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hatte immer noch nicht verstanden, weshalb man die Augen zukniff, wenn man mehr sehen wollte.

      „Ja, ich bin’s. Kann ich mich setzen?“

      „Probier’s mal“, erwiderte Jack sarkastisch und erntete ein schiefes Lächeln von Melanie, die sich neben ihm auf der Bank niederließ.

      Sie schielte auf seine Beine, wo ein kleines Heft lag, das hastig zugeschlagen worden war. „Du hast gerade gesungen“, bemerkte Melanie.

      „Gut erkannt“, erwiderte Jack typisch trocken. Er musterte sie nun mit einem normalem Ausdruck – offensichtlich hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt.

      Melanie verdrehte die Augen. „Du singst. Das wusste ich nicht. Sind das Songtexte?“ Sie deutete auf das Heft auf seinem Schoß.

      Jack runzelte verdutzt die Stirn, dann sah er auf das Heft hinab. Wenn sich Melanie nicht täuschte, wurde er tatsächlich rot. „Ja, sind sie“, murmelte er.

      „Ich nehme mal an, ich darf sie nicht lesen?“, drängte Melanie neugierig, aber Jack tat, als hätte er die Aufforderung nicht verstanden.

      „Nein, die sind noch nicht fertig“, antwortete er und legte das Heft beiseite. „Konntest du auch nicht schlafen?“, machte Jack einen abrupten Themawechsel.

      Melanie nickte und beschloss, dass sie ihm die Texte ein anderes Mal abluchsen würde. „Ja … Du auch nicht?“

      Jack nickte ebenfalls. „Ich finde den Gedanken schrecklich, dass Laura das durchstehen muss“, sagte er mehr zu sich selbst als zu Melanie und nun meinte er das ernst, nicht nur, um das Thema zu wechseln.

      Melanie betrachtete ihn von der Seite aus. Sein Haar war so dunkel wie die Nacht. „Ich kenne sie zwar nicht“, meinte sie, „aber das sollte niemandem passieren.“ Nach einer Weile fügte sie hinzu:

      „Wir werden sie retten.“

      Jack lächelte. „Ich mag deine Entschlossenheit.“

      „Ach ja?“ Sie grinste schelmisch. „Du kennst mich ja gar nicht wirklich.“

      Er drehte sich zu ihr um, um sie besser sehen zu können. „Aber ausreichend. Und den Rest finde ich schon noch heraus.“

      Melanie lachte. „Du machst das auf die radikale Tour, was?“ Jack zuckte bloß die Schultern.

      „Wie lange bist du schon hier?“, wollte Melanie wissen. „Erzähl mal ein bisschen – ich kenne dich nämlich auch nicht, weißt du?“ Ich weiß bloß, dass du singst.

      Jack hob einen Mundwinkel an. „Ich bin seit ich fünfzehn bin hier – also seit knapp zwei Jahren. Das ist nicht so lange her“, fügte er hinzu.

      „Emma ist schon ihr ganzes Leben lang hier, glaube ich.“

      Melanie hob die Augenbrauen. „Echt jetzt? Sie wurde hier geboren?“

      „Naja, ich glaube es jedenfalls. Kannst sie ja mal fragen“, antwortete Jack und schaute in die Nacht hinein.

      „Hm, okay …“ Melanie folgte seinem Blick.

      „Zoé hat mich gefunden“, begann Jack nun zu erzählen. „Ich hing bei einem Portal rum und wäre beinahe in eine Prügelei geraten.“

      Melanie grinste. „Ach ja, und dann hat dich Zoé – also das Mädchen da – gerettet?“, fragte sie belustigt.

      Jack lachte auf. „Nein, nicht gerettet. Aber ich bin einfach mit ihr abgehauen, bevor es so weit kommen konnte.“

      „Verstehe.“ Melanie tat, als würde sie ihm die Geschichte abkaufen. Als sie merkte, dass er nichts mehr hinzufügen wollte, meinte sie beiläufig: „Mich hat ja Daniel gefunden.“ Sie beobachtete seine Reaktion, doch sein Gesicht blieb starr. „Was meintest du mit dieser Bemerkung beim Reitunterricht?“

      Jack warf ihr einen distanzierten Blick zu. „Welche Bemerkung?“

      „Du weißt, was ich meine.“

      „Nicht wirklich.“

      „Blödmann.“

      „Ach ja?“

      Melanie grinste. „Ja! Das haben wohl noch nicht viele Menschen zu dir gesagt, was?“

      Jack schaute sie gespielt verletzt an. „Die meisten respektieren meine natürliche Coolness.“

      „Verstehe“, erwiderte Melanie ironisch lachend. „Es geht hier darum, deine natürliche Coolness nicht zu verletzen. Tut mir ja leid, wenn es wehtut.“

      Jacks Mundwinkel fuhren in die Höhe. „Das glaub ich dir nicht“, erwiderte er, sich auf den letzten Satz beziehend.

