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Der Vorfall. Urs Triviall
Читать онлайн.Название Der Vorfall
Год выпуска 0
isbn 9783753190815
Автор произведения Urs Triviall
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Als damals der Anruf gekommen war, war meine Ruhe eines Rentners in gesegnetem Alter dahin. Die unfassbare Unsäglichkeit trieb mich zum Friedhof. Ich wusste, ich würde dort zwar keine Antwort finden, aber eben vielleicht so etwas wie seelischen Trost nach stillem Disput mit dem lieben Menschen, dessen sterbliche Überreste dort ruhen.
Ich trat an das mit einer braunen Marmorplatte abgedeckte Grab, empfand gequält meine absurde Situation und musste, noch ehe ich mit meiner Frau im Stillen hatte sprechen können, ungewollt an ein Ereignis denken, das der Gedenk-Zeremonie am Tage der Bestattung einen unerwartet irren Touch gegeben hatte. Dem extra engagierten Countertenor, der mit der Pianistin einige Zeit in der kalten Friedhofskapelle hatte warten müssen, misslangen nämlich so gut wie alle Töne. Der junge Mann, unglücklich über sein Missgeschick, krähte erbarmungswürdig. Und die Misstöne mischten sich gnadenlos in den tiefen Schmerz. Das Desaster schien mir damals gleichsam symbolisch für die absolute Widersprüchlichkeit unseres Daseins. Die innigste Einkehr war durch einen banalen Zufall tragikomisch gestört worden. Und ich wusste, meine Frau, eine Musikwissenschaftlerin, hätte sich höchstwahrscheinlich pietätlos amüsiert.
Die unerwartete Erinnerung an dies absurde Ereignis holte mich in meine wahnwitzige Gegenwart zurück. Ich stand still und kämpfte mit den Tränen. Dann sagte ich meiner Frau, was mir zur Zeit widerfuhr - dass sich eine Fremde anmaßte, sich als sie auszugeben. Stille umgab mich, Schweigen. Nicht einmal ein Vogel nahm mich wahr. Ich verließ den Friedhof.
Es begann eine trübe Zeit. Immer wieder verfiel ich in Grübeleien. Wenn ich an meine Vernunft appellierte und mich entschied, diesem elenden Anruf und der ebenso elenden Anruferin nicht so viel Aufmerksamkeit zu schenken, dann hatte ich Minuten, in denen der Alltag normal verlief. Zumal kein neuer Anruf gekommen war.
Also morgens möglichst lange schlafen, geruhsam frühstücken, Zeitung lesen, sich an den Computer setzen, zappen, scrollen, Nachrichten gucken, Fußball-Tabellen studieren, Tropico spielen, an den eigenen Homepages basteln. Mittags Spiegelei, Hefeklöße, Waldpilz-, Linsen- oder Spargelsuppe. Naja. Mittagsschlaf, danach Fische füttern und Teichfrosch gucken. Und so weiter. So eben dies und jenes bis in den späten Abend.
Doch der Appell an die Vernunft war offenbar nicht nachhaltig genug. Wohl auch, weil es geraume Zeit vor dem mysteriösen Anruf schon einmal einen seltsamen Anruf gegeben hatte, der sogar zum Besuch durch die Polizei geführt hatte.
Zu später Stunde hatte mich ein Herr mit sehr seriöser Stimme angerufen, sich als Polizeikommissar ausgegeben und mir mitgeteilt, dass sie soeben in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ein Einbecher-Duo festgenommen hätten, bei dem sie einen beachtenswerten Zettel gefunden hätten. Auf dem Papier stünde, dass in meinem Haus einige Goldbarren und 200000 Euro in bar gelagert seien und die Bedingungen für einen Einbruch günstig wären. Etwas kopflos hatte ich damals dem Herrn Kommissar klar zu machen versucht, dass derlei Beute bei mir nicht zu holen sei, und er hatte mir versichert, dass sie mit genügend Kräften einsatzstark vor Ort seien und derzeit also keine Gefahr bestünde.
Nachdem ich damals aufgelegt hatte, schien mir der beunruhigende Vorgang sehr verdächtig und ich beschloss, die Polizei anzurufen. Von da wurde mir erst einmal mitgeteilt, dass die Polizei grundsätzlich keine Bürger anruft und mir zur Beruhigung würde man eine Streife vorbeischicken. Was denn auch geschah. Die Beamten nahmen meine Anzeige entgegen, amüsierten sich ein wenig über meine Unbedarftheit, klärten mich noch einmal auf und überließen mich meinem Schicksal. Dies befremdliche Ereignis war inzwischen in Vergessenheit geraten, mir jetzt aber wieder in den Sinn gekommen. Was dazu beitrug, dass ich immer wieder ins Grübeln kam.
