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Der Vorfall. Urs Triviall
Читать онлайн.Название Der Vorfall
Год выпуска 0
isbn 9783753190815
Автор произведения Urs Triviall
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Dann aber wurde mir urplötzlich heiß und kalt. Mir wurde bewusst, dass diese fremde Frau ja zweimal „Dad“ zu mir gesagt hatte. Das war nun wirklich echt beunruhigend. Denn mir fiel ein, dass mich meine Frau in unserer mit goldener Hochzeit gekrönten Ehe selten mit meinem Vornamen angeredet hatte, sondern manchmal Papa, meist aber Dad gesagt hatte. Woher wusste das diese fremde Frau? Es musste, es konnte nur eine Person sein, die uns einst oder längere Zeit sehr nahe gestanden hatte, die unseren sprachlichen Umgang miteinander kennen musste. Gab es solche Frau überhaupt. Je länger ich darüber nachdachte, desto gewisser wurde ich, dass es eine solche Frau nie gegeben hatte. Was aber hieß das? Die Anruferin könnte höchstwahrscheinlich tatsächlich meine Frau sein. Nein! Unmöglich! Alle - freilich bedenklich schwindende - Vernunft in mir bäumte sich auf.
Noch einmal ging ich die Liste der möglichen Kandidatinnen durch. Es konnte ja ohnehin eigentlich nur eine Person sein, die uns schon früher hin oder wieder als etwas egozentrisch, als etwas überkandidelt aufgefallen sein musste. Doch solche Person gab es nicht. Wie es überhaupt auch keine Liste gab. Mir wurde bewusst, dass wir unsere Ehe mit unseren zwei Kindern über all die Jahre ziemlich abgekapselt gelebt hatten. Nahe Bekannte in der Nachbarschaft, die meiner Frau in jungen Jahren geholfen hatten, in Berlin Fuß zu fassen, gab es nicht mehr. Sie waren verstorben. Auch ehemalige Kolleginnen meiner Frau gab es im Grunde nicht mehr. Wir hatten es kaum erfahren, wenn sie verstorben waren. Bei einer von ihnen, bei Vera, hatten wir immerhin unsere Anteilnahme bei der Beerdigung zeigen können. Vera wäre vielleicht eine Kandidatin gewesen. Obwohl, sie war im Grunde viel zu feinsinnig, um auf einen solch abwegigen Gedanken zu kommen, sich als meine tote Frau auszugeben.
Ich hatte alle Mühe, nicht den Kopf zu verlieren. Ich entschied zu versuchen, die makabre Angelegenheit möglichst aktiv anzugehen. Vor allem durfte nicht wieder passieren, dass ich den Anruf so schnell beendete, sollte er denn doch noch einmal geschehen. Im Gegenteil, ich musste versuchen, mit der dreisten Anruferin ins Gespräch zu kommen, vielleicht gar mit ein, zwei Fragen ein wenig zu erhellen, wer sich hinter dem Irrsinn verbergen könnte.
Jemanden ins Vertrauen zu ziehen, wäre zur Wahrung meines seelischen Gleichgewichts wahrscheinlich gut gewesen. Aber das versagte ich mir, und zwar grundsätzlich. Die Erfahrung mit den zwei freundlichen Polizisten genügte mir. Ich hatte damals sehr wohl gespürt, dass sie in mir den schon etwas dussligen alten Herrn gesehen hatten. Was wohl würden Polizisten von mir halten, wenn ich ihnen die aberwitzige Geschichte von der mysteriösen Anruferin auftischen würde? Ich dürfte ihnen nicht einmal verargen, wenn sie still und allsobald nach einem Irrenarzt rufen würden. Vielleicht ließe sich dies vermeiden, würde ich nur von der Hartnäckigkeit der Stalkerin sprechen, nicht aber davon, dass deren Anrufe möglicherweise aus dem Jenseits kamen. Mit dieser irren Annahme durfte ich niemandem kommen. Das verbot sich grundsätzlich; denn es konnte, es konnte nicht stimmen.
Jenseitser
Dann kam der dritte Anruf. Schriller als sonst schien mir die Klingel. Ich merkte auf. Für einen Moment zögerte ich. Einfach nicht rangehen, blitzte der Gedanke. Wer sollte sonst anrufen? Die Kinder konnten es nicht sein, sie pflegten es regelmäßg abends zu tun. Es konnte freilich auch solch ein Anruf sein, bei dem man am anderen Ende der Leitung ein Sprachgewirr vernimmt und dann eine Stimme in fremder, meist englischer Sprache auf einen einredet. Da pflege ich „thank you“ zu sagen und gleich wieder aufzulegen. Unterdessen tönte die Klingel. Ich griff zum Telefon.
„Ja?“ sagte ich.
