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waren viele von uns überzeugt, dass nur eine Revolution den ganzen autoritären Altersschwachsinn und die braune Pest beseitigen könne. Selbst in der UdSSR, dem Stammland der Revolution, hatte es einen Machtwechsel gegeben. Veränderungen waren hip. Der bullige Leonid Breshnew wurde Generalsekretär der KPdSU. Die Menschen in der Sowjetunion nahmen die neue Führung zunächst mit Zuspruch an. Er stand dann jedoch weniger für etwas Neues, sondern für „politische Stabilität“ – und Reformen blieben aus, schrieb die Frankfurter Rundschau. Das war für uns natürlich völlig uninteressant. Das roch genauso nach Rost und Mief wie hier. Rostmief aus Russland contra Roastbeef aus Amerika.

      Doch all das war weit weg und nur am Rande von Interesse. Amy forderte meine ganze Aufmerksamkeit, denn sie war am Marshallbrunnen eine heißbegehrte Biene. Mein Honigbienchen, wie ich sie manchmal nannte. Ihre Röckchen wurden immer kürzer und ihre Ohrringe immer größer. Sie machte eine Lehre im Einzelhandel und ihr Chef fand ihre Klamotten gar nicht lustig. Deshalb musste sie sich schnell zu Hause umziehen, bevor sie zum Marshallbrunnen kam. Die Jugendmode unterlag dem Modell einer Gesellschaft mit beschränkter Freiheit. Doch in der westlichen Welt feierte der Minirock gerade seine Wiedergeburt, waren doch schon in der Antike Miniröcke sogar als Männerröcke weit verbreitet. Die Britin Mary Quant wurde für ihren Mut und ihre sinnlichen jungen Kreationen später im Jahr mit dem »Order of the British Empire« ausgezeichnet. Zur Verleihung im Buckingham Palace erschien sie im Minirock. Seitdem hielt Amys Chef die Klappe.

      Die Welt wurde außerdem Zeuge der vom chinesischen Machthaber Mao Tse-tung eingeleiteten »Großen Proletarischen Kulturrevolution«, die durch die blutjungen Roten Garden umgesetzt wurde. Das waren Kids in unserem Alter, angeführt von einem uralten Haudegen, das musste man sich mal vorstellen. Von der Beseitigung staatlicher Missstände war die Rede. Einige im Club Voltaire begeisterte das. Da war auch der Joschka Fischer, der das total okay fand, weil, wie Mao sagte, „alle Macht aus den Gewehrläufen kommt“. Und Claudia Roth war auch keine maoistische Kostverächterin. Ich war ein paar Jahre zu jung, um das zu durchblicken. Mein Thema waren die Liebe und die Poesie.

      In Rotchina, wie hier das Land genannt wurde, wurden aus der Kulturrevolution handfeste Massenkampagnen, die zur Dauerdrangsalierung der Bürger und zur Zerstörung wertvoller Kulturgüter führten. Das hat mich von Beginn an stutzig gemacht. Warum musste man alte Kultur zerstören, um neue zu schaffen? Konnte nicht alles nebeneinander bestehen bleiben? In einem Kommentar des Telstar konnte ich mir Luft machen.

      Ach ja, seit Anfang des Jahres war ich Chefredakteur unserer Schülerzeitung Telstar. Die verdankte ihren Namen einem amerikanischen Kommunikationssatelliten. Im Telstar hatte ich noch im Mai 1966 über den Beluga-Wal im Rhein berichtet, der die Menschen in Atem gehalten und wochenlang als »Moby-Dick«-Story die Boulevardpresse beschäftigt hatte. Außerdem gab‘s Kreuzworträtsel, eine Hitliste und natürlich Tipps zur Hausaufgabenbewältigung. Die Hitliste führte im Mai Nancy Sinatra an mit These Boots Are Made For Walking. Das traf unsere Stimmung, denn irgendwie hatten wir uns auf eine lange Wanderschaft gemacht.

      Später im Oktober waren die Beatles mit Yellow Submarine an der Hitspitze, gefolgt von den Troggs mit With A Girl Like You. Die Troggs-Single legte ich auf, wenn Amy da war. Mein Schallplattenspieler war mein ganzer Stolz, unten aus furniertem Holz, darüber eine Glasabdeckung. Der Troggs-Song war im Herbst 1966 unsere persönliche Nationalhymne. Natürlich hatte ich im Telstar noch rechtzeitig vor den Sommerferien ein das ganze Land bewegendes Sportthema aufgegriffen. Nach endlos langer Diskussion mit der Vier-Mann-Redaktion hatte ich nämlich die Telstar-Schlagzeile dem WM-Fußball gewidmet. Zweien von uns war das Thema zu oberflächlich, weil sowieso überall darüber berichtet wurde. Schließlich stimmten wir ab, und es stand 3:2 für meinen Themenvorschlag.

