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hat in diesem Augenblick die bitterste Kälte zu leiden! Uebrigens auch herrliches Gesindel, die Thénardiers! Diese Unglücklichen alle sollte ich also im Stich lassen! Und gesetzt auch, ich beginge ein Unrecht, ich setzte mich Gewissensbissen aus, so würde ich mir ein großes Verdienst erwerben, indem ich, um das Wohl Anderer zu fördern, mit einer schlechten Handlung mein Seelenheil gefährdete!«

      Mit diesen Worten, stand er auf und ging wieder im Zimmer hin und her. Dies Mal glaubte er mit sich zufrieden zu sein.

      Wie man die Diamanten nur in den Tiefen der Erde findet, so entdeckt man auch die Wahrheit nur, wenn man ihr lange und fleißig nachgräbt. So glaubte auch Madeleine jetzt, nachdem er so lange gegrübelt, endlich die Wahrheit zu Tage gefördert zu haben, und freute sich an dem blendenden Glanze des herrlichen Kleinodes.

      »Ja ja, dachte er, so ist's richtig. Das Problem ist gelöst. Ich weiß jetzt, woran ich mich zu halten habe. Jetzt nicht mehr gewankt und geschwankt! Das Interesse Aller erheischt es so, nicht das meinige. Ich bin Madeleine und will Madeleine bleiben. Wehe Dem, der Jean Valjean ist! Ich bin's nicht mehr! Ich kenne den Menschen nicht, weiß nicht, wer er ist. Fügt es sich jetzt so, daß Einer Jean Valjean heißt, so mag er zusehen, wie er fertig wird. Mich geht das nichts an. Es ist nun einmal ein Unglücksname, der herrenlos in der Luft schwebt, und fällt er auf irgend Jemand herab, so kann ich es nicht ändern!«

      Er besah sich in dem kleinen Spiegel, der über dem Kamin hing und sagte:

      »Sieh' da! Der Entschluß hat mir Erleichterung verschafft. Ich sehe jetzt weit besser aus.«

      Wieder that er einige Schritte und blieb dann stehen: »Vorwärts! Jetzt heißt es, die Konsequenzen des gefaßten Entschlusses ziehen. Noch giebt es Fäden, die mich mit Jean Valjean verbinden! Die muß ich zerschneiden! In eben diesem Zimmer befinden sich noch Gegenstände, die mich anklagen, stumme Zeugen, die gegen mich aussagen könnten. Die müssen vernichtet werden!«

      Er griff in seine Tasche, holte seine Börse heraus und entnahm ihr einen kleinen Schlüssel.

      Diesen steckte er in ein Schlößchen, das durch ein dunkles Feld der Tapete fast ganz bedeckt und kaum sichtbar war, und öffnete eine kleine Thür zu einem versteckten Wandschrank. Es befanden sich darin nur einige zerlumpte Kleidungsstücke, ein blauer Leinwandkittel, ein paar alte Beinkleider, ein alter Tornister und ein an beiden Enden mit Eisen beschlagener Knotenstock. Die Jean Valjean im Oktober des Jahres 1815 in Digne gesehen hatten, würden leicht die verschiedenen Stücke dieser elenden Ausrüstung wieder erkannt haben.

      Er hatte sie, wie die Leuchter, zur Erinnerung an seinen Ausgangspunkt aufbewahrt, mit dem Unterschiede, daß er, was er aus dem Zuchthaus mitgebracht, versteckte, und das Geschenk des Bischofs sehen ließ.

      Nun warf er einen verstohlenen Blick nach der Thür, als fürchtete er, sie könnte, trotzdem der Riegel vorgeschoben war, sich öffnen; dann raffte er hastig Alles zusammen, ohne alle diese Gegenstände, die er so lange Jahre so sorgsam und mit so viel Gefahr aufbewahrt hatte, auch nur eines Blickes zu würdigen und warf alles in's Feuer.

      Dann verschloß er wieder den Wandschrank und schob mit durchaus überflüssiger Vorsicht – denn der Versteck war ja jetzt seines Inhalts entleert – ein schweres Möbel vor.

      Nach Verlauf einiger Sekunden erhellte das Zimmer und das gegenüberliegende Haus ein grelles rothes Flammenfeuer. Alles brannte. Der Knotenstock knisterte und sprühte bis in die Mitte des Zimmers helle Funken.

      In der Asche, die der verbrannte Tornister nebst den darin enthaltenen greulichen Lumpen zurückließ blieb etwas Glänzendes zurück, ein Geldstück, wahrscheinlich das dem Savoyarden gestohlene Zweifrankenstück.

      Er aber beachtete nicht das Feuer, sondern ging mit gleichen Schritten auf und nieder.

      Plötzlich blieben seine Augen an den beiden silbernen Leuchtern haften, die vom Wiederschein des Feuers matt erglänzten.

