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deutliche Betrug ungehindert weiterwuchs. Nach jahrelangen Kampagnen und Agitationen erlangte die Geschichte, wie Situpa prophetisch die Reliquie erhalten und weggetragen hatte, den Status eines heiligen Beweises, daß er nämlich der von Karmapa persönlich Auserwählte sei, um dessen nächste Inkarnation aufzufinden. Ein derartiger Bruch mit den Tatsachen schuf einen gefährlichen Präzedenzfall und bestimmte fortan den Ton für große Teile der Verständigung an der Spitze der Linie. Zu diesem Zeitpunkt jedoch wagte niemand, einen hohen Lama der Lüge zu bezichtigen. Das war - noch - nicht möglich.

      Da es ihm nicht gelungen war, Karmapas Herz zu bekommen, bat Situ Rinpoche statt dessen um die Praxistexte Karmapas. Er argumentierte, daß sein Kloster einen besonderen Segen seines Lehrers brauche und solch ein Buch, das Karmapa jeden Tag gelesen hatte, sei genau das, wonach er gesucht habe. Diesmal war der alte Sekretär auf der Hut. Wie dem Autor dieses Buches Jahre später von Shamarpa in einem Interview enthüllt wurde, wehrte sich Damcho Yongdu sehr stark gegen Situpas neue Laune. „Rinpoche, gib ihm das Buch nicht“, sagte der Mann zu Shamarpa, „er wird damit einen falschen Vorhersagebrief über den nächsten Karmapa produzieren.“ Die Beschuldigung klang ziemlich übertrieben, wenn nicht sogar total verrückt. Dennoch kam Tai Situ mit seinen Bemühungen nicht weiter und mußte schließlich Rumtek mit leeren Händen verlassen. Karmapas Eigentum blieb an seinem Sitz.

      Wie wenn sie einer inneren Stimme folgten, begannen gleich nach der Konferenz eine Anzahl unzufriedener Diener, Situpa in den Ohren zu liegen. „Shamarpa hat so ein verschlagenes Spiel mit dir während der Konferenz gespielt“, flüsterten sie. „Er hat dich schwer betrogen! Shamar Rinpoche ist zu schnell für dich“, und so weiter. Sie schlugen einen neidischen Ton an und vergaßen dabei völlig, daß es niemand anderer als ihr eigener Meister war, der tatsächlich versucht hatte zu betrügen.

      Es war nicht sofort klar, ob und wie weit Situpa solch entzweiendem Gerede Glauben schenkte, aber das weitgestreute Gerücht, Shamarpa hätte einen schmutzigen Trick mit ihm gespielt und ihn ganz leicht überlistet, muß am Ende in seinem Herzen Fuß gefaßt haben. Wie die bevorstehenden Ereignisse beweisen sollten, war der Samen für Streit gesät und von da an betraten die beiden Hauptschüler Karmapas, ob mit Absicht oder nicht, entgegengesetzte und bald verfeindete Wege.

      KAPITEL 3

       Die Spaltung

      Die unmittelbar auf Karmapas Tod folgenden Monate und Jahre bescherten seinen Schülern ein Gefühl von Verlust und tiefstem Kummer. Gleichzeitig wurde der Abschied ihres Lehrers für einige im Westen zu einer großen Quelle für Energie und Selbstvertrauen. An der östlichen Front begannen jedoch einige Rinpoches, trotz des vorherrschenden Kummers, langsam und vorsichtig mit Rumtek zu brechen. Obwohl sie ihren Ruhm außerhalb Tibets Karmapa zu verdanken hatten, erwies sich die Sehnsucht nach ihrer alten Heimat als eine stärkere Kraft als Vernunft und Treue ihrem Lehrer gegenüber. Zurückblickend konnten sie sich noch gut daran erinnern, wie jeder hohe Tulku - der absolute Herr seines Klosters - seine Macht über benachbarte Täler ausweitete und oft unbestritten über ganze Gebiete des Landes herrschte. Ihre derzeitige Lage war nur noch ein Schatten des alten Glanzes. Sie gaben dem Verlangen nach, solche kleinen Königreiche zu neuem Leben zu erwecken und so schmiedeten die ausgewanderten Lamas Pläne für ihre eigene hierarchische Organisation im Exil. Dieses Vorhaben muß aus der verzweifelten Sehnsucht nach der alten Ordnung und der grundsätzlichen Verkennung der neuen Realität außerhalb Tibets entstanden sein.

      Ob hoch oder niedrig, jung oder alt, die meisten tibetischen Lamas zeigten diese blinde Neigung, ihre alten Machtstrukturen in der neuen fremden Umgebung zu kopieren. Gleichzeitig zeigten sie einen unbezähmbaren Appetit auf Teile der Arbeit des jeweils anderen. Beispiel hierfür sind die krampfhaften Versuche mehrerer Kagyü-Lehrer, sich ein Stück von Karmapas Kuchen abzuschneiden, indem sie enthusiastisch vorgaben, in seinem Namen zu arbeiten. Das verdeutlichte auch der gelehrte Thrangu Rinpoche, der seine eigenen „Thrangu-Ling“-Gruppen in Hongkong und Malaysia aufbaute.

