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wenn sie ihm damit einen Gefallen tat, wollte sie seiner Bitte gern nachkommen. Schließlich gab er sich ebenfalls viel Mühe, um ihr eine Überraschung zu bereiten und sie auf andere Gedanken zu bringen.

      Als sie das Haus verließ, sah sie sich in alle Richtungen um, doch es war niemand in der Nähe. Sie kam sich vor wie ein Geheimagent in einem schlechten Film. Unwillkürlich musste sie kichern. Ihr wurde bewusst, dass es sich um das erste Zeichen echten Humors handelte, seit sie die Diagnose bekommen hatte. Vermutlich war das der eigentliche Grund, warum Johannes darauf bestanden hatte. Wenn sie sich dabei lächerlich vorkam, musste sie über sich selbst lachen und fühlte sich sofort besser. Er sollte sich diese Behandlungsmethode patentieren lassen. Damit könnte er ein Vermögen verdienen.

      Es war bereits dunkel. Auf dem Gehsteig vor dem Haus waren kaum Passanten unterwegs. Nadine hielt dennoch den Kopf gesenkt. Sie kam an ihrem Auto vorbei, das sie am Straßenrand geparkt hatte, ließ es aber stehen. Johannes wollte sie in der Nähe mit seinem Wagen abholen. Bis zur vereinbarten Zeit waren es noch fünfzehn Minuten. Doch es war nicht weit bis zum Treffpunkt. Nadine musste lediglich zweimal abbiegen und insgesamt weniger als einen halben Kilometer laufen. Dann hatte sie den Spielplatz erreicht, der um diese Uhrzeit verlassen war. Sämtliche Kinder, die sonst hier spielten, waren zu Hause und lagen teilweise schon in ihren Bettchen.

      Nadine sah auf die Uhr. Sie war zu früh dran. Um nicht gesehen zu werden, stellte sie sich hinter den Stamm eines Kastanienbaums. Von dort behielt sie die Straße im Auge. Sobald ein Scheinwerferpaar auftauchte, beobachtete sie den Wagen erwartungsvoll. Doch jedes Auto fuhr am Spielplatz vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln.

      Nach dem tröstenden Gespräch mit Johannes im Café und der Zusage, ihn am späten Abend hier zu treffen, war Nadine mit der U-Bahn nach Hause gefahren. Sobald sie allein war, kam es ihr so vor, als wäre das Schicksal, zu dem der Gehirntumor sie verdammte, zu schwer, als dass sie es allein ertragen könnte. Sie fühlte sich, als wäre der Tumor in ihrem Kopf zentnerschwer und würde sie niederdrücken. Gleichzeitig hatte sie das Empfinden, er wäre so groß, dass er sogar die Sonne verdunkelte und ihr Leben überschattete. Aber sie wollte nicht ständig an die Geschwulst denken, die sich wie ein Parasit heimtückisch in ihrem Gehirn eingenistet hatte und von ihr nährte. Und auch nicht an die furchtbaren Konsequenzen, die sich daraus für sie ergaben. Deshalb richtete sie ihre Gedanken stattdessen auf Johannes und fühlte sich augenblicklich besser. Sie vergegenwärtigte sich seinen teilnahmsvollen Blick, seine zärtliche, tröstliche Berührung und seine warmen, einfühlsamen Worte. Und sofort hatte der Tumor weniger Macht über sie und ihr Leben.

      Obwohl sie keinen Hunger hatte, machte sie sich am Abend einen Salat. Wie ein wählerischer Vogel pickte sie appetitlos mit der Gabel darin herum, während sie im Fernsehen die Nachrichten verfolgte. Die Meldungen von Krieg, Flüchtlingen und Terrorismus waren ihr vor Kurzem noch furchtbar und weltbewegend erschienen. Nun, im Angesicht ihres eigenen Schicksals, kamen sie ihr viel unbedeutender und nichtssagender vor. Deshalb schaltete sie den Fernseher bald wieder aus und warf den größten Teil des Abendessens in den Biomüll.

      Kurze Zeit später rief ihre Mutter an und fragte, wie es Nadine gehe. Sie hatte ihrer Mutter von den Kopfschmerzen und der Übelkeit erzählt. Doch die Besuche beim Neurologen und in der radiologischen Praxis hatte sie für sich behalten. Sie hatte ihre Mutter, die bereits einen leichten Herzinfarkt hinter sich hatte, nicht grundlos beunruhigen wollen. Für einen winzigen Moment verspürte sie jetzt das Bedürfnis, ihr alles zu erzählen. So wie sie sich schon als kleines Mädchen alles Belastende von der Seele geredet und sich hinterher besser gefühlt hatte. Aber dann ließ sie es doch bleiben. Ihre Mutter würde sich nur Sorgen machen und sich aufregen. Und das wäre gar nicht gut für sie und ihr angeschlagenes Herz. Außerdem handelte es sich hierbei nicht um kindliche Sorgen und Ängste, die allein dadurch besser wurden, dass man sich Mami oder Papi anvertraute. Der Tumor würde sich davon nicht beeindrucken lassen und auch keinen Millimeter kleiner werden. Im Übrigen hatte Johannes ihr empfohlen, ihrer Mutter, die seit dem Tod ihres Mannes allein lebte, vorerst nichts von der Diagnose zu erzählen. Auch ihn sollte sie fürs Erste unerwähnt lassen, bis der richtige Zeitpunkt gekommen wäre, dass sie einander kennenlernten. Also sagte Nadine ihrer Mutter, dass es ihr gut gehe und die Tabletten, die der Arzt ihr verschrieben hatte, die größten Beschwerden linderten.