      »Halt! dachte er. Das genügt Jean Valjean zu verderben. Das muß auch weg.«

      Das Feuer im Kamin war stark genug, die Leuchter in eine unförmliche Masse umzuschmelzen.

      Er bückte sich und wärmte sich einen Augenblick, was ihm wohl that. »Wie gemüthlich solch' ein Feuer ist!« dachte er.

      Dann rührte er in der Kohlengluth mit einem der Leuchter herum und warf sie dann beide in die Flammen.

      In dem Augenblick war es ihm, als rufe in seinem Innern eine Stimme:

      »Jean Valjean! Jean Valjean!«

      Die Haare standen ihm zu Berge. Er hörte mit Entsetzen zu.

      »So ist's recht! So fahre fort! rief die Stimme. Vollende dein Werk! Vernichte dieses Andenken! Vergiß den Bischof! Vergiß Alles! Verderbe Champmathieu! Sehr gut! Darauf kannst Du stolz sein. Die Sache ist also entschieden beschlossen, abgemacht! Der alte Mann, der nicht weiß, was man von ihm will, der vielleicht nichts Böses gethan, ein Unschuldiger, den dein Name in's Unglück stürzt, auf dem dein Name wie ein Verbrechen lastet, soll an deiner Statt verurtheilt werden, soll sein Leben in Jammer und Elend beschließen! Sehr schön! Bleibe der Herr Bürgermeister, bleibe ein ehrenwerthes und geehrtes Mitglied der guten Gesellschaft, mache die Stadt reich, ernähre die Bedürftigen, erziehe Waisen, sei glücklich, tugendhaft und bewundert. Während Du hier im Lichte und in Freuden lebst, wird ja Einer mit Schande für dich die rothe Jacke tragen, deine Kette herumschleppen! So ist es schön eingerichtet! O Du Nichtswürdiger!«

      Der Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er starrte entsetzt die Leuchter an. Aber die Stimme in ihm fuhr fort:

      »Jean Valjean! Es werden sich um dich viel Stimmen erheben, die dich preisen und segnen werden, und nur eine, die Niemand hören, und dich im Dunkel der Verborgenheit verfluchen wird! Nun höre, Du Elender: All die Segenswünsche werden, ehe sie den Himmel erreichen, wieder zurückfallen, und nur der Fluch wird zu Gott emporsteigen!«

      Diese – anfänglich schwache – Stimme seines innersten Gewissens war allmählich so gewaltig und schrecklich geworden, daß er sie mit seinem äußeren leiblichen Ohr zu hören glaubte, und sich bei den letzten Worten erschrocken umwandte:

      »Ist Jemand hier?« fragte er laut.

      Gleich darauf lachte er wie ein Idiot.

      »Bin ich dumm! Es kann ja Niemand hier sein.«

      Es war doch Einer da, Einer, den Menschenaugen nicht wahrnehmen können.

      Er stellte die Leuchter auf das Kamingesims.

      Dann nahm er den eintönigen Marsch im Zimmer wieder auf, der den in ihm schlafenden Menschen aus seinen Träumen aufschreckte.

      Die körperliche Bewegung that ihm wohl und berauschte ihn zu gleicher Zeit. Es ist, als empfinde man bisweilen in der höchsten Seelenangst das Bedürfniß, alles Mögliche, was man bei einem Gange auf seinem Wege sieht, um Rath zu fragen. Aber nach Verlauf weniger Sekunden wußte Madeleine nicht mehr, wie er bekehrt war.

      Jetzt flößten ihm alle beiden Alternativen gleichen Schrecken ein. Welch ein fürchterlicher Zufall! Daß dieser Champmathieu mit einem Mal auftauchen und mit ihm verwechselt wurde! Daß er gerade durch das Mittel, das die Vorsehung anfänglich zu seiner Sicherung gebraucht hatte, jetzt zu Fall gebracht wurde!

      Es trat ein Augenblick ein, wo er sich die Zukunft ausmalte. Großer Gott! Wie würde das werden, wenn er sich den Gerichten auslieferte! Mit grenzenloser Verzweiflung zählte er sich Alles auf, was er verlassen und was er wieder aufnehmen sollte. Es handelte sich also darum, dem angenehmen, schönen, glänzenden Dasein, das er geführt hatte, der allgemeinen Achtung, der Ehre, der Freiheit Lebewohl zu sagen! Er sollte nicht mehr auf den Feldern lustwandeln, die Vöglein im Monat Mai nicht mehr singen hören, die Kinder nicht mehr mit Almosen beglücken können! Er sollte nicht mehr die Annehmlichkeit der liebevollen und dankbaren Blicke empfinden, die ihm zu folgen pflegten! Er sollte das Haus, das er gebaut, sein trauliches Zimmer für immer verlassen! Jetzt gefiel ihm Alles so sehr! Er würde nicht mehr in seinen Büchern lesen, nicht mehr an dem kleinen Schreibtisch arbeiten. Die alte Portierfrau würde ihm nicht mehr des Morgens seinen Kaffee heraufbringen.

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