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hörte, wie die Heckklappe geöffnet wurde, die ihr anschließend die Sicht auf ihn nahm.

      Da sie ihn nicht mehr sehen konnte, lauschte sie auf die Geräusche, die an ihr Ohr drangen. Sie stellte sich dabei vor, was er tat, während sie ebenfalls den Sicherheitsgurt löste und sich bequemer hinsetzte. Sie hörte, wie der Korken aus der Flasche entfernt wurde. Dann ertönte ein Klirren, als die Flasche beim Einschenken gegen einen Glasrand stieß. Anschließend hörte sie eine Weile nichts mehr, während er vermutlich die Gläser füllte und warten musste, bis sich der Schaum legte und er nachfüllen konnte.

      Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, tauchte Johannes wieder neben der Fahrertür auf. Er hatte die Kofferraumklappe offen gelassen, weil er in jeder Hand ein gefülltes Sektglas hielt. Eins der Gläser stellte er aufs Dach, um die Tür öffnen zu können. Er beugte sich nach innen und reichte ihr das andere Glas.

      »Vorsichtig«, warnte er sie. »Es ist leider etwas zu voll geworden.«

      Nadine nahm das Glas, das ganz nass war, weil ein Teil der Flüssigkeit übergelaufen war. Sie hielt es so, dass die Tropfen nicht auf ihrer Hose, sondern auf der Fußmatte landeten.

      Johannes holte sein eigenes Glas, das nicht annähernd so voll war, vom Wagendach. Er nahm wieder hinter dem Steuer Platz und schloss die Tür.

      »Prost«, sagte er und streckte ihr sein Glas entgegen.

      Die Gläser stießen mit einem dumpfen Klirren gegeneinander. Der Sekt in Nadines Glas schwappte über. Die klebrige Flüssigkeit lief über ihre Finger und tropfte auf die Ablage zwischen den Vordersitzen. »Ups!«

      »Macht nichts.«

      »Worauf trinken wir überhaupt?«

      »Darauf, dass sich unsere Wege gekreuzt und unsere Schicksale ineinander verflochten haben. Und auf die Opfer, die wir allesamt zu erbringen bereit sind.«

      Welche Opfer?

      Doch da setzte Johannes sein Glas an und nahm einen großen Schluck. Nadine behielt die Frage für sich und folgte rasch seinem Beispiel. Sie hatte Durst und leerte das halbe Glas in einem Zug, bevor sie es wieder absetzte. Der Sekt schmeckte erstaunlich gut. Ihrer Meinung nach war es keiner von der billigen Sorte.

      »Und jetzt trinken wir auf dich und das, was dich in diesem Leben noch erwartet«, sagte Johannes, ohne ihr eine Pause zu gönnen. Er stieß sein Glas erneut gegen ihres. Wenigstens konnte jetzt nichts mehr überlaufen.

      Sie trank aus und spürte bereits, wie ihr der Alkohol zu Kopf stieg. Die unzähligen Bläschen in der Flüssigkeit sorgten dafür, dass er wesentlich rascher in ihrem Blutkreislauf verteilt wurde. Außerdem hatte sie kaum etwas gegessen. Und vermutlich vertrug sich der Sekt auch nicht unbedingt mit dem Schmerzmittel, das seine Wirkung wahrscheinlich noch verstärkte. Wenn sie die Packungsbeilage gelesen hätte, wüsste sie jetzt, wie sich der Konsum von Alkohol auf das Analgetikum auswirkte. Andererseits war es auch nicht so wichtig. Schließlich hatte sie nicht vor, heute noch ein Fahrzeug zu lenken oder irgendwelche Maschinen zu bedienen. Davor wurde in den Beipackzetteln von Medikamenten oft ausdrücklich gewarnt.

      Der Schmerz in ihrem Kopf wurde wieder intensiver, als hätte der Sekt den bis dahin schlummernden Mr. Tumor aufgeweckt.

      Johannes nahm ihr das leere Glas aus der Hand. Er stellte es zusammen mit seinem eigenen auf die Mittelkonsole.

      »Wie fühlst du dich?«, fragte er.

      Erneut hatte Nadine das Gefühl, etwas Lauerndes aus seiner Stimme herauszuhören. Sie richtete ihre Augen auf ihn. Ihre Sicht war verschwommen. Es war, als würde sie ihn durch eine beschlagene Scheibe ansehen. Außerdem schienen sich ihre Augen nicht mehr synchron zueinander zu bewegen, sondern wie bei einem Chamäleon in unterschiedliche Richtungen zu blicken.

      »Wasch …?« Ihre Zunge fühlte sich wie ein Fremdkörper in ihrem Mund und übergroß an, sodass sie nicht mehr richtig sprechen konnte.

      »Im Sekt war Flunitrazepam«, sagte er unvermittelt.

