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Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo
Читать онлайн.Название Les Misérables / Die Elenden
Год выпуска 0
isbn 9783754173206
Автор произведения Victor Hugo
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Madeleine hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Während sie sprach, hatte er in seine Westentasche gegriffen, seine Börse hervorgelangt und sie geöffnet. Sie war leer, und er hatte sie wieder eingesteckt. Nun fragte er Fantine: »Wie viel haben Sie gesagt, daß Sie schuldig sind?« Fantine, die bisher immer Javert angesehen hatte, drehte sich nach ihm um mit den Worten:
»Wer redet denn mit Dir!«
Dann wandte sie sich an die Schutzleute:
»Haben Sie gesehen, wie ich dem – hast Du nicht gesehen? – ins Gesicht gespuckt habe? Also Du alter Bösewicht von Bürgermeister, Du kommst her und willst mir Angst einjagen. Aber vor dir fürchte ich mich nicht. Ich fürchte mich vor Herrn Javert, vor dem lieben, guten Herrn Javert.«
»Gerechtigkeit muß ja sein, Herr Inspektor, das sehe ich ja ein. Im Grunde genommen ist es ja was ganz Einfaches, daß sich ein Mann den Spaß macht und stopft einem Frauenzimmer Schnee in den Rücken. Darüber haben die Offiziere gelacht; ihr Vergnügen müssen die Herren ja doch haben, und Unsereine ist doch dazu da, daß Andre ihren Spaß daran haben. Sie kommen nun gerade dazu, und da müssen Sie doch Ordnung stiften. Sie arretiren das Frauenzimmer, weil es Unrecht gehabt hat, aber nachher überlegen Sie Sich die Sache, da sind Sie gut und befehlen, daß man mich laufen läßt, von wegen dem unschuldigen Kind, denn wenn ich sechs Monate lang sitzen müßte, könnte ich nicht für ihren Unterhalt sorgen. »Aber thu's nicht wieder, Du Kanaille!« So denken Sie. O ich thu's gewiß nicht wieder, Herr Javert. Jetzt mag man mir anthun, was man will. Ich lasse mir Alles gefallen. Blos heute habe ich geschrieen, weil mir das weh that, und es kam so unerwartet. Und außerdem, wie gesagt, bin ich nicht ganz gesund, ich huste. Mir ist, als habe ich ein brennendes Eisen hier oben in der Brust, und der Arzt sagt auch, ich soll mich recht in Acht nehmen. Geben Sie mir Ihre Hand. So. Nun fühlen Sie. Hier.«
Sie weinte jetzt nicht mehr, und ihre Worte klangen schmeichlerisch, während sie Javerts rauhe, große Hand auf ihren zarten, weißen Busen hielt. Plötzlich aber brachte sie ihre Kleider hastig wieder in Ordnung, und ging auf die Thür zu, indem sie den Schutzleuten freundschaftlich zunickte und halblaut sagte:
»Kinder, der Herr Inspektor hat gesagt, ich darf gehen. Ich mache mich also davon.«
Schon legte sie die Hand auf die Klinke. Noch ein Schritt, so war sie draußen.
Die ganze Zeit über hatte Javert unbeweglich, gesenkten Hauptes, da gestanden wie eine Statue, die an einen unrechten Ort gestellt ist und wartet, daß sie wieder an ihre richtige Stelle kommt.
Das Geräusch, das die Klinke machte, weckte ihn. Er richtete sich empor mit einer grimmigen Gebietermiene. Solch eine Miene ist um so furchtbarer anzusehen, je niedriger die Intelligenz des betreffenden Wesens ist.
»Sehen Sie nicht, Sergeant, daß die Dirne davon geht? Wer hat Sie geheißen, sie gehen zu lassen?«
»Ich!« sagte Madeleine.
Als sie Javerts Stimme hörte, fuhr Fantine vor Schreck zusammen und ließ die Klinke fahren, wie ein Dieb, der auf der That ertappt wird. Als dann Madeleine antwortete, wandte sie sich nach ihm hin, und von diesem Augenblick an richteten sich ihre Blicke, ohne daß sie einen Laut dabei hören ließ, ohne daß sie auch nur frei zu athmen wagte, abwechselnd auf Madeleine und auf Javert, je nachdem Dieser oder Jener sprach.