      Nachdem sie, nach mehr als ein Dutzend Jahren der Arbeit mit Tibetern, kritisch geworden waren, begannen Hannah und Ole allmählich, sich sowohl gegen diese Wiederbelebung traditioneller Sitten und Politik des Himalaya, als auch gegen den Aufbau klösterlicher Gruppen in den neu gegründeten buddhistischen Zentren des Westens zu wehren. Sie stellten sich auch gegen all jene Leute, die versuchten, sich Karmapas Erbe zu bemächtigen. Die Einheit der Linie, frei von kulturellem und klösterlichem Ballast, war in Oles Augen der Schlüssel für eine glaubwürdige Aufnahme des Buddhismus in der westliche Gesellschaft. Jeder eventuell erfolgreiche Versuch, das alte Tibet zu importieren würde aus dem neu im Westen angekommenen Buddhismus eine exotische und unwichtige vorübergehende Laune machen.

      In dieser wichtigen Aufgabe mußte sich das dänische Paar bereits 1977 von einem herausragenden Lehrer und dessen Organisation trennen - dem alten und überall respektierten Kalu Rinpoche. Ausgestattet mit einem eindrucksvoll trockenen Humor, starkem Willen und kraftvollem Charisma, war Kalu Rinpoche ein früher Zugang zum Westen gelungen. Auf Karmapas Bitte hin organisierten Hannah und Ole seine Programme und fuhren den patriarchalischen Lama und seine aus bhutanesischen und sikkimesischen Mönchen bestehende Begleitung anfangs und Mitte der siebziger Jahre durch Europa. Die Vision, der Kalu Rinpoche folgte, war jedoch die eines verbohrten Traditionalisten. Er konnte nicht einsehen, daß sich die westliche Gesellschaft grundsätzlich von seiner Heimat Tibet unterschied und zwang den aufstrebenden Buddhisten unbeirrt einen harten klösterlichen Stil auf. Alle seine asiatischen Mönche, ob sie nun qualifiziert waren oder nicht, wurden schnell zu ortsansässigen Lamas befördert, alle seinen nahen Schüler wurden gleich in Roben gekleidet und alle seinen Zentren nahmen in Kürze die heilige und erstickende Atmosphäre einer Kirche an.

      Heute jedoch, während des Schreibens dieses Buches, wirkt Kalu Rinpoches kompromißloses Bestehen auf klösterliche Gelübde und sein stures Beharren auf dem Zölibat ziemlich hohl, wenn nicht sogar völlig unehrlich. Im Herbst 1996 schockierte June Campbell, eine ehemalige Übersetzerin und nahe westliche Schülerin des ehrenwerten Lamas, die buddhistische Gemeinde im Osten wie auch im Westen. Sie offenbarte, daß sie in all den Jahren, in denen sie als Mitglied seiner Begleitmannschaft gereist war, Rinpoches Geliebte gewesen war. In ihrem Buch “Traveller in Space” (*FN: „Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen“) zeichnet sie ein sehr kritisches Bild vom klösterlichen System Tibets und erklärt, daß sie sich heute von dem berühmten Lama sexuell ausgebeutet und getäuscht fühle. Wahrscheinlich ist sie nicht die einzige. Nach ihrer Enthüllung dürfte sich wohl eine ganze Menge von Kalus Schülern, wenn auch nicht sexuell mißbraucht, so doch zumindest von ihrem alten Lehrer betrogen fühlen. Es ist natürlich überhaupt nichts falsch daran, als Praktizierender des tibetischen Buddhismus Partner zu haben. Viele Lamas entschieden sich für eine Gefährtin und das hochentwickelte Zölibatsystem war nur ein notwendiges Übel, um den Strapazen und der Mühe eines Familienlebens in Tibet zu entgehen. Es war auf keinen Fall die absolut notwendige Voraussetzung für die Erleuchtung. Immerhin stellt die Vereinigung männlicher und weiblicher Aspekte die letztendliche Erkenntnis auf der höchsten, der Diamantwegsebene dar.

      Hätte Kalu Rinpoche sich entschlossen, offen zu seiner Freundin zu stehen, wäre er ganz sicher ein ebenso anerkannter, wenn nicht sogar noch beliebterer Lehrer geblieben. Warum also errichtete er eine so irreführende Mauer um sein Privatleben? Unglücklicherweise bewirkt dieses Verhalten, daß er wie ein Heuchler aussieht und stellt ihn so auf dieselbe Stufe wie die Prediger, die eine Wahrheit predigen, aber einer anderen folgen. Viele bezeichneten Campbells Anschuldigungen als bloße Dichtung von jemandem, der gierig darauf war, auf Kosten eines verstorbenen Lamas zu Ruhm gelangen. Diejenigen, die Rinpoche durch Europa fuhren und Campbell unter ihrem tibetisch-buddhistischen Namen Yeshe Khandro kannten, sind jedoch geneigt, ihrer Geschichte Glauben zu schenken. Damals wirkte sie absolut aufrichtig und todernst - am Rande der Langeweile - ihrer Arbeit völlig ergeben und vollkommen unfähig, auch nur einen unschuldigen Witz zu machen - geschweige denn, eine Intrige solchen Ausmaßes anzuzetteln. Sie war mit Sicherheit kein Mädchen, das einer Lüge fähig war!

      Damals in den Achtzigern verkörperte Kalu Rinpoche noch das Bild heiliger Tugend und Enthaltsamkeit. Seinen Lamas aus dem Osten und seinen zumeist französischen und amerikanischen Anhängern, die versuchten sein Vorbild nachzuahmen, obwohl es ihnen sowohl an Charisma als auch an meditativen Fähigkeiten und Einsicht fehlte, gelang

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