„Ja, schön, du! Ich bin’s, Petra. Sei nicht zu überrascht.“
„Bin ich aber!“
„Musst du nicht! Das wird ganz normal! Wir können mit der Erde telefonieren.“
„Wer wir?“
„Wir Jenseitser.“
Mehr konnte ich nicht verkraften. Ich drückte die Austaste und legte das Telefon ab. Apathisch blieb ich sitzen, starrte ein Loch in die Gegend, spürte plötzlich, dass ich hemmungslos zitterte. Endlich fand ich meine Fassung ein wenig wieder, als ich zunehmend trotzig leise vor mich hin formulierte: „Das kann doch nicht wahr sein!“ Immer wieder murmelte ich: „Das kann doch nicht wahr sein!“
Langsam wurde mir wohler, ich zitterte nicht mehr. Wie kann man derartige Unverschämheit unterbinden? Gibt es überhaupt ein Mittel? Vielleicht musste ich denn doch die Polizei einschalten. Und schon haderte ich wieder mit den Vorbehalten. Man würde mir nicht glauben. Man konnte es ja auch wirklich nicht glauben. Zaudernd erhob ich mich, versuchte wieder in Gang zu kommen. Ablenkung! Ja, ich brauchte jetzt irgendeine beruhigende Ablenkung. Irgendeine vulminante Aktivität, die mich voll in Anspruch nimmt, die alles Ungemach dieses Daseins vergessen macht.
Eine Idee erwachte, die schon vor geraumer Zeit aufgekeimt war, von mir aber schnell verworfen worden war. Ich war zu alt dazu. Jetzt jedoch schien mir das Alter unwichtig. Ich fand, dass mir eine Begegnung mit einer nackten Frau gut tun könnte, mich absolut ablenken würde, selbst wenn es bei mir nur dazu reichen würde, nach ihren bloßen Brüsten zu fassen. Oder vielleicht sogar tief in ihr sich öffnendes Heiligtum. Wer weiß, vielleicht würde mich das dann sogar zu mehr fähig machen.
Ich setzte mich an den Computer, wählte Google und verharrte. Welchen Begriff musste man eingeben, um zum Ziel zu kommen? Es musste so etwas wie ein Dienst sein, der Speisen ins Haus bringt. Ein Dienst, bei dem man sich eine dienstbare Frau bestellt, die nach geraumer Zeit vor der Tür steht, ohne irgendwelche moralischen Skrupel ins Haus tritt, sich ein wenig umschaut und willig mit zur Couch kommt. Man legt ihr das Geld hin, und sie zieht sich aus. Man macht artig darauf aufmerksam, dass man selbst nur eingeschränkt dienstbar sein kann und erntet ein verständnisvolles Lächeln. Und dann räkelt sich auch schon eine nackte und hoffentlich attraktive junge Frau auf der Couch. So in etwa.
Aber vorher muss man herausbekommen, wie man sich solch Erlebnis ins Haus holen kann. Also Google! Welcher Begriff? „Hausbesuch?“, „Willige Frau?“, „Erotischer Service?“ Jetzt rächte sich, dass ich ob meines Alters nie in diese Richtung recherchiert hatte. Schon bei dem Gedanken an solch ein Unternehmen, der mir immerhin hin und wieder gekommen war, hatte ich stets sofort das Empfinden, dass mir meine Frau im Wege stehen würde. Es würde mir einfach nicht möglich sein, ein erotisches Interesse für eine andere, für eine völlig fremde Frau zu erzeugen. Jetzt unterdrückte ich das Empfinden, jetzt stand es mir im Wege. Also los! Welcher Begriff? Ich verharrte neuerlich über der Tastatur.
Da schrillte das Telefon. Ich zuckte zusammen. War das schon wieder die irre Anruferin? Ich griff zum Telefon, schaute. Das Display leer, keine Information. Also tatsächlich! Die Irre!
„Ja!“ sagte ich böse und laut.
„Dad, ich versteh das doch. Es ist ungeheuerlich, ich weiß. Aber du musst dich daran gewöhnen…“ sagte die Stimme behutsam und geduldig.
Bebend vor Wut ließ ich meiner Empörung freien Lauf.
„Sie unverschämte Person!“ brüllte ich ins Mikrofon, „halten Sie die Fresse und lassen sie mich in Ruhe!
Ich drückte die Taste und rutschte in mich zusammen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich als Häufchen Unglück gesessen habe. Ich war zu keiner Bewegung fähig. Die Idee, die ich noch eben verfolgt hatte, war erloschen, war einfach weg. Eine Dirne wäre keine Antwort jetzt. Gab es überhaupt eine Antwort? Vermutlich nein. Ich war der Fremden absolut ausgeliefert. Nein, nicht absolut. Aber irgendwie eben doch.
Langsam, sehr langsam kehrte das Leben in mich zurück. Ich rang mich zu dem Entschluß durch, künftig den Anruf der Fremden zu ignorieren, sofort die Austaste zu drücken und zur jeweiligen Tagesordnung überzugehen. Das würde zwar Kraft kosten, müsste aber zu machen sein. Je mehr ich darüber nachdachte, desto ruhiger wurde