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fand die Hand toll. Sie war noch blutverkrustet, und ein Stück Ärmel hing auch daran. Sie stand aufrecht im Kasten.“

      „Noch etwas?“

      „Es gab da noch ein kleines Wäldchen mit Nadelbäumen. Ich habe da öfter an einen Baum gepinkelt“, sage ich.

      „Und?“

      „Und, was?“

      „Ist diese Geschichte nun bedeutsam oder nicht?“

      „Das weiß ich noch nicht“, sage ich. „Aber sie klingt doch gut. Und ab jetzt schreibe ich, wie soll ich es sagen, richtungsorientierter.“

      Kapitel 6: Hamburg, 1983

      Sie sah aus, als wäre sie versehentlich auf der falschen Veranstaltung gelandet. Ich stand im Halbdunkel des Musikzimmers und beobachtete das Geschehen in der Großen Diele, in der sie alle jetzt etwas ratlos herumstanden und Grüppchen bildeten. Gloria, die Hausdame, nahm den eintreffenden Trauergästen die Mäntel ab und versuchte, sich auch sonst irgendwie nützlich zu machen. Allein ihre Geschäftigkeit genügte, um die betretene Atmosphäre etwas zu entkrampfen. Und da war noch dieses Mädchen, kaum älter als ich, in buntem Minikleid, eine Fackel inmitten der dunklen Schar. Hatte man die Arme nicht über den Anlass informiert? Offensichtlich litt sie Höllenqualen und versuchte, sich in einer Nische am Eingang möglichst unsichtbar zu machen. Es gelang ihr nicht. Ich wartete und versuchte herauszufinden, in wessen Gesellschaft sie eingetroffen war, aber es kümmerte sich keiner um sie. Das Gemurmel der Leute wurde etwas lauter, als meine Eltern Hand in Hand die geschwungene Treppe hinunterschritten. Sie liebten den großen Auftritt. Ich fragte mich, wie viele Gläser Chablis meine Mutter im Laufe des Morgens wohl bereits geleert hatte. Ihr schmales, hochmütiges Gesicht wirkte verschwommen, fast lieblich. Mein Vater hingegen sah so aus wie immer, hünenhaft, unverletzlich, braungebrannt und gutgelaunt. Er konnte nicht anders. Die Lachfältchen um seine grauen Augen, die nach oben gezogenen Mundwinkel. Um meinen Vater waberte stets eine Aura ungetrübten Optimismus, auf den sich alle nur allzu gern einließen. Jetzt nahmen meine Eltern die Beileidsbekundungen entgegen, wechselten mit manchen ein paar Worte, einen festen Händedruck, umarmten andere und lächelten tapfer. Ich wusste ja, dass sie ein sicheres Gespür für die formvollendete Etikette hatten. Sie waren so erzogen worden. Mein Vater hielt sich gut, aber das wunderte mich nicht, denn der Tod seines Vaters hatte ihn nicht besonders berührt. Das hatte er mir am Abend zuvor in einem Anfall von Vertrautheit und männlicher Zuneigung erzählt, und ich hatte verständnisvoll genickt. Bei mir löste Großvaters Dahinscheiden aus anderen Gründen eher Unbehagen aus.

      Meine Mutter signalisierte mir mit Blicken, dass nun auch ich mich unter die Trauernden zu mischen hatte. Zuerst ging ich auf meine Tanten zu, die drei Schwestern meiner Mutter, die sich so sehr von ihr unterschieden, als kämen sie von einem anderen Planeten.

      Ich begrüßte als erste Tante Bertha, die mich sogleich umarmte und meinen Kopf in ihren weichen, nach Milch duftenden Ausschnitt drückte. Ich spürte, wie ihr draller Körper förmlich um mich herumfloss, wie ihr Atem sich warm in meiner Ohrmuschel fing, und einen winzigen Augenblick lang war ich versucht einzuknicken. Aber ich befreite mich behutsam aus ihren Armen. Ich zitterte ein wenig. Ich mochte Bertha und wusste, dass sie zu echtem Mitgefühl fähig war. Eine Eigenschaft, die sie aus dem humorlos-protestantischen Familienverband herausragen ließ. Ihr gütiges Wesen war letztendlich auch der Grund für ihre Zurückgezogenheit. Von den Schwestern nicht ernstgenommen und als liederlich abgetan, war allen schon immer klargewesen, dass aus ihr nie etwas Anständiges würde. Am Ende hatte sie es wohl auch darauf angelegt und lebte nun in einem kleinen Häuschen an der Elbe, das man ihr freundlicherweise gekauft hatte. Meine Zuneigung ihr gegenüber war ebenso stark wie die Abneigung, die ich den anderen beiden, Zwillingsschwestern, entgegenbrachte. Da waren zwei Exemplare Mensch, die in einem großen, göttlichen Plan, sollte es diesen geben, nur erschaffen worden sein dürften, um ihre Mitmenschen zu belästigen. Eine Tätigkeit, der sie mit großem Erfolg nachgingen. Ich konnte sie nicht ausstehen, und das ging wirklich jedem so. Weder ihre Ehemänner, die armen Teufel, noch ihre Kinder mochten sie. Am erstaunlichsten war jedoch, dass sie sich auch untereinander hassten. Obwohl ich also am liebsten einen großen Bogen um sie gemacht hätte, kam ich heute nicht umhin, sie, wenn auch äußerst widerwillig, zu begrüßen. Sie standen zwar inmitten der anderen Trauergäste, aber irgendwie im Zentrum eines unsichtbaren Kraftfeldes, das eine spürbare Distanz schuf. Beide hatten blondes, glattes und halblanges Haar. Beide ein rundes Gesicht, einen schlanken Hals und einen hageren, sportgestählten Körper. Beide erweckten den Eindruck eines unverschämten, auf den Kopf gestellten Ausrufezeichens.