      Sie versuchte angestrengt, ihn deutlicher zu erkennen, und blinzelte, um ihre Sicht zu klären. Doch es wurde eher noch schlechter. Außerdem wurde ihr jetzt auch schwindelig. Sie hatte das Gefühl, der Wagen, in dem sie saßen, würde sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreis drehen, als säßen sie in einem bescheuerten Karussell.

      »Waschn … Flumi …?«

      »Flu…ni…tra…ze…pam«, korrigierte Johannes. Er machte fünf Wörter daraus, indem er es Silbe für Silbe überdeutlich aussprach. »Das ist ein geruch- und geschmackloses Sedativum. Alkohol kann seine Wirkung verstärken. Außerdem kann es zu Gedächtnislücken führen. Aber darüber musst du dir keine Gedanken machen.«

      Nadine schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch die zunehmende Benommenheit abschütteln.

      Geruch- und geschmacklos? Sedativum? Gedächtnislücken? Was faselte er da nur?

      Johannes sah auf die Uhr im Armaturenbrett des Wagens. »Die volle sedative Wirkung des Mittels sollte in spätestens fünfzehn Minuten einsetzen.«

      »Wa…rum?« Es kostete Nadine unendlich viel Mühe, auch nur dieses eine Wort halbwegs verständlich auszusprechen.

      »Warum?«, wiederholte Johannes in einem ebenso fragenden Tonfall, als wüsste er die Antwort darauf selbst nicht. »Hmm. Lass mich kurz überlegen. Es würde vermutlich zu lange dauern und zu weit führen, dir alle Einzelheiten zu erläutern. Abgesehen davon, dass du es in deinem gegenwärtigen Zustand ohnehin nicht verstehen würdest. Aber so viel kann ich dir zumindest verraten: Du wurdest von Gott auserwählt, ein gewaltiges Opfer zu bringen, um die Menschheit vor der ewigen Verdammnis zu retten. Darauf kannst du stolz sein. Denn indem Gott dafür sorgte, dass sich unsere Wege im richtigen Moment kreuzten, wird dein unvermeidlicher Tod durch den Tumor in deinem Kopf nicht vergebens sein. Stattdessen wird er allen gläubigen Christen dienen.«

      Er sprach in Rätseln. Sie verstand nicht, was er ihr damit sagen wollte. Er hatte schon einmal von einem Opfer gesprochen. Aber was meinte er damit?

      Johannes seufzte, als hätte er erkannt, dass Nadine ihn nicht verstand oder an ihm und seinen lauteren Absichten zweifelte.

      »Es ist auch zu deinem eigenen Besten«, sagte er so eindringlich wie ein Versicherungsvertreter, der eine Unterschrift unter ein überteuertes Rundum-Sorglos-Versicherungspaket haben wollte. »Denkst du vielleicht, mir macht es Spaß, dich zu quälen und zu töten? Natürlich nicht! Aber wir müssen alle ein Opfer bringen. Auch ich! Außerdem würde dich der Tumor ohnehin früher oder später umbringen. Aus diesem Grund bist du das perfekte Opfer. Der Tod, den ich dir schenke, wird dich von deinen Qualen erlösen.«

      Töten!

      Das Wort hallte wie ein Donnerschlag durch Nadines benebelten Verstand. Alles andere, was er gesagt hatte, hatte sie nicht mehr verstanden. Doch dieses eine Wort war zu ihr durchgedrungen und hatte sie geradezu elektrisiert.

      Er will mich töten! Aber warum?

      Vor gar nicht allzu langer Zeit hatte sie noch selbst mit dem Gedanken gespielt, ihrem Leben ein rasches Ende zu bereiten, bevor der Tumor sie langsam und qualvoll umbrachte. Aber jetzt, nachdem sie wieder neue Hoffnung geschöpft hatte, wollte sie nicht mehr sterben. Denn auch wenn die Erfolgsaussichten verschwindend gering waren, bestand immerhin die Chance, dass die Kombination aus Bestrahlung und Chemo dem Tumor den Garaus machte.

      Nadine blinzelte und sah wieder etwas klarer. Noch wirkte das Sedativum mit dem unaussprechlichen Namen nicht hundertprozentig, sondern machte sie nur benommen und schwindelig. Doch je länger sie wie ein verängstigter Hase im Scheinwerferlicht verharrte, desto hilfloser würde die Droge sie machen. Bis sie schließlich das Bewusstsein verlor und Johannes mit ihr machen konnte, was er wollte. Also musste sie sofort handeln, wenn sie überhaupt noch eine Chance haben wollte, ihr Leben zu retten.

      Neue Energie erfüllte sie, als ihr Körper aufgrund ihrer Panik eine große Menge Adrenalin ausschüttete. Zum Glück war sie nicht mehr angeschnallt, sonst wäre ihre Flucht gescheitert, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Sie langte nach

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