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      Manchmal erwachte sie dennoch in der Hoffnung, dies alles – das kistenartige Verlies, ihr Peiniger und die Schmerzen – wäre nur ein böser Traum. Doch sobald der Schmerz, ihr treuer Begleiter, sich zurückmeldete, zerbrach die Hoffnung wie ein Spiegel in hunderttausend Scherben.

      Anfangs hatte sie sich noch gegen ihr Schicksal aufgelehnt. Sie hatte an ihren Fesseln gezerrt, bis ihre Hand- und Fußgelenke geblutet hatten. Und sie hatte geschrien, bis sie vor Heiserkeit keinen Ton mehr herausbrachte. Aber irgendwann hatte sie einsehen müssen, dass sie damit nur ihre Kraft verschwendete, und sich in ihr Schicksal ergeben. Inzwischen war sie zu kraftlos, um etwas anderes zu tun, als auf den Tod zu warten. In welcher Form auch immer er zu ihr kam.

      Sie war sogar schon so weit, dass sie sich beim Einschlafen jedes Mal wünschte, sie würde nicht mehr aufwachen. Dann hätte diese Tortur endlich ein Ende. Ein Dasein ohne Schmerzen konnte sie sich schon gar nicht mehr vorstellen. Deshalb begrüßte sie alles, was ihnen ein Ende bereiten würde. Und wie schön wäre es, Johannes am Schluss ein Schnippchen zu schlagen, weil die Geschwulst in ihrem Kopf, die für ihre Kopfschmerzen verantwortlich war, sie tötete, bevor er sie umbringen konnte. Besser könnte sie sich nicht an ihm rächen.

      Doch zu ihrer grenzenlosen Enttäuschung wachte sie, so wie heute, jedes Mal erneut auf, um einen weiteren Tag voller Schmerzen und Qualen zu erdulden, bis Johannes sich endlich ihrer erbarmte und sie tötete.

      III

      Wie lange sie schon hier war, wusste Nadine nicht. Sie hatte schon frühzeitig jegliches Zeitgefühl verloren. Sogar Mr. Tumor schien verwirrt zu sein. Vor ihrer Gefangenschaft hatte er sie vor allem nachts und am frühen Morgen am heftigsten geplagt. Jetzt wütete er vierundzwanzig Stunden am Tag, als wollte er damit seinen eigenen Unmut über die Situation zum Ausdruck bringen.

      Nadine war sich darüber bewusst, dass sie der Geschwulst zu viele menschliche Eigenschaften und Charaktermerkmale verlieh. Nach einer Weile hatte sie sogar angefangen, sich mit ihr zu unterhalten. Inzwischen behandelte sie den Tumor beinahe wie einen Mitgefangenen. Aber schließlich war er die einzige verlässliche Gesellschaft, die sie an diesem furchtbaren Ort hatte.

      Sie stellte sich vor, dass die Geschwulst in ihrem Kopf ebenfalls Hunger litt. Immerhin ernährte sie sich wie ein Parasit von ihrem Wirt. Und wenn Nadine kaum noch zu essen bekam, musste auch der Tumor sich einschränken und fasten. Das einzig Positive daran war, dass er nicht mehr so schnell wachsen konnte wie früher. Vielleicht war sie nur deshalb noch immer am Leben.

      Doch was genau hatte Johannes mit ihr vor? Er hatte gesagt, er wollte sie für die Rettung der Menschheit opfern. Aber wie das vonstattengehen sollte, hatte er ihr nicht verraten. Anfangs hatte sie noch vermutet, er wollte sie verhungern lassen. Doch bevor sie tatsächlich vor Hunger sterben konnte, gab er ihr zu essen. Wenn auch nur so viel, dass sie nicht verhungerte.

      Aber was plante er dann?

      Der Verschlag, in dem sie sich schon seit einer gefühlten Ewigkeit befand, wurde von einem Nachtlicht erhellt. Es brannte Tag und Nacht, sodass sie nie wusste, welche Tageszeit gerade herrschte. Außerdem gab es eine Lüftung, deren stetiges Summen sie kaum noch wahrnahm. Der Raum schien darüber hinaus schallgedämpft zu sein, denn von draußen drang kein Geräusch durch die Wände. Daher hatte sie manchmal den Eindruck, um sie herum existierte nichts mehr und die Holzkiste, in der sie steckte, schwebte wie eine winzige Raumstation einsam im Weltall.

      Wenn Johannes zu ihr kam, bemerkte sie es erst, sobald er den Riegel an der Tür zur Seite schob, denn sie hörte vorher nie seine Schritte. Deshalb konnte sie auch nicht sagen, wo sich der Verschlag befand. Sie mutmaßte allerdings, dass er in einem der Gebäude des einsamen Gehöfts stand. Entweder im Keller des Bauernhauses, im Stall oder in der windschiefen Scheune.

