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Kosten für die US-Interventionsmacht: 70 Millionen Mark. Jährlicher Blutzoll: 20 Gefallene pro Tag. Insgesamt wurden bisher über 2.700 Amerikaner allein in Südvietnam getötet, und es wurden während der jahrelangen Kämpfe bislang über 120.000 GIs verwundet.“

      Am Ende des Krieges sollten es über 300.000 Verwundete sein; ohne die Zahl der psychisch traumatisierten Soldaten, die mit lebenslangen Albträumen und Psychopharmaka leben mussten.

      Stiehler, unser Sozialkundelehrer, ein 40-jähriger Sozialdemokrat, der schon ziemlich früh aus der Ostzone geflüchtet war, wiegelte ab: „Gegen Totalitarismus muss man auch bereit sein, Waffengewalt einzusetzen.“

      Da war mir der Kragen geplatzt, denn ich hatte einen ganz und gar anderen Totalitarismus im Sinn, als dieser SPD-Cowboy. Dem traute ich nicht mehr über den Weg, nachdem mir Heiner Halberstadt im Club Voltaire einmal erzählt hatte, dass im SPD-Unterbezirk Frankfurt die konservativsten und miesesten Ratten aus den Reihen der DDR-Übersiedler kämen. Die würden jeden Ansatz zu einer friedlichen Koexistenz zwischen den beiden deutschen Staaten torpedieren. Diese Worte und ihre Bedeutung gingen mir damals zwar am Allerwertesten vorbei, hatten aber doch irgendwo mein Gedächtnis erreicht.

      „Ich möchte hier mal auf einen anderen Aspekt des Totalitarismus zu sprechen kommen“, sagte ich, als ich nach Stiehlers Einwurf mein Referat vor der Klasse fortsetzte: „Im fernen Südostasien, weitab des amerikanischen und europäischen Kontinents, verteidigt unser christlicher Westen eine Sache, die wir Freiheit nennen, während andere dies als totalen Massenmord und Massentotschlag bezeichnen. Einige im Westen meinen, es handele sich um einen notwendigen Krieg, um ein unvermeidliches Engagement mit absehbaren Modalitäten.“

      Ich legte dar, dass das „Engagement“ bereits 1965 die systematische Zerstörung von weiten Teilen Vietnams bedeutete. Was war das anderes, als die Rhetorik von Hitlers und Goebbels Frage „Wollt ihr den totalen Krieg?“ Hier wurde die Totalitäts-Rhetorik zu neuer schauerlicher Realität. US-Flieger, ganz normale christlich geprägte Familienväter, hatten allein im ersten Kriegsjahr 63.000 Tonnen Bomben auf Nordvietnam geworfen – die zwanzigfache Menge des barbarischen britischen Luftangriffs auf Dresden 1945.

      Die „gewissen Modalitäten“ waren schon 1965 der Einsatz von Dioxin und Napalm. Dioxin war das schrecklichste, das tödlichste Nervengift im Waffenarsenal der US-Kriegführung. Es wurde als agent orange verschossen und verursachte millionenfache schwere Hauterkrankungen, wie die Clorakne sowie Entzündungen im Nervensystem, wie Gefühllosigkeit, Erblindung, das Zittern von Händen und Füßen, und rief hunderttausende Fehlgeburten, missgebildete Kinder und Krebs hervor. Es zerstörte tausende Quadratkilometer Flora und ließ in der Tierwelt Schäden wie beim Menschen zurück.

      Später, 1968, stand fest, dass über drei Millionen Menschen unmittelbar durch agent orange starben oder lebensbedrohlich erkrankten. Dann wurde bekannt, dass weitere 4,4 Millionen den Folgen erlagen oder lebenslange gesundheitliche Schäden erlitten. Diese Informationen prägten das Denken und Gewissen von uns Jungspunden, die wir nicht mehr im Seligschlummerland leben wollten. Wir wünschten uns keine liebedienerische Regierung, die das Morden gutheißt.

      Wir wünschten uns einen Aufstand des Gewissens. Aber die Alten wären nicht die braunschwarzen Alten gewesen, wenn sie ein Gewissen gehabt hätten. Sie hatten den selbstverschuldeten Weltkrieg hinter sich. Was kümmerte sie jetzt noch die Welt der Anderen? In der eigenen Welt aber, in der die Alten das Sagen hatten, mitten in Westdeutschland, wurde jene Chemikalie für die amerikanischen Streitkräfte hergestellt, die zu derartiger Massenvernichtung in Südostasien Voraussetzung war: Dioxin.

