterhalten. Und dabei absurde Dinge erfahren. Brecht lief da also herum und telefonierte! Eine Telefonitis sei ausgebrochen! Hieß das, dass alle Jenseitser mit ihren Angehörigen hier auf der Erde telefonieren? Und dass hier nicht eine Zeitung davon erfährt? Nicht einmal die „Bild“-Zeitung?
Ich sprang auf. Ich fürchtete, verrückt geworden zu sein. Wie ein eingesperrtes wildes Tier tigerte ich in meinem Haus herum. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich fingerte im Flur wirr an den dort abgelegten Tageszeitungen herum, ich rannte in die Abstellkammer, um den Staubsauger zu holen und ließ davon ab, ich hantierte in der Küche kopflos mit dem für die Spülmaschine bereit gestellten Geschirr, ich landete vor meinen Büchern und kramte herum. „Die Pest in London“ von Daniel Defoe fiel mir in die Hand. Ich hatte das Buch zwar schon ewig im Regal stehen, aber noch nie gelesen. Ich hockte mich nieder und blätterte darin herum.
„Und nun,“ las ich, „war allerdings die Arbeit des Wegschaffens der Toten mit Wagen so widerlich und gefährlich geworden, daß darüber geklagt wurde, die Träger trügen keine Sorge, solche Häuser auszuräumen, deren Bewohner sämtlich tot waren, sondern manche Leichen lägen unbeerdigt, bis die Nachbarhäuser durch den Geruch belästigt und folglich angesteckt würden…“ Ich klappte das Buch zu. Der Satz traf zwar überraschend irgendwie meine Gemütslage, aber er hielt mich davon ab, nun wirklich zu lesen. Mein Elend reichte mir vollkommen.
Trostlos schaute ich mich um. Ich kam mir vor wie