      Deutschland war ins Endspiel gekommen und bestritt das Finale gegen England. Das sogenannte Wembley-Tor entschied die dramatischen 90 Minuten in der Verlängerung zugunsten der Engländer, die zum ersten Mal den Weltmeistertitel gewannen. Ich schrieb den Nachruf eines Sportabiturienten in spe, in dem ich aufzeigte, wie es hätte anders laufen können. Unser Noch-Schulsprecher, Peter Völker, genannt Oma, weil er bei jedem Mannschaftssport einen unbeschreiblichen Schleichgang hinlegte, und ich – wir beide hätten die deutsche Mannschaft treffsicher zum Erfolg geführt.

      Helmut Schön, der Bundestrainer, hätte uns nur anrufen brauchen und Oma hätte den Platz von Sepp Maier im Tor eingenommen und hätte den Gelangweilten gespielt, um die Briten übermütig und somit unvorsichtig zu machen. Und ich hätte anstelle des Franz Beckenbauer im Mittelfeld die Engländer zum Narren gehalten. Als Mittelfeld-Recke hätte ich schließlich mit einem furiosen doppelten Hattrick gepunktet. Haller hätte zwar dumm geguckt, wär mir auf dem Spielfeld aber trotzdem vor gespielter Freude rückwärts auf die Brust gesprungen. Nach einem Foul des gegnerischen Angreifers, einem gewissen Mr. Hurst, hätte ich auch mit gebrochenem Stinkefinger und diversen Rippenprellungen in der 29. Nachspielminute mit einem imposanten Weitschuss direkt von der Mittellinie das alles entscheidende Tor geschossen. Als öffentlichkeitswirksamen Sportlernamen hätte ich mir den Namen Kara Bauerbecken zugelegt.

      Der Bundestrainer hätte in der Sportschau am Abend meinen Ruhm in klare Worte gefasst: „Auch wenn unser ausgewechselter Torwart wenig zu tun hatte, so lastete doch alle Erwartung auf Kara Bauerbecken, der uns nicht enttäuschte. Ein wahrer Stern am Himmel des weltweiten Rasensports. Heute haben wir den neuen Fußballkaiser gesehen.“

      Franz Beckenbauer hätte dann für immer dem Fußball ade gesagt, und Sepp Maier wäre Wurstfabrikant geworden und zum FC Bayern gewechselt.

      Ach, da war er ja schon seit acht Jahren.

      *

      Gegen Ende des Sommers hatte ich fast jeden Tag Lust auf Amy. Und sie gestand mir selbiges. Sie war die beste Knutscherin, die ich bis dahin kannte. Sie war eine zärtlich-extremistische Lippenschnapperin, die schnell mal zu kleinen Bissen übergehen konnte. Sie spielte hervorragend mit ihrem Zünglein. Uschi Obermaier hätte nicht besser küssen können, wenn ich sie gekannt hätte. Doch das hatte 1966 noch etwas Zeit. Einmal hatte ich Amy beim Fremdknutschen erwischt. Das war Scheiße. „Scheiße“ sagte man damals nicht, denn es war derartig ungehörig, dass selbst der ungläubigste Ungläubige Furcht vor Gottes Strafen bekam. Aber das Wort heimlich denken, das durfte man.

      Ausgerechnet einem Typen steckte sie ihre Zunge ins Maul, den ich gar nicht leiden konnte. Aber ich glaube, dass ich keinen hätte leiden können, der von ihr geküsst wurde. Amy spielte es herunter. Ich war eifersüchtig. Da Eifersucht aber nicht in das Konzept einer freien und sexuell-revolutionierten Welt passte, versuchte ich über meine Eifersucht hinweg zu lachen. Es gelang mir leidlich, wie ich mir bis heute fest einbilde.

      *

      An einem Mittwoch im Oktober kam ein Journalist aus München zu einem „Gast-Referat“, wie es Oberstu- dienrat Cornelius nannte, der uns diesen Segen beschert hatte. Wir dachten erst, das würde wieder eines der langweiligen Referate, die wir haufenweise selber produzieren mussten, um uns Schritt für Schritt dem Abi zu nähern. Aber als Herr Rauter vor unserer Klasse stand, erlebten wir einen fröhlichen und wortgewandten Menschen, der uns sogleich aus der Seele sprach.

      Wie er schon nach der Vorstellung seiner Person und einer Kurzskizzierung des Themas sein Referat startete, war ungewöhnlich. So knappe und einleuchtende Texte hatte uns noch niemand vorher präsentiert: „In der Schule werden Menschen gemacht. Den Vorgang des Menschenmachens nennt man Erziehung. Das Elternhaus, das Kino, das Fernsehen, das Theater, der Rundfunk, die Zeitungen, Bücher und Plakate sind Schule in weiterem Sinne. Alle Stellen, die Informationen vermitteln, sind Schulen.“

      Huch, das begann ja mal ganz interessant. Sollte sich Herr Cornelius gar einen Kritiker des Schulsystems in die eigene Pädagogen-Bude geholt haben? Wir lauschten, ohne Rauter zu

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