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Les Misérables / Die Elenden. Victor Hugo
Читать онлайн.Название Les Misérables / Die Elenden
Год выпуска 0
isbn 9783754173206
Автор произведения Victor Hugo
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Die fünfzig Franken hatte sie einem Fonds entnommen, den ihr Madeleine anvertraute, zu Almosen und Unterstützungen für die Arbeiterinnen. Ueber die Verwendung dieses Geldes brauchte sie nicht Rechenschaft abzulegen.
Fantine versuchte zunächst in Kondition zu treten. Aber Niemand wollte sie nehmen. Sie hatte die Stadt nicht verlassen. Der Trödler, von dem sie ihre erbärmlichen Möbel hatte, drohte, sie arretieren zu lassen, wenn sie fortginge. Der Hauswirt, dem sie Miethe schuldig geblieben war, hatte gesagt: »Wenn man jung und hübsch ist, wie Sie, kann man seine Schulden bezahlen.« Sie vertheilte die fünfzig Franken zwischen dem Wirt und dem Trödler, gab einige Möbel wieder ab und behielt nur das Allernothwendigste, das Bett. Dann fing sie ohne Arbeit zu haben, ohne Stelle und mit hundert Franken Schulden, das Leben von Neuem an.
Zunächst nähte sie Soldatenhemden und verdiente damit zwölf Sous täglich, von denen sie zehn für ihre Tochter abgeben mußte. Deshalb begann sie jetzt auch mit ihren Zahlungen an Thénardier im Rückstande zu bleiben.
Andrerseits aber lehrte sie eine alte Frau, die ihr des Abends ihr Talglicht anzündete, die Kunst im Elend zu leben. Hat man gelernt mit Wenigem Haus zu halten, so weiß man darum noch nicht mit Nichts auszukommen. Diese beiden Lebensweisen gleichen zwei Kammern, von denen die eine nicht hell und die andre dunkel ist.
Fantine lernte, wie man im Winter ganz ohne Heizung fertig werden kann, wie man einen Vielfraß von Stubenvogel abschafft, dessen Unterhalt Einem täglich auf einen Pfennig zu stehen kommt, wie man einen Unterrock als Bettdecke und eine Bettdecke als Unterrock benutzt, wie man Talglichte spart, indem man seine Mahlzeiten bei dem Licht der Fenster vis à vis einnimmt. Es ist eben unglaublich, wie manche arme und ehrliche Leute, in Folge vieler Uebung, ein Stück Kupfergeld zu verwerten verstehen. Auch Fantine erwarb sich dieses schöne Talent und faßte wieder etwas Muth.
Zu der Zeit war es, wo sie zu einer Nachbarin sagte: »Es ist nicht so gefährlich: Wenn ich nur fünf Stunden schlafe und die übrige Zeit fleißig nähe, werde ich's schon dahin bringen, daß ich mir immer ein Stückchen Brod kaufen kann. Nicht genug, daß man davon satt wird. Aber glücklicher Weise ißt man weniger, wenn man Kummer hat. Also müßte es schaurig zugehn, wenn Einen die Sorgen und Brot zusammengenommen nicht satt kriegen sollten.«
In dieser Noth wäre es ein großer Trost gewesen, wenn sie ihr Töchterchen hätte bei sich haben können. Aber sollte sie auch die Kleine Entbehrungen aussetzen? Und wie das rückständige Geld aufbringen? Wie die Reisekosten erschwingen?
Die Alte, die ihr Unterricht in der Sparsamkeit ertheilte, war ein frommes Fräulein, die gegen die Armen und sogar auch gegen die Reichen gut war, und nicht einmal ihren Namen richtig schreiben konnte. Aber besaß sie nicht, da sie an Gott glaubte, die wahre Wissenschaft?
Solcher tief erniedrigter Tugenden giebt es viele hier auf Erden, aber sie werden erhöhet werden, denn auf dieses Leben folgt ein andres.
Anfänglich hatte Fantine vor Scham kaum gewagt, einen Fuß aus dem Hause zu setzen.
Wenn sie auf der Straße ging, fühlte sie, daß sich die Leute nach ihr umdrehten und mit Fingern auf sie wiesen. Jedermann starrte sie an, und Keiner grüßte. Diese Verachtung aber empfand sie wie einen eisigen Windhauch, der sie bis in's Mark durchschauerte.
In den kleinen Städten ist ein gefallenes Mädchen wehrlos gegen den allgemeinen Hohn, gegen die unverschämte Neugierde. In Paris dagegen, wo Keiner den Andern kennt, kann man sich leicht verstecken. O, wie gern wäre sie nach Paris gegangen. Aber ach –!
Sie mußte sich also, wohl oder übel, an die allgemeine Mißachtung gewöhnen, so wie sie ja auch das Elend ertragen gelernt hatte. Allmählich fand sie sich auch hinein. Nach zwei, drei Monaten schüttelte sie die Scham ab und ging aus, als wenn nichts gewesen wäre. »Ist mir ganz egal!« sagte sie, kam und ging mit aufgerichtetem Kopfe, ein bittres Lächeln um die Lippen, und war sich bewußt, daß sie anfing frech zu werden.