      „Hallo, Sophie, hallo Julia“, sagte ich.

      „Hallo, herzliches Beileid“, antworteten beide fast gleichzeitig.

      Ich zuckte innerlich zusammen. Sie schienen seltsamerweise einer Meinung zu sein. Sie zwangen ein Lächeln auf ihre stets gelangweilten Gesichter.

      Ich ging weiter und ließ mich von Leuten, die ich kaum kannte, freundlich ansprechen. Manchmal wurde ich umarmt oder nur leicht und behutsam berührt, wahrscheinlich in der Annahme, ich würde sonst erschrecken. Die leitenden Angestellten nickten mir unsicher zu, der Geschäftsführer und die Buchhalterin bauten sich vor mir auf. Er sah aus, als hätte er gerade für eine Managerzeitschrift Modell gestanden: teurer Anzug, teures Hemd, teure Seidenkrawatte, sehr teure Schuhe. Es war der Typ, der gerne um jeden Stuhl pinkelte. Er beäugte mich misstrauisch und sagte: Herzliches Beileid. Es ist für uns alle ein großer Verlust. Er meinte jedoch: Komm mir bloß nicht in die Quere, du kleiner Wicht. Er hielt meinen Blick gefangen, bis er sich ganz sicher war, dass ich seine Botschaft auch verstanden hatte. Die Buchhalterin wirkte neben dem eitlen Herrscher geradezu schmächtig. Ich ließ mich nicht täuschen. Vom Hörensagen wusste ich, sie war eine emotionslose Maschine.

      „Es tut mir leid“, sagte sie kalt lächelnd.

      Ich lächelte zurück und stellte mir vor, wie sie irgendwann vor mir kriechen würden.

      Natürlich ist das nie geschehen.

      Heute weiß ich, dass ich damals wirklich ein kleiner Wicht war, ein verwöhntes Bengelchen. Aber ich schätze, in dem Alter — ich war damals, glaube ich, vierundzwanzig — ist man von der eigenen Wichtigkeit restlos überzeugt. Ich sah mich in der Rolle des Erben, des zukünftigen Industriekapitäns, des unbezwingbaren Machers. Ich sah mich in holzgetäfelten Büros mit Messinglampen und Ledersesseln.

      Um es kurz zu machen: Mein Großvater hatte für mich tatsächlich einen wichtigen Posten in der Familienstiftung vorgesehen. Natürlich verbunden mit einem entsprechenden finanziellen Anreiz. Allerdings, und das war nicht verhandelbar, erst nach Abschluss eines Wirtschaftsstudiums und nachweisbarem Talent in der Form exzellenter Noten. Dazu war ich vorerst nicht bereit. Ich bat um Bedenkzeit.

      Nun ja, die wurde mir nicht gewährt. Ich reagierte trotzig und wurde so schnell ausgebootet, dass ich bereits eine Woche später mit einer auf fünf Jahre begrenzten, sehr üppigen monatlichen Zuwendung und einer noch festzulegenden und an Bedingungen gebundenen Abfindung nach Ablauf dieser Frist, am Anfang eines Lebens stand.

      Dahin die Großmannsträume. Dämlicherweise hatte ich ohne nennenswerte Gegenwehr kapituliert, noch nicht mal mehr den Geschäftsführer oder die glitschige Buchhalterin zu Gesicht bekommen, sondern mich von Anwälten schwindelig reden lassen und, fatalerweise, unzählige Unterschriften geleistet. Zu guter Letzt und zu allem Übel musste ich noch ein geringschätziges Schulterklopfen meines Vaters und die weinselige Larmoyanz meiner Mutter ertragen. Ich hatte es nicht anders gewollt.

      Am Tag der Trauerfeier jedoch konnte ich das alles noch nicht wissen und machte mich auf die Suche nach dem hübschen Mädchen.

      Ich verließ den Salon Richtung Esszimmer, wo man das Buffet aufgebaut hatte, und dort war sie. Sie tunkte gerade ein Stück Kohlrabi in ein Schälchen, biss ab, und wiederholte den Vorgang.

      „Zweimal dippen gilt nicht“, sagte ich laut.

      Sie schaute erschrocken auf und versteckte das übriggebliebene Gemüsestück blitzschnell hinter ihrem Rücken. Ich fand ihre kindliche Reaktion und ihren

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