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der Liebe, der Hoffnung allmählich zur Heiligen vervollkommnet. Von Natur nur ein Lamm, hatte die Religion sie zu einem Engel gemacht. Armes frommes Fräulein! Welche theure Erinnerungen weckt Dein sanftes Bild in dem Gedächtniß Derer, die Dich kannten!

      Was sich nun an jenem Abend in dem Hause des Bischofs Alles ereignete, hat Fräulein Baptistine so oft erzählt, daß sich mehrere Leute, die noch heute leben, an alles bis auf die geringfügigsten Einzelheiten, genau erinnern können.

      Frau Magloire sprach, als der Bischof in das Speisezimmer trat, mit großer Lebhaftigkeit über ihr Lieblingsthema, das ihr Herr geduldig über sich ergehen zu lassen pflegte, nämlich über die Klinke der Straßenthür.

      Sie hatte während sie Einkäufe für das Abendessen besorgte, gar schlimme Neuigkeiten gehört. Es hieß ein Strolch, ein gefährlicher Landstreicher sei angekommen und treibe sich gegenwärtig in der Stadt herum, und wer heute Abend spät nach Hause komme, dem könne leicht etwas Unangenehmes begegnen. Die Polizei thue leider ihre Schuldigkeit nicht, indem der Herr Präfekt und der Herr Bürgermeister keine Freundschaft hielten und es gerne sähen, wenn ein Unglück passiere. Das würde ihnen eine prächtige Gelegenheit geben, den Andern als den schuldigen Teil hinzustellen. Die gescheidten Leute sollten also hübsch selber über ihre Sicherheit wachen. Selbstredend müsse ein Jeder sein Haus verschließen, verriegeln, verrammeln und ja die Thüren ordentlich zumachen.

      Frau Magloire betonte das Wort Thüren mit großem Nachdruck; aber der Bischof, den in seinem ungeheizten Zimmer gefroren hatte, saß vor dem Kamin, und wärmte sich; abgesehen hiervon hing er noch andern Gedanken nach. Er beachtete also Frau Magloires energischen Wink nicht besonders, und sie sah sich genötigt, ihn zu wiederholen. Da mischte sich Fräulein Baptistine in das Gespräch und fragte, um es Frau Magloire recht zu machen, ihrem Bruder aber nicht zu mißfallen:

      »Lieber Bruder, hast Du gehört, was Frau Magloire erzählt?«

      »Zum Theil, ja!« antwortete er, drehte seinen Stuhl halb um, hielt die Hände auf die Kniee und wandte sein freundliches, gemüthlich heiteres Gesicht, das von unten durch den Lichtschein des Kaminfeuers hell beleuchtet war, der alten Magd zu. »Nun, erzählen Sie! Was geht denn vor? Was denn? Wir schweben also wirklich in einer furchtbaren Gefahr?«

      Frau Magloire begann ihre ganze Geschichte von vorn, wobei sie, ohne sich dessen bewußt zu werden, die Farben recht stark auftrug. Es solle sich zur Zeit ein Bummler, ein zerlumpter Kerl, ein gefährlicher Bettler in der Stadt aufhalten. Er hätte bei Jacquin Labarre nächtigen wollen, der aber hätte ihn abgewiesen. Dann sei er auf dem Boulevard Gassendi gesehen worden und dann habe er in den Straßen herum gestrolcht. Ein Kerl mit einem wahren Galgengesicht!

      »Was Sie sagen!« meinte der Bischof.

      Daß er so bereitwillig auf ihr Gespräch einging, ermuthigte Frau Magloire. Deutete sie sich dies doch als ein Zeichen, daß er anfing, Furcht zu bekommen. Sie fuhr also triumphirend fort:

      »Ja, ja. Bischöfliche Gnaden, so steht's. Diese Nacht passirt ganz gewiß ein Unglück in der Stadt. Jeder sagt das. Leider thut die Polizei ihre Schuldigkeit nicht. (Diese Wiederholung, um einen wirksamern Eindruck zu machen.) Ein Gebirgsland, und nicht einmal des Nachts Laternen in den Straßen! Geht man aus, so umgiebt Einen eine Finsterniß, als stäke man in einem Sack. Und ich, Bischöfliche Gnaden, behaupte, und das gnädige Fräulein behauptet auch ...«

      »Ich behaupte gar nichts«, fiel ihr das Fräulein ins Wort. »Was mein Bruder thut, ist wohlgethan.«

      Aber Frau Magloire beachtete nicht den erhobenen Einspruch.

      »Wir behaupten also, daß dieses Haus ganz und gar nicht sicher ist, und wenn Bischöfliche Gnaden erlauben, hole ich den Schlosser, Paulin Musebois, und lasse ihn die alten Riegel wieder an der Thür anbringen. Sie sind noch da, und die Arbeit ist im Handumdrehen gemacht. Riegel brauchen wir, wäre es auch nur für diese Nacht. Denn eine Thür, die der erste Beste von außen aufklinken kann, nein, so was schreckliches giebt's nicht mehr. Dabei haben Bischöfliche Gnaden die Gewohnheit und rufen immer gleich: Herein! Und in der Nacht – Herr, erbarme Dich! braucht auch Keiner erst um Erlaubnis zu bitten.«

      In demselben Augenblicke wurde heftig an die Thür geklopft.