So sah Frau Victurnien sie bisweilen von ihrem Fenster aus, bemerkte das Elend »des Geschöpfes«, daß sie »in die Schranken gewiesen« und wünschte sich Glück zu dieser guten That. Die schlechten Menschen sind eben auch fähig Glücksgefühle zu empfinden.
Das Uebermaß der Arbeit schadete Fantinens Gesundheit; sie hüstelte, und dies Leiden nahm allmählich zu. »Fühlen Sie doch, wie warm meine Hände sind!« sagte sie bisweilen zu ihrer Nachbarin.
Wenn sie aber des Morgens mit einem alten, zerbrochnen Kamm durch ihre schönen seidenweiche Haare fuhr, empfand sie doch eine stille Freude.
X. Weitere Erfolge der Frau Victurnien
Sie war gegen das Ende des Winters entlassen worden; der Sommer verging, aber der Winter kam wieder. Kürzere Tage, weniger Arbeit. Im Winter keine Wärme, kein Licht, kein Mittag, Abend und Morgen liegen nicht weit auseinander, Nebel, die Fenster sind zugefroren oder beschlagen und man sieht nicht hell. Der Himmel läßt nicht mehr Licht hindurch, als ein Kellerfenster in ein Souterrain. Schreckliche Jahreszeit! Der Winter versteinert das Wasser des Himmels und das Herz des Menschen. Fantinens Gläubiger ließen ihr keine Ruhe.
Sie verdiente zu wenig, so daß ihre Schulden zunahmen. Die Thénardiers, denen das Kostgeld nicht regelmäßig zuging, schrieben Briefe über Briefe, deren Inhalt sie betrübte und kränkte, und deren Porto in's Geld lief. Eines Tages theilten sie ihr mit, Cosette habe keine Kleider mehr, sie brauche allerwenigstens ein wollnes Röckchen bei der Kälte, das nicht unter zehn Franken zu haben sein würde. Diesen Brief trug sie den ganzen Tag in der Hand herum. Am Abend ging sie zu dem Barbier, der an der Ecke wohnte, und zog den Einsteckkamm aus ihrer Frisur heraus, so daß ihr üppiges blondes Haar bis zu den Hüften herniederwallte.
»Schöne Haare!« rief der Barbier.
»Wieviel wollen Sie mir dafür geben?«
»Zehn Franken.«
»Gut.«
Für das Geld kaufte sie ein Tricotkleidchen und schickte dies den Thénardiers.
Diese geriethen in keine geringe Wuth. Sie hatten Geld haben wollen. Sie gaben das Kleid ihrer Eponine, und die arme Lerche war nach wie vor den Unbillen der Winterzeit ausgesetzt.
Fantine dachte: »Mein Kind friert nicht mehr. Ich habe sie mit meinen Haaren bekleidet.« Sie trug nun, ihren geschornen Kopf zu verhüllen, ein rundes Häubchen und sah auch so noch niedlich aus.
Unterdessen vollzog sich in Fantinens Herzen eine unheimliche Verwandlung. Sie empfand, als sie sich nicht mehr ihrer schönen Haare erfreute, einen wüthenden Haß gegen Alles, was sie umgab. Sie hatte lange Zeit die Verehrung Aller für Vater Madeleine getheilt; allein indem sie sich fortwährend wiederholte, daß er sie ihres Broderwerbes beraubt habe und an ihrem Unglück schuld sei, lernte sie auch ihn, ihn ganz besonders hassen. Sie lachte und sang, wenn sie an der Fabrik vorbeikam, und die Arbeiter vor der Thür standen, ihnen zum Trotz.
»Die nimmt ein schlechtes Ende!« bemerkte einst eine alte Arbeiterin, als sie Fantine bei diesem Gebahren beobachtete.
Schließlich nahm Fantine sich einen Liebsten, den ersten Besten, einen Mann, aus dem sie sich nichts machte, um die öffentliche Meinung herauszufordern, mit wilder Wuth im Herzen. Es war ein Taugenichts, ein Bettelmusikant, ein Faulpelz, der sie prügelte und sie bald überdrüssig bekam.
Aber sie liebte ihr Kind und, je tiefer sie sank, je düstrer Alles um sie wurde, desto heller erstrahlte in ihrem Herzen das Bild ihres süßen Engelchens. Dann dachte sie: »Wenn ich mal reich bin, lasse ich meine Cosette kommen«, und freute sich. Der Husten nahm nicht ab, und ihr Rücken bedeckte sich oft mit Schweiß.
Eines Tages erhielt sie von den Thénardiers einen Brief folgenden Inhalts: »Cosette hat eine Krankheit, die jetzt hier in der Gegend umgeht. Ein