      „Besser so“, konterte Melanie und schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln. Aber eigentlich ärgerte sie sich darüber, dass er etwas über Daniel wusste, was sie nicht wissen sollte. Weshalb benahm er sich so seltsam? Lag es an ihm oder an Daniel? Es könnte sein, dass er nur eifersüchtig war oder schlicht und einfach Streit hatte mit Daniel, aber was auch immer es war, sie wollte es herausfinden. Das war einfach ihre Art. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, wie viele Dinge sie in den wenigen Tagen im Land der Nacht schon herausfinden musste, oder besser: wollte. Einerseits lag das daran, dass die Leute hier unnatürlich viele Geheimnisse hatten, aber andererseits auch einfach daran, dass Melanie Geheimnisse mochte, ebenso gern, wie sie die Vergangenheit der Leute in ihrer Umgebung kennen wollte. Ironie eigentlich, wenn man bedachte, wie wenig Melanie von sich selbst preisgeben wollte.

      Wieder sagte eine Weile lang keiner etwas, sie schaute in die Ferne und beobachtete die Lichtstrahlen der Sonne, die langsam im Wald auftauchten. Wenn sie ganz leise war, konnte sie das Rauschen des Meeres in der Ferne hören. Auch wenn sie nicht schwimmen würde, wollte sie sich gerne mal den Strand anschauen gehen – während des Trainings war Melanies Klasse ebenfalls nur bis zum Wald gekommen.

      „Wie ist das mit diesen Fällen, Jack?“, fragte Melanie auf einmal. „Sind wir so ‘ne Art Detektivschule hier?“ Sie hatte nicht ganz begriffen, was John in seinem Büro gemeint hatte.

      Jack grinste. „Ja, so ungefähr. Nur cooler.“ Er lachte, dann gab er ihr aber trotzdem eine brauchbare Erklärung. „Wir werden hier nicht ausgebildet, um Mathematik zu studieren oder Japanisch zu lernen, sondern um zu kämpfen. In unserer – dieser – Welt ist das um einiges wichtiger.“

      „In meiner auch, glaub mir“, unterbrach Melanie ihn und er warf ihr einen fragenden Blick zu, bevor er fortfuhr: „Unsere Schule, eigentlich eher ein Campus, ist dafür da, dass wir der Polizei helfen, Fälle zu lösen. Wir gehen Gewalttaten oder Kriminalfällen nach und fangen Bösewichte. Ganz lustig, zwischendurch. Aus diesem Grund hat uns die Polizei weniger im Blick als andere Camps, was schon ein guter Fortschritt ist.“

      „Verstehe.“ Offenbar konnte Jack doch etwas Vernünftiges von sich geben, dachte Melanie, während sie erneut den aufkommenden Morgen betrachtete. Jack war ebenfalls auf die Zeit aufmerksam geworden und erschrak, als er einen Blick auf die Uhr warf und sah, dass es bereits sechs Uhr war.

      „Wir sollten wieder reingehen“, meinte er und erhob sich.

      „Wenn du meinst.“ Da Melanie sowieso nicht mehr schlafen würde, war es ihr egal, wo sie den Rest des Morgens verbrachte.

      Sie folgte Jack über die Wiese auf das Gebäude zu, in dem sie untergebracht waren. Auf leisen Sohlen huschte sie hinter Jack die Treppe hoch in den vierten Stock und lag noch eine Stunde lang wach im Bett.

      Nicht alles, was Jack gesagt hatte, war vernünftig gewesen.

      Denn an dem Morgen fragte sie Emma, wie lange sie schon im Land der Nacht lebte.

      Sie waren früh genug aufgestanden und Melanie zog sich gerade ein dunkelrotes Top über, das knapp bis zu ihrem silbernen Gürtel reichte.

      „Hey, Em ...“, begann sie vorsichtig. „Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie lange du schon hier bist?“

      Emma

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