      »Herein!« rief der Bischof.

      III. Heldenmüthiger Gehorsam

      Die Thür ging auf, heftig, weit auf, und hereintrat der uns schon bekannte Fremde, der Wandrer, den wir vorhin auf der Suche nach einem Obdach beobachtet haben.

      Er trat ein, that noch einen Schritt und blieb stehen, ohne die Thür hinter sich wieder zuzumachen. Den Tornister auf dem Rücken, den Stock in der Hand, das entschlossene grimmige Gesicht vom Kaminfeuer beleuchtet, war er eine furchtbare, unheimliche Erscheinung.

      Frau Magloire hatte nicht einmal so viel Kraft übrig, um laut aufzuschreien und stand wie angewurzelt mit offnem Munde da.

      Fräulein Baptistine hatte sich beim Eintritt des Vagabunden nach ihm umgewendet. Sie fuhr zusammen vor Schreck, wandte aber dann allmählich das Gesicht nach dem Kamin hin, wo ihr Bruder saß, und alsbald nahmen wieder ihre Züge die gewohnte Ruhe und Heiterkeit an.

      Der Bischof faßte den Ankömmling ruhig ins Auge.

      In dem Augenblick, als er den Mund aufthat, wohl um nach dem Begehr des Fremden zu fragen, stützte Dieser beide Hände auf seinen Stock, ließ seine Augen über den greisen Herrn und die beiden Frauen irren und sprach, ohne die Anrede des Bischofs abzuwarten, mit lauter Stimme:

      »Die Sache ist die. Ich heiße Jean Valjean. Ich bin ein ehemaliger Galeerensklave. Ich habe neunzehn Jahre im Bagno verlebt. Vor vier Tagen bin ich in Freiheit gesetzt worden und jetzt auf dem Wege nach Pontarlier, meinem Bestimmungsort. Vier Tage marschiere ich nun schon, von Toulon aus. Heute habe ich achtundvierzig Kilometer zu Fuß zurückgelegt. Diesen Abend, wo ich in diesem Ort angekommen bin, habe ich in einem Gasthaus einkehren wollen, aber sie haben mich hinausgewiesen, von wegen meinem gelben Paß, den ich im Stadthaus vorgezeigt habe. Das mußte ich nämlich. Dann bin ich wieder in eine Herberge gegangen. Da hat's wieder geheißen: Raus mit Dir. Keiner hat mich haben wollen. Dann bin ich nach einem Gefängniß gegangen. Der Schließer hat mir nicht aufgemacht. Dann bin ich in eine Hundehütte gekrochen. Da ist der Hund gekommen, hat mich gebissen und mich weggejagt, gerade als wäre er ein Mensch. Es war als wüßte er, was für Einer ich bin. Dann bin ich querfeldein gegangen und wollte unter freiem Himmel übernachten. Der Himmel war aber nicht frei, er hing voll Wolken und ich dachte, es würde regnen, und einen Gott, der den Regen nicht herunterfallen läßt, mir zu Gefallen, giebt's ja doch nicht. Da bin ich wieder nach der Stadt zurückgegangen und wollte mir einen Thorweg suchen. Auf dem Platz hier habe ich mich auf eine Steinbank niedergelegt Da ist eine Frau gekommen, hat mir dies Haus gezeigt und hat gesagt: Klopfe mal da an. Das habe ich gethan. Was ist das für ein Haus? Eine Herberge? Ich habe Geld. Hundertneun Franken und fünfzehn Sous. Was ich mir in neunzehn Jahren, in meiner Sträflingszeit, mit meiner Arbeit verdient habe. Ich kann alles bezahlen. Mir soll's nicht drauf ankommen. Ich habe ja Geld. Ich bin sehr müde, achtundvierzig Kilometer, und hungrig. Darf ich hier bleiben?«

      »Frau Magloire,« sagte der Bischof, »noch ein Gedeck!«

      Der Vagabund trat drei Schritte, an die Lampe heran, die auf dem Tische stand. »So ist das nicht,« hob er wieder an, »Sie verstehen mich gewiß nicht. Ich bin ein Galeerensklave, ich komme aus dem Bagno.« Er zog ein großes gefaltetes Papier aus der Tasche. »Hier,« und er faltete es aus einander, »mein Paß. Ein gelber. Das hat den Zweck, daß ich überall, wo ich hingehe, weggejagt werde. Wollen Sie ihn lesen? Ich kann lesen. Ich hab's im Bagno gelernt. Da ist eine Schule, da können die hingehen, die's wollen. Da können Sie's lesen. »Jean Valjean, aus dem Gefängniß entlassener Sträfling, gebürtig aus ... Das ist Ihnen egal, ob Sie das wissen oder nicht ... ist neunzehn Jahre im Bagno gewesen. Fünf Jahre wegen Diebstahl mit Einbruch, vierzehn Jahre, weil er vier Mal hat entspringen wollen. Ein sehr gefährliches Subjekt.« So! nun wissen Sie's. Jedermann hat mich rausgeschmissen. Wollen Sie mich aufnehmen? Ist das hier eine Herberge? Kriege ich hier was zu essen und Unterkunft für die Nacht? Haben Sie einen Stall?«

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