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Verfolger sahen bald ein, dass angesichts der topographischen Gegebenheiten eine bloße Verfolgungsjagd wenig Sinn machte. Sie verlegten sich daher auf die List und versuchten das Huhn von zwei Seiten anzugehen. Dem aufgebrachten Tier gelang es jedoch immer wieder, in Seitenwege zu flüchten, welche die Verfolger im Durcheinander der Architekturteile übersehen hatten. Nach einiger Zeit hatte sich das Huhn in einem Hohlweg aus Säulen und Architravstücken verfangen, aus dem es keinen Ausweg zu geben schien. Nun aber besann sich das Tier auf die dritte Dimension und flatterte, wiewohl ihm die Flügel gestutzt waren, mit dem Mut der Verzweiflung in die Höhe, sprang über Simse und Säulen und landete nach flatterndem Flug keuchend in einem dicken Eisenring, der in einiger Höhe im Maul eines Löwenkopfes an der Wand befestigt war. Dort wartete es leicht schaukelnd die nächsten Manöver seiner Verfolger ab. Um an das störrische Tier zu kommen, waren die beiden Männer nun auch ihrerseits gezwungen, den scheinbar festen Boden zu verlassen. Da es ihnen – anders als dem Vogel – nicht möglich war, einfach in die Höhe zu gehen, begannen sie, auf Vorsprünge und Simse zu klettern – nur mit der Folge allerdings, dass das Huhn sich mit kühnem Luftsprung auf eine hölzerne Brücke absetzte, die den Raum in großem Bogen überspannte. Kaum hatten die beiden Männer mühsam auch diese Brücke erklommen, flüchtete das Tier mit wildem Flügelschlag eine Treppe hinauf, die im Zick-Zack weit in die Höhe des Raumes führte. Völlig außer Atem gelangten nach einiger Zeit auch die Verfolger dort an. Oben herrschte verdächtige Stille. Der Hühnerbesitzer sprach die Befürchtung aus, dass das Huhn möglicherweise dabei sei, sich des fälligen Eies zu entledigen. Tatsächlich sprang das Huhn nach einer Zeit vollkommener Ruhe merklich erleichtert auf und verschwand in einer Tiefe, deren Dimensionen überhaupt nicht abzuschätzen waren.

      Angesichts der Tatsache, dass sich das Problem mit dem Verlust von Huhn und Ei verdoppelt hatte, wurde den Suchern klar, dass eine spontane Verfolgung der Art, wie sie sie bislang praktiziert hatten, nicht weiter führen würde. So wie die Dinge lagen, bedurfte es vorheriger Überlegung. Die beiden Männer setzten sich daher auf ein Säulenkapitell und begannen sich Gedanken über die Lage von Huhn und Ei zu machen. Dabei fand sich auch Zeit, die persönliche Bekanntmachung nachzuholen. Der Hühnerbesitzer stellte sich mit „Salametti“ vor, Giovanni Salametti, von Beruf Hühnerzüchter und Eierverkäufer, Piranesi mit seinem Nachnamen. Da Piranesi voraussah, dass für die Lösung der anstehenden Fragen seine berufliche Qualifikation eine Rolle spielen würde, fügte er nicht ohne Stolz „architetto“ hinzu.

      „Ich habe von meinen Lehrmeistern in Venedig gelernt“, sagte Piranesi, „dass man, wenn man einen Raum in den Griff bekommen will, davon einen Plan machen muss. Nur so kann unsere Suche Erfolg haben.“

      „In diesem Raum“, antwortete Salametti, „ist es viel leichter, ein gelegtes Ei zu finden, als ein Huhn, das sich bewegt. Daher, meine ich, ist es am besten, wenn wir uns auf das Ei konzentrieren. Immerhin kann man aus einem Ei, sollte das Huhn abhanden kommen, ein neues Huhn gewinnen.“

      Sie einigten sich schließlich darauf, nach dem Ei suchen, ohne das Huhn zu vernachlässigen. Einstweilen wollte man auf getrennten Wegen erste Erfahrungen mit dem Raum sammeln und sich durch Zurufe verständigen. Piranesi sollte, seine architektonischen Kenntnisse nutzend, eine Übersicht über den Raum erstellen, die als Grundlage für eine systematische Suche dienen könne, Salametti sich unmittelbar auf die Suche nach dem Ei machen.