      Selbst wenn die Kiste nicht schallisoliert gewesen wäre, hätte in dieser gottverlassenen Gegend niemand ihre Schreie gehört, mit denen sie anfangs noch versucht hatte, jemanden auf sich aufmerksam zu machen. In den ersten Tagen hatte sie sich regelmäßig heiser geschrien. Bis ihr aufgefallen war, dass auch keinerlei Geräusche von draußen an ihr Ohr drangen. Gleichwohl hatte sie noch eine Weile trotzig damit weitergemacht. Bis sie sich schließlich eingestehen musste, dass es sinnlos war. Aber da wurde sie ohnehin allmählich zu schwach, um ihre wenige Energie noch länger mit Schreien zu vergeuden.

      Nadine erschrak nicht, als urplötzlich der Riegel zurückgeschoben und damit Johannes’ Ankunft angekündigt wurde. Sogar dafür fehlte ihr die Kraft. Da sie weder die Tages- noch die Uhrzeit kannte, wusste sie nicht, ob er kam, um den Eimer auszuleeren oder ihr Wasser und Zwieback zu bringen. Dennoch kam ihr sein Auftauchen aus irgendeinem Grund merkwürdig vor.

      Sie hob mühsam die Augenlider, die sich anfühlten, als wären schwere Gewichte daran befestigt, bis sie aus schmalen Schlitzen dabei zusehen konnte, wie sich die niedrige Tür nach außen öffnete. Johannes kam gebückt herein und kauerte sich weniger als einen halben Meter von ihr entfernt nieder. Sie hätte aufspringen und die Hände um seinen Hals legen können, wenn sie die Kraft dazu besessen hätte. Die Ketten ließen ihr genug Spielraum. Doch ihr ausgemergelter, kraftloser Körper war dazu nicht länger in der Lage.

      Wie immer lächelte Johannes gütig. Als wäre er tatsächlich der Geistliche, der er gern geworden wäre, und sie eins seiner Schäfchen, das von ihm den priesterlichen Segen erhoffte. Seine sanften Augen sahen sie voller Anteilnahme an. Dann wanderte sein Blick an ihrem nackten Körper entlang. Allerdings nicht begehrend oder lüstern. Was er sah, schien ihm Unbehagen zu bereiten, denn er verzog das Gesicht. Aber nicht vor Ekel, sondern so, als würde er ihr Leid und ihre Qualen nachempfinden können.

      Nadine hatte geahnt, dass sein heutiger Besuch etwas Besonderes war und aus dem Rahmen des Üblichen fiel. Und als sie jetzt sah, was er in der Hand hielt, wurde ihre Ahnung bestätigt.

      Sie hatte sich während ihrer Gefangenschaft unzählige Male gefragt, auf welche Art und Weise er sie töten würde. Dabei hatte sie zahlreiche Szenarien in Gedanken durchgespielt. So hatte sie sich unter anderem vorgestellt, dass er mit einem Messer, einer Pistole oder einem Seil in der Hand zu ihr kommen würde, um sie zu erstechen, zu erschießen oder zu erdrosseln. Keine dieser Vorstellungen war ausgesprochen angenehm gewesen.

      Doch stattdessen hatte er nun eine Spritze dabei. Sie war mit einer farblosen Flüssigkeit gefüllt.

      Das passte auch eher zu ihm. Denn obwohl er ihr angekündigt hatte, dass er sie ermorden würde, war er nicht der Typ, der zu sinnloser Grausamkeit oder Brutalität neigte. Er tötete sie nicht, um einen Trieb zu befriedigen, oder weil er es wollte. Er tat es, weil er es für seine heilige Pflicht hielt. Auch wenn sie die Gründe dafür nicht kannte und daher auch nicht nachvollziehen konnte.

      »Heute ist endlich dein großer Tag gekommen.« Er klang ihrer Meinung nach mehr denn je wie ein Priester. Allerdings vermied er es weiterhin, sie beim Namen zu nennen.

      Nadine hob den Kopf ein wenig und unterdrückte dabei ein Stöhnen.

      Er erwiderte ihren Blick und lächelte gütig. »In wenigen Minuten ist deine Leidenszeit zu Ende. Gott, der allmächtige Herr, wird dich zu sich holen.«

      Er hob die Spritze und klopfte dagegen, damit die winzigen Luftbläschen nach oben stiegen. Anschließend drückte er mit dem Daumen auf den Kolben, sodass die Luft und ein kleiner Teil des Inhalts durch die Kanüle entweichen konnten. Er kam ein Stück näher, ergriff mit der freien Hand ihren linken Arm und suchte nach einer Vene. Er musste nicht lange suchen. Sie war so abgemagert, dass die Adern und Venen an ihrem Körper deutlich hervortraten. Er setzte die Spritze an und stach die Kanüle durch die Haut.

      Der Stich war schmerzhafter, als sie Derartiges in Erinnerung hatte. Aber vielleicht war sie während der Gefangenschaft und durch das Abmagern auch nur empfindlicher geworden. Sie zuckte zusammen und seufzte.

      »Was ist das?« Ihre Stimme war nur ein Hauch, kaum mehr als ein heiseres Flüstern. Entweder hatte sie sich durch die Schreierei am Anfang ihrer Gefangenschaft die Stimmbänder ruiniert, oder sie waren geschrumpft wie nahezu alles andere an ihr außer ihren Knochen.

      Nadine befürchtete, Johannes hätte sie nicht gehört. Sie wollte ihre

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