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fahren an der Küste entlang Richtung Cadiz. Es ist wieder ein heißer, gleißender Tag. Die Air Condition läuft. Wir hören Musik von Peter Gabriel. Adriana hat ihren freien Tag und mich gedrängt, etwas mit ihr zu unternehmen. Ich fügte mich.

      „Wie geht es mit deinen Notizen voran?“

      „Besser als gedacht.“

      „Wo bist du gerade?“

      „Ich habe gestern an meinen Großvater gedacht und habe über den Tag seiner Beerdigung in Hamburg geschrieben.“

      „Der Tag, an dem …"

      „Genau, der Tag, an dem ich Claudia kennenlernte.“

      Adriana beobachtet mich jetzt genau. Sie kennt mich und fragt nicht weiter.

      Und über Claudia würde ich ihr auch nicht viel mehr erzählen. Es war schlimm genug, dass sie überhaupt von ihr erfahren hatte. Ich ärgerte mich immer wieder über meine betrunkene Geschwätzigkeit vor Jahren.

      Vorne, auf der rechten Seite hat man Salz zu einem kleinen, etwa zwanzig Meter hohen Hügel aufgeschüttet. Ich mache Adriana darauf aufmerksam.

      „Komisch, so ein greller weißer Zipfel mitten in der Landschaft, findest du nicht?“

      „So sauber“, sagt sie.

      „Ich wusste gar nicht, dass die noch so viel ernten.“

      „Doch, doch“, sagt sie.

      „Die sollten das wie die Franzosen vermarkten. Von oben abschöpfen und behaupten, es schmecke besser.“

      „Tut es doch“, sagt sie. Gleich kommt die Abbiegung nach Puerto de Santa Maria.

      „Wo fahren wir hin?“, frage ich.

      „Geradeaus nach Cádiz. Lass uns Essen gehen.“

      Nach einer Weile sage ich: „Ich denke an meinen Großvater. Das ist schon ewig her. Trotzdem glaube ich, es hat mehr mit mir zu tun als damals.“

      „Und jetzt?“, sagt Adriana.

      „Jetzt fallen mir Sachen ein.“

      „Was zum Beispiel?“

      „Wie ich ihn vor mir sehe, plötzlich ganz klar.“

      „Du wirst alt“, sagt sie. „Du schaust zurück auf eine endlose Landschaft. Sie taucht hinter dir aus dem Nebel auf.“

      „Tiefsinnig“, sage ich.

      „So bin ich“, sagt sie. „Erzähl, wir haben noch Zeit, bis wir ankommen.“

      „Also“, fange ich an. „Das erste, was mir einfällt, er saß immer im kleinen Frühstückszimmer, gleich neben der Küche. Es gab da eine Schwingtür mit einem runden Bullauge im oberen Drittel. Ich war zu klein, um dort hindurch zu gucken. Zwei oder dreimal flog mir die Tür schmerzhaft entgegen, wenn sie von der anderen Seite jemand schwungvoll aufstieß. Im wirklich sehr kleinen Zimmer stand ein runder Tisch. Eingerahmt wurde er von einer halbkreisförmigen Bank, wie in diesen amerikanischen Restaurants. Die Bank war mit grünem Kunstleder bezogen. Unter einem Fenster stand eine einfache Kommode aus hellem Holzfurnier.“

      „Klingt scheußlich“, sagt Adriana.

      „War es auch, und der Linoleumboden tat sein Übriges. Es war der kärglichste Raum im ganzen Haus, aber Großvater hielt sich dort am liebsten auf. Vielleicht hörte er gerne das Rumoren aus der Küche oder mochte die Gerüche, die zu ihm durchdrangen. Ich weiß es nicht. Tatsache ist, dass ich immer neben ihm auf der unbequemen Bank saß und in den Garten schaute.“

      „Warst du öfter in Mexiko?“, fragt Adriana und bringt Peter Gabriel zum Schweigen.

      Mittlerweile haben wir San Fernando umfahren. Die Landschaft ist flach, geprägt von Meerwassersalinen, von Becken, Gräben und trockenen Sträuchern. Ab und zu weißgekalktes, verwittertes Gemäuer. Ruinen, deren ursprünglicher Zweck längst vergessen ist.