      Salametti begann alsbald, den Boden nach dem Ei abzusuchen. Da er davon ausging, dass sich das Ei dort befinde, wo das Huhn seine letzte Flucht begonnen hatte, kreiste er in der unmittelbaren Umgebung der Stelle, an der man sich beraten hatte. Von Zeit zu Zeit stieß er einen gackernden Laut aus, einerseits in der Hoffnung, die Neugier des Huhnes zu wecken, andererseits, um seinem Suchgenossen zu zeigen, wo er sich gerade aufhielt. Piranesi, der gelernt hatte, dass man sich eines Raumes am besten an Hand des Grundrisses vergewissert, stieg die nächste Treppe in der Absicht hinauf, sich aus der Höhe Klarheit über die Struktur des Raumes zu verschaffen. Um den Kontakt zu seinem Begleiter zu halten, rief er dabei immer wieder „Quid est spatium“ aus, was mit vielfachem Echo im Raum verhallte. Schon bald musste feststellen, dass es von der Höhe, die er erklommen hatte, nicht möglich war, die Begrenzung des Raumes zu fixieren. Wann immer er glaubte, das Ende erreicht zu haben, stellte sich heraus, dass neue Gänge und Treppen in neue Räume und weitere Höhen und Tiefen führten. Hinter jedem Mauerbogen taten sich zusätzliche riesige Gebäudekomplexe auf. Wenn Piranesi an Hand der üblichen Indikatoren wie Dicke des Mauerwerkes, Sockelbildung oder Rustikaverkleidung zu der Überzeugung gekommen war, dass er den Boden des Raumes erreicht hatte, bemerkte er, dass von dort wieder Galerien und Treppen in tiefere Geschosse und Hallen führten. Wo sich verjüngende Bauformen und dachartige Konstruktionen auf einen Abschluss nach oben hindeuteten, folgten weitere unabsehbare Stockwerke. Das Ganze war im Übrigen angefüllt von architektonischen Versatzstücken wie Rundbögen, Stützmauern, Verstrebungen, Simsen, Architraven, Säulen, Pilastern, Portalen, Fenstern und Gittern sowie von einer Vielzahl ergänzender Requisiten, darunter dicken Seilen, die mal senkrecht aus der Höhe herab, mal in weitem Bogen in den Raum hingen, Winden, Eisenringen, Ketten, Ampeln, Streckrädern, Stützgalgen, Obelisken und Statuen. All das war überspannt von Holzbrücken, deren immer gleiche Geländer als endlose Bänder durch das Bild zogen. Hier und da taten sich Blicke auf, die zeigten, dass die Konstruktionen auch in weiter Ferne kein Ende fanden. Einmal schien es Piranesi, als könne er durch einen gewaltigen Bogen den Himmel sehen, vor dem sich ein zinnenbekrönter Turm der Art abhob, wie man sie im mittelalterlichen Italien baute. Er verwarf diese Vorstellung aber mit der Begründung, dass diese merkwürdige Welt dann auch von außen sichtbar sein müsse, was aber noch niemand festgestellt hatte.

      Bei dem Versuch, aus diesem Durcheinander einen Plan zu ziehen, verwirrte Piranesi insbesondere, dass er immer wieder auf Räume, Hallen und Gänge stieß, für die auf dem Plan, den er gefertigt hatte, eigentlich kein Platz war oder dass er sich nicht dort befand, wo er nach seinem Plan hätte sein sollen. Immer wieder prüfte er nach, wo er sich verrechnet oder verzeichnet haben könnte. Jedes mal kam er zu dem Ergebnis, dass er die Regeln seiner Kunst nicht verlassen hatte. Nach langen Überlegungen kam er schließlich zu dem alarmierenden Schluss, dass er entweder die Orientierung in seinem eigenen Plan verloren hatte oder diese Räume zeichnerisch nicht korrekt zu erfassen waren.

      Nach einiger Zeit fanden sich Piranesi und Salametti je auf einer Seite einer Zugbrücke wieder, die von beiden Seiten ein Stück hochgezogen war. Dazwischen lag eine tiefe Kluft, die man nur sehr schwierig hätte durchsteigen können. Eine Zeit lang stand jeder unschlüssig auf seiner Seite. Schließlich fasste sich Salametti ein Herz und sprang über den Spalt zwischen den Brückenhälften hinüber zu Piranesi. Dieser berichtete ihm beunruhigt von den Schwierigkeiten, welche er mit der Erfassung des Raumes hatte.

      „Kein Mensch kann einen solchen Raum zeichnen“, beruhigte ihn Salametti. „Ich glaube aber trotzdem, dass wir ihn verstehen werden. Da das Ganze so groß und unüberschaubar ist, habe ich mich bewusst in der Nähe unseres gemeinsamen Ausgangspunktes gehalten. Ich habe mich daher eigentlich noch nicht verlaufen können.“

      „Hoffentlich hast du Recht“, antwortete Piranesi. „Ich jedenfalls weiß nicht, wie es weitergehen soll.“

      „Wir werden uns hier schon zurechtfinden. Allerdings sollten wir zuerst festzustellen, wo der Ausgang des Raumes ist. Um Huhn und Ei können wir uns später kümmern.“

      Piranesi stimmte zu: „Dazu müssen wir nur nach dem Raum mit der großen Inschrift suchen.“

      Die beiden Männer begaben sich in die Richtung, aus der sie glaubten, gekommen zu sein. Schon bald taten sich aber Zweifel auf, ob sie auf dem Hinweg hier nach rechts oder dort nach links abgebogen oder ob sie auf- oder abgestiegen waren. Wo Piranesi sicher war, dass sie aus dieser Richtung gekommen waren, war Salametti ebenso sicher, das es die andere Richtung war. Es dauerte nicht lange, und sie gerieten hierüber in Streit. Ein Wort ergab das andere. Piranesi, der leicht erregbar war, meinte schließlich, Salametti könne ja seinen eigenen Weg gehen. Salametti war daraufhin beleidigt. Er antwortete trotzig, genau das werde er jetzt tun und stieg eine Treppe hinauf. Schon nach kurzer Zeit bekam er es aber mit der Angst zu tun. Er behielt Piranesi im Auge und folgte ihm heimlich. Als Piranesi dies bemerkte, bot er Salametti an, mit ihm wieder gemeinsam auf die Suche zu gehen.

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