      Laut der US-Arzneimittelbehörde FDA ist Dioxin hunderttausend bis eine Million Mal so erbschädigend wie Contergan. Noch zwanzig Jahre später wurden in Vietnam schwer missgebildete Kinder geboren, 50.000 allein zwischen 1975 und 1985: Unterleiber mit Beinen ohne Rumpf, andere Babys hatten keine Beine oder Arme oder wurden mit offenem Rücken oder gewaltigen Hasenscharten im Gesicht geboren.

      Hergestellt wurde dieses Mördergift in Michigan und – in Deutschland. 47.000 Tonnen dieses Produktes für einen „effizienten“ Giftkrieg wurden zwischen 1962 und 1966 von den US-Streitkräften über Vietnam und Laos versprüht. Was ich plötzlich bei meinen Recherchen zu dem Referat verspürt hatte, war unleugbar Hass. Hass, den ich stets ablehnte. Doch es war unverkennbar Hass auf die deutsche Firma C. H. Boehringer, die damit über Jahre hinweg auch noch saftige Gewinne einfuhr. Damit begann für mich die große Mitschuld der deutschen Pharmaindustrie und der Bundesregierung am Tod von mehreren Millionen Menschen. Es war bestürzend. Aber Stiehler redete weiter daher, als handele es sich um Übertreibungen und überhaupt sei alles nur ein Betriebsunfall. Seitdem waren auch die alten Sozis bei mir unten durch, obwohl ich die Jungsozialisten als ehrliche Typen kennen lernte.

      *

      Ob Otto auch so ein Typ vom uralten Schlag gewesen war? Weil er mein Vater war, wollte oder konnte ich mir nicht vorstellen, dass er im Krieg einer von den Schwei-nen gewesen war. Und noch etwas konnte ich mir absolut nicht vorstellen. Da klärte mich aber sein Nachttischschränkchen auf, in dessen Schublade ich selbstredend noch nie geschaut hatte. Aber eines Tages, als die Eltern unterwegs waren, suchte ich für meinen unerlaubten, inzwischen jedoch schon halbgeduldeten Abendbesuch eine Taschenlampe. Ich hatte mal aufgeschnappt, dass die im Nachtschränkchen von Vater lag. Als ich danach suchte, fand ich drei Büchlein. Das erste trug den Titel DAS KAMASUTRA. Die Kunst der Sinn- lichkeit.

      Das Inhaltsverzeichnis las sich auf den ersten Blick wie eine Menükarte aus einem Kochbuch. Da ging es um die Vorbereitung auf die Liebe, das Berühren und Liebkosen, und natürlich ging es um das Küssen. Weiter ging das Menü mit zig Kamasutra-Stellungen, dann den Ananga-Ranga-Stellungen, was mir sehr nach Verarschung klang, dann kam noch die Duftender-Garten-Stellung bevor das Dessert in eine Nachbetrachtung mit dem Titel Vor und nach der Liebe mündete. Das Schönste aber waren zweifellos die Bilder zu den Liebesstellungen.

      Wenn die erregenden Fotos nicht gewesen wären, hätte ich glatt Lyrik aus den Texten gemacht, etwa so:

       weit geöffnet ein liebesakt

       der in einfacher stellung beginnt der mann liegt oben

       beide partner strecken die beine aus entwickelt sich oft ganz von selbst zur weit geöffneten stellung

       hierbei hebt die frau

       die beine und spreizt sie weit

      Ein anderes Gedicht, das ich aus dem eindeutig interpretierbaren Kamasutra-Text umgeformt hätte, würde so gehen:

       die hoch gerundete stellung

       mit zurückgeworfenem kopf

       wölbt die frau den rücken

       und hebt ihren körper dem partner entgegen

       spreizt die beine weit

       und bietet zum eindringen einen winkel d

       er eine tiefe penetration gestattet

      Gestatten, die Dame? Dann gab‘s da noch die Stellung der Gefährtin des Indra zu sehen. Das konnte nur den Gelenkigsten mit weit überdehnten Sehnen gelingen. Die Stellung ist nach Indrani benannt, der schönen, verführerischen Frau des Hindugottes Indra. In den alten vedischen Schriften war er der König der Götter und gleichzeitig der Regen- und Donnergott. Irgendwann später am Abend, Amy und ich hatten uns super befriedigt, kam meine persönliche Götterdämmerung.

      Die vielen Götter, denen unsere Vorfahren gedient hatten, hatten also – Erkenntnis Nummer Eins – einen vorgesetzten König, der über ihnen stand und den ganzen Laden managte. Immer diese Ideologie vom notwendigen Chef, dem Leitbullen, vom Käpt’n, der das Schiff schon schaukelt! Selbst Götter brauchten sowas. Erkenntnis Nummer Zwei: Die Götter-Burschen und Götter-Mädels waren menschlichem Vergnügen nachgegangen und hatten göttlichen

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