Selbstredend mußte Javert, wie man sagt, ganz und gar aus dem Häuschen gerathen sein; sonst hätte er sich nicht erlaubt, den Sergeanten so anzuherrschen, nachdem der Bürgermeister angeordnet hatte, daß Fantine aus der Haft entlassen werden solle. War er so verwirrt, daß er die Anwesenheit des Herrn Bürgermeisters vergessen hatte? Erachtete er es jetzt für unmöglich, daß ein Mitglied der hohen Obrigkeit einen derartigen Befehl ertheilt hätte? Der Herr Bürgermeister hatte ganz gewiß etwas Andres gesagt, als er eigentlich wollte? Oder sagte er sich Angesichts der unsinnigen Vorgänge, denen er seit zwei Stunden beiwohnte, daß er einen großen Entschluß fassen, daß der kleine Beamte die Rolle des höheren übernehmen, der Spitzel sich in einen Richter verwandeln müsse, und daß in der vorliegenden Nothlage die Ordnung, das Gesetz, die Moral, die Regierung die ganze Gesellschaft sich in ihm, Javert, personifizirten?
Wie dem auch sei, als Madeleine das Wort »Ich!« ausgesprochen, wandte sich der Polizeiinspektor Javert, mit blassem, kaltem Gesicht, mit einem verzweifelten Blick, an allen Gliedern leise zitternd, an den Herrn Bürgermeister und wagte, was er noch nie gethan, ihm, einem Vorgesetzten, zu widersprechen. Gesenkten Hauptes, aber mit fester Stimme sagte er:
»Herr Bürgermeister, das geht nicht an!«
»Wieso?« fragte Madeleine.
»Dieses Frauenzimmer hat einen Mann von Stande insultiert.«
»Inspektor Javert,« erwiderte Madeleine in ruhigem und versöhnlichem Tone, »hören Sie, was ich zu sagen habe. Sie sind ein wackrer Mann, und ich nehme keinen Anstand, mich Ihnen gegenüber zu einer Erklärung herbeizulassen. Der Thatbestand ist folgender. Ich ging vorbei, als Sie die Frau eben verhaftet hatten, und erkundete mich bei Leuten, die auf dem Platz zurückgeblieben waren. Der andere Theil, der Herr, hat angefangen und hätte von der Polizei arretiert werden sollen.«
Javert entgegnete:
»Die Elende hat den Herrn Bürgermeister insultiert.«
»Das ist meine Sache. Ein mir angethaner Schimpf gehört doch wohl mir. Ich darf damit anfangen, was mir beliebt.«
»Ich bitte den Herrn Bürgermeister um Entschuldigung, die Beleidigung geht nicht ihn an, sondern die Gerechtigkeit.«
»Inspektor Javert,« antwortete Madelaine, »die oberste Gerechtigkeit ist Sache des Gewissens. Ich habe die Frau angehört und weiß, was ich thue.«
»Und ich, Herr Bürgermeister, weiß nicht, was das Alles bedeuten soll.«
»Sehr wohl, dann gehorchen Sie.«
»Ich gehorche meiner Pflicht, und die verlangt, daß die Dirne da sechs Monat Gefängniß bekommt.«
Madeleine antwortete mit sanftmüthiger Ruhe:
»Merken Sie sich, Javert, sie bekommt nicht einen Tag.«
Als dieser Entscheid gefallen war, unterfing sich Javert, den Bürgermeister fest anzusehen, und ihm – allerdings mit aller Ehrerbietung im Tone – zu erwiedern:
»Zu meiner größten Verzweiflung sehe ich mich genöthigt, Einspruch zu erheben. Es ist das erste Mal in meinem Leben, aber der Herr Bürgermeister werden mir gütigst gestatten zu bemerken, daß ich mich innerhalb der Grenzen meiner Befugnisse befinde. Ich halte mich auch, wie der Herr Bürgermeister es wünschen, an den Thatbestand. Ich war zugegen und habe gesehen, daß diese Dirne den Herrn Bamatabois thätlich insultirt hat, Herrn Bamatabois, einen Wähler und Besitzer des schönen, dreistöckigen Hauses aus Quadersteinen und mit einem Balkon, das an der Ecke der Esplanade steht! – Was doch nicht Alles auf der Welt passirt! Wie dein aber auch sei, Herr Bürgermeister, der Vorfall geht die Straßenpolizei, also mich an, und ich behalte die Frau in Haft.«
Da verschränkte Madeleine die Arme und entgegnete in einem strengen Tone, den bisher noch Niemand von ihm gehört hatte:
»Der Vorfall geht die Gemeindepolizei an. Laut Paragraph 9, 11, 15 und 66 der Kriminalgerichtsordnung habe ich darüber zu entscheiden, und ich ordne an, daß die Frau ihrer Haft entlassen wird.«
Javert machte aber noch einen letzten Versuch seinen Willen durchzusetzen.
»Aber Herr Bürgermeister ...«
»Ich erinnere Sie an § 81 des