Und dies andauernde Kopfzerbrechen führte einmal mehr zu ärgerlichen Ergebnissen. Ich warf mir vor, nicht so clever gewesen zu sein, auf dem Display des Telefons nach der Nummer der üblen Anruferin geschaut zu haben. Kopflos und überstürzt hatte ich aufgelegt. Nun muss ich gestehen, dass ich es mir nicht zur Gewohnheit gemacht habe, bei einem Anruf nach der Nummer zu schauen. So viel Anrufe bekomme ich ohnehin nicht mehr, dass das so unbedingt notwendig gewesen wäre. Zumal das ja auch nicht aussagekräftig sein soll. Irritierend ist es ohnehin. Einmal hatte ich einen Anruf abgelehnt, weil da stand „Nummer unterdrückt“. Solchen Leuten, die es nötig haben, ihre Nummer zu unterdrücken, gestatte ich keinen Anruf. Wenig später aber hatte sich herausgestellt, dass der Anrufer die Nachbarin gewesen war, die mir eine Belanglosigkeit hatte mitteilen wollen. Die Nachbarin?
Das war eine einsame Witwe in einem Alter, in dem man durchaus noch weibliche Ambitionen haben kann. Sie hatte wahrscheinlich zum Zeitvertreib oder warum auch immer die Neigung zu registrieren, wann ich morgens das Rollo hochziehe, wann ich einen Spaziergang mache, wann ich mit dem Auto losfahre oder wann ich mich im Garten aufhalte. Dann tauchte sie gern am Gartenzaun auf und suchte das Gespräch. Was insofern nützlich war, dass ich stets zwar meist belanglose Neuigkeiten aus der Nachbarschaft erfuhr, aber immerhin einigermaßen auf dem Laufenden war, was sich im Ort begab. Ein ergiebiges Thema waren die Wildschweine, die sich sehr gern gegebenüber im Wald aufhalten und dort hemmungslos wühlen. In merkliche Schwierigkeit war ich geraten, als ich mit ihr über meine Beschwerden beim Spaziergang durch den Wald gesprochen hatte. Mir fällt das nämlich zunehmend schwer und ich gehe deswegen auch nicht mehr gern allein. Ich habe zwar immer das Handy dabei, aber man kann nie wissen. Und prompt bot sie sich als hilfreiche Begleiterin an. Das war sehr nett und ich bedankte mich auch artig, aber in diese merkwürdigen Beziehungs-Abhängigkeiten, in die man durch solch einen Kontakt gerät, wollte ich mich keinesfalls begeben. In Betrachtung aller Umstände kam ich zu der Meinung, dass die Nachbarin nicht in Frage kam.
Schon war ich bei einem weiteren ärgerlichen Punkt. Ich konnte mich nicht mehr an die Stimme der Fremden erinnern! War es die Stimme meiner Frau gewesen? So kramte ich denn meine Video-Filme von unseren gemeinsamen Kreuzfahrten hervor, die in einer Ecke eines Schrankes ein kümmerliches Dasein fristeten, und legte eine DVD nach der anderen auf. Aber eine brauchbare Antwort fand ich nicht. Die Stimme meiner Frau hatte stets eine wohltuende Ruhe und Souveränität ausgestrahlt, war zart und klar, kam aus einem starken Lebenszentrum. Die Stimme der Anruferin hingegen schien zwar ähnlich gewesen, hatte aber auch etwas Raues, etwas Schnarrendes. Je mehr ich darüber grübelte, desto gewisser wurde ich, dass es nicht die Stimme meiner Frau gewesen sein konnte. Bis zu dem Tag, an dem ein zweiter Anruf geschah.
Geradezu verhängnisvoll war, dass ich mir trotz aller Grübelei keine Strategie festgelegt hatte für den Fall, dass wieder angerufen würde. Zumal ich das Ganze schließlich für einen einmaligen bösen Scherz hielt, der sich nicht wiederholen würde. Arglos also griff ich zum Telefon, meldete mich und hörte bestürzt:
„Hallo Dad, warum hast du denn aufgelegt? Wir müssen doch reden!“
Ich hatte keine andere Möglichkeit, als schnell auf die Austaste zu drücken. Dann setzte ich mich hin und starrte fassungslos zum Fenster hinaus. Was war da los? Das Unglaubliche, das Ungeheuerliche war, dass ich trotz aller Flüchtigkeit diesmal in den paar Sekunden die Stimme meiner Frau herausgehört zu haben glaubte. Das beunruhigte mich nun wirklich ernsthaft. Leider verfüge ich nicht über eine Technik, die es erlaubt, eingegangene Anrufe nach Belieben zu wiederholen. Weil mir das nicht möglich war, geriet ich wieder ins Kopfzerbrechen und war schließlich geneigt, meinem spontanen Empfinden zu mißtrauen.
Zumal ein anderer Punkt in meine Aufmerksamkeit gerückt war. Ich hatte nämlich diesmal immerhin in dem Moment des Einschaltens des Anrufes nach der Nummer auf dem Display geschaut. Wo gähnende Leere gewesen war! Wieso das denn? Wieviel Rafinesse war da unterwegs? Oder sollte ein Anruf aus dem Jenseits diese Besonderheit haben? Ich zwang mich zur Vernunft. Dieser hahnebüchene Irrsinn musste irdisch sein. Irgendein verrücktes Weib trieb da ein gemeines Spiel.
Ich musste an die Spam-Mails denken, die ich stets wegklickte, Woche für Woche. „Ich will heute Abend mit dir spielen!“ hieß es da verlockend, versehen meist mit dem Foto einer verführerisch aufgeputzten jungen Frau, die einen herausfordernd freundlich anschaute. Als ich einmal – neugierig wie ich nun einmal bin – solche Mail, auf der eine Daniella für sich warb, angeklickt hatte, landete