      „Meine ganze Kindheit. Ich bin erst als Jugendlicher mit meinen Eltern nach Hamburg gezogen. Ich bin praktisch im Haus meiner Großeltern aufgewachsen. Meine Oma ist früh gestorben, ich glaube an Typhus. Sie ist vollkommen aus mir verschwunden. Mein Großvater ist präsent. Stets korrekt gekleidet. Dunkler Anzug. Uhrkettchen. Hose mit Aufschlag. Wenn er aus dem Haus ging, trug er stets einen grauen Stetson, wie die Gangster in den Mafiafilmen der Fünfzigerjahre. Er ließ sich vom Chauffeur in seinem Chrysler in die Firma fahren. Manchmal durfte ich mit. Im Auto roch es nach aufgeheiztem Stoff, nach der Pappe der Hutablage und nach Vanille. Der Chauffeur trug Uniform und eine Schirmmütze.“

      „Im Ernst?“

      „Wenn ich es dir doch sage.“

      „Weiter“, sagt sie.

      „Noch eine Geschichte, die ich aber nicht selbst miterlebt habe. Mir wurde erzählt, dass er früher, lange vor meiner Zeit, gerne mit seinem Gewehr herumballerte. Er gab Warnschüsse ab, wenn mal ein Vertreter oder sonst jemand Unerwünschtes am Gartentor klingelte.“

      „Offenbar ein Exzentriker“, sagt Adriana.

      „Ich habe das Gewehr in der Hand gehabt.“

      „Du hast damit geschossen?“

      „Ja, Großvater bestand darauf. Es war eine Winchester 30/30, schwer und mit gewaltigem Rückstoß. Angeblich hat es ein mexikanischer Revolutionär meinem Großvater aus Dankbarkeit geschenkt.“

      „Worauf hast du geschossen?“

      „Wir fuhren aus der Stadt, aber nicht weit. Es gibt da einige Berge im Süden und Wälder, in denen man früher keinen Menschen traf. Mein Großvater jagte dort Hasen und sonstiges Kleingetier. Er nahm auch seine Hunde mit. Zwei Beagles. Ich durfte auch schießen, habe aber nie etwas getroffen.“

      „Absichtlich?“

      „Nicht absichtlich“, sage ich. „Ich habe mich damals sehr geschämt. Ich hätte sehr gerne etwas erlegt.“

      „Und deine Eltern?“, fragt sie.

      „Was soll mit denen sein?“

      „Wo waren die? Sind die mitgekommen?“

      „Eigentlich nicht. Mein Vater und mein Großvater, das war eher problematisch.“

      „Inwiefern?“

      „Mein Großvater war anderer Meinung als mein Vater. Politisch, und überhaupt. Sie haben nicht viel darüber geredet, und doch stand es immer im Raum, zumindest habe ich im Nachhinein den Eindruck. Ich glaubte lange, Vater sei das egal. Erst sehr spät schlich sich bei mir der Verdacht ein, dass er sich sich immer missverstanden fühlte. Aber da war er bereits tot. Die Abwendung voneinander liegt wohl in der Familie. Das Bedürfnis, mehr über meinen Vater und meinen Großvater zu wissen, hat mich schon vor fast dreißig Jahren aus der Bahn geworfen, um es gelinde zu sagen. Jetzt stehe ich vor der Aufgabe, es aufzuschreiben.“

      „Das solltest du unbedingt. Du hast ja sonst nicht viel zu tun.“

      „Und ich gehe dir auf die Nerven“, sage ich.

      „Und du gehst mir auf die Nerven“, sagt Adriana.

      Wir fahren über die enge Landzunge, die das Festland an der Bucht mit der Stadt Cadiz verbindet. Rechts der Hafen, links das offene Meer und ein unendlicher Sandstrand, der weit hinein in die Innenstadt ragt. Ich lasse mein Seitenfenster herunter und schalte die Klimaautomatik aus. Die Luft riecht nach Hitze, Salz und Meer.

      „Hast du Hunger?“, fragt Adriana.

      „Klar“, sage ich.

      „Zuerst ein Bierchen?“

      „Mindestens“, sage ich.

      Kapitel 10: Texas und Mexiko, 1988

      Auf der Main Street hatte man die Ampeln ausgeschaltet.

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