      Nach dem Gespräch mit der Mutter hatte Nadine das Bedürfnis, mit ihrer besten Freundin Anne zu sprechen. Seit Anne geheiratet und in kurzer Zeit drei Kinder zur Welt gebracht hatte, trafen sie sich nur noch selten. Sie telefonierten allerdings mehrere Male pro Woche miteinander und erzählten sich wie als Teenager weiterhin alles, was sie erlebt hatten und was sie beschäftigte.

      Es tat Nadine gut, die Stimme ihrer Freundin zu hören. Sie hörte sich deren Klagen über die Kinder an und tat, als würde es sie interessieren. Aber als Anne auf die Kopfschmerzen und die Übelkeit zu sprechen kam, von denen ihr Nadine erzählt hatte, wiegelte sie ab und sagte, es gehe ihr schon wieder viel besser. Doch Anne kannte sie zu gut, um sich damit zufriedenzugeben.

      »Was ist los, Nadine?«

      »Wieso? Was soll los sein?«

      »Ich kenne dich inzwischen gut genug. Deshalb weiß ich, dass du mich nicht nur angerufen hast, um dir meine Geschichten über die drei kleinen Monster anzuhören, die sich wie meine Kinder verkleidet haben. Also rück schon raus mit der Sprache! Was hast du auf dem Herzen?«

      »Nichts. Ich …«

      »Lüg mich bitte nicht an! Du weißt doch, dass ich ein menschlicher Lügendetektor bin. Ich kann es fühlen, wenn du mich anlügst. Dann stellen sich sofort die Härchen auf meinen Armen und in meinem Nacken auf. Also erzähl mir endlich die Wahrheit. Geht es etwa um einen Kerl? Du klingst, als wärst du verliebt.«

      Nadine atmete erleichtert auf. Wenigstens ahnte Anne nicht, was wirklich in ihr vorging. Und was schadete es schon, wenn sie ihrer besten Freundin gegenüber ein paar Andeutungen machte, ohne allzu sehr ins Detail zu gehen.

      »Verliebt wäre zu viel gesagt.«

      »Dann hatte ich also recht? Es geht um einen Mann. Jetzt erzähl schon! Wie heißt der Typ? Wo hast du ihn kennengelernt? Und hat er zufällig einen Zwillingsbruder, der sich gern mit einer dreifachen alleinerziehenden Mutter treffen würde, die allmählich ein bisschen aus dem Leim geht?«

      Normalerweise hätte Nadine über Annes scherzhafte Art, mit ihren Problemen umzugehen, gelacht. Sie und ihr Mann hatten sich vor Kurzem getrennt. Außerdem hatte Anne in letzter Zeit tatsächlich zugenommen. Doch der Schmerz in ihrem Kopf, der gegen Abend intensiver wurde, ließ sie stattdessen gequält das Gesicht verziehen. Darüber hinaus kamen ihr Annes Probleme angesichts dessen, was sie heute erfahren hatte, wie Peanuts vor.

      Nadine beschloss, unmittelbar nach dem Telefonat mit ihrer Freundin eine der Tabletten zu nehmen, die der Neurologe ihr verschrieben hatte.

      »Was soll die Geheimniskrämerei?«, fragte Anne, nachdem ihre Freundin nicht auf ihre Fragen geantwortet hatte, und unterbrach damit Nadines Überlegungen. »Wir sind doch beste Freundinnen und sollten uns daher alles erzählen.«

      Nadine seufzte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Anne anzurufen. Außerdem wurde das Stechen in ihrem Schädel so bohrend, dass sie kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte. Aber nachdem sie Annes Neugier geweckt hatte, musste sie ihr einen Knochen hinwerfen, auf dem sie herumkauen konnte, um sie zufriedenzustellen. Anne war wie ein Pitbull. Wenn sie sich in etwas verbissen hatte, ließ sie nicht mehr los.

      »Er heißt Johannes.« Nadine schloss die Augen. Der Kopfschmerz war dann leichter zu ertragen. Ihr wurde ein bisschen schwindelig. Deshalb war sie froh, dass sie auf der Couch saß. So konnte sie wenigstens nicht umfallen und sich einen Knochen brechen. Das hätte ihr zu ihrem sonstigen Pech heute gerade noch gefehlt und das Fass zum Überlaufen gebracht.

      »Ist das alles?«, fragte Anne enttäuscht.

      »Ich … Ich kenne ihn kaum. Wir haben uns erst zweimal getroffen und uns ein wenig unterhalten. Mehr war da nicht. Aber … er ist sehr nett.«

      »Und? Seht ihr euch wieder?«

      Nadine zuckte mit den Schultern. »Mal sehen«, sagte sie unbestimmt, weil

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