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Tageszeitung titelt jede Woche: Die Gebildete Nation.

      Nach ein paar Monaten im Haus am Rosa-Luxemburg-Platz wird das Hohe Haus mitsamt der Lichtzentrale in das Gebäude am Werderschen Mark verlegt. Einst hatte dort Hjalmar Schacht residiert. Für Mugele ein riesiges Labyrinth, in dem er sich noch oft verlaufen wird. Der zweite Stock, von einem Posten besonders abgeschirmt, ist dem engeren Kreis des Zentralbüros nebst Mitarbeiterstab reserviert. Dort sitzen Mugeles Kollegen, erfahrene Spezialisten, die ihren Chefs die Reden ausarbeiten. Die Richtung weist Walter Ulbricht. Wenn Bernhard Ziegler zu ihm geht, führt er eine kleine Kladde mit sich, die mit WU beschriftet ist. Er sammelt: Worte des Großen WU.

      Zu Mugeles Obliegenheiten gehört Routinearbeit: Termine vereinbaren, absagen, vertrösten. Das macht keinen Spaß. Aber es gibt immer neu Anfragen, Beschwerden, Eingaben zu Plagen und Vorkommnissen, die eine Kommission für Erleuchtung möglichst umgehend klären möge. Das ist spannend, wiewohl manchmal auch abwegig und nicht zu lösen. So verlangt das Außenministerium dringlich abzustellen, dass in Zentralafrika das Buch über Nobi verbreitet werde, das von einem Afrikaner handele, dem die Tiere des Waldes, und freilich auch die Affen, Beistand leisten. Ein Einheimischer dort sucht oder erfährt Hilfe von Affen – das sei blanker Rassismus. Empörend das Buch, es störe die Aufnahme diplomatischer Beziehungen … Armer verkannter Ludwig Renn, Spanienkämpfer, was hast du dir nur mit diesem liebenswerten Kinderbuch gedacht! – Ähnlich schlimm eine Hiobsbotschaft aus dem Norden: das schwedische Königshaus unterhält zwar noch keine diplomatischen Beziehungen zur DDR, aber wie man die Veröffentlichung eines Tagebuchabdrucks von F.C. Weiskopf in der Literaturzeitschrift beanstanden kann, weiß es bereits. Weiskopf charakterisiere einen jüngst verstorbenen Prinzen als lieb, aber ein wenig dümmlich. Ja, wie soll man da dem ehrenwerten DDR-Außenministerium anderes sagen als: Es ist die Meinung des Genossen Weiskopf. Und: Er kannte ihn. – Der Erfinder einer elektronischen Orgel wünscht sich zur endgültigen Fertigung seines Meisterwerks nochmals eine Tranche Banknoten. – Ein bestallter Universitätsprofessor erbittet über die Kommission für Erleuchtung eine Entscheidung des Zentralbüros, das Wirrwarr bei der Transkription chinesischer Namen und Begriffe zu beenden. Das ginge schon mit der Hauptstadt los, solle man Peking oder Beijng sagen und schreiben, auch Peiping war schon zu hören. Gütiger Weise fügt er eine weitere, von ihm selbst erarbeitete Übertragungsmethode an. – Unbeschwert ist die Anfrage eines Goethe-Enthusiasten und Professors: Der große Dichter habe eine wunderbare Tagesaufgabe formuliert. Unser Professor habe sich den großartigen Text notiert, aber die Quelle sei ihm just entfallen. So wende er sich vertrauensvoll an die mit Erleuchtung Befassten und bitte um eine Nachricht. Auf dem Zettelchen stand:

       Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte wechseln.

      Man sollte. Man sollte. Er, Mugele, kommt zu gar nichts mehr. Ach lieber Koko, man sollte jeden Tag wenigstens einen Papagei kraulen, ihn sanft mit Wasser besprühen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte mit ihm wechseln.

      Mit dem Professor raus in die Bezirke zu fahren ist ein ander Ding, vorn Fahrer und Begleiter von der Sicherheit, hilfsbereite Burschen. Der Chef hat Arbeit mit, Vorlagen, Berichte. Macht sich Notizen, streicht an, erteilt Aufträge. Mugele erstaunt das Arbeitspensum, das werden zehn und zwölf Stunden am Tag sein, wenn’s mal reicht. Die Landschaft wird lieblicher, der Professor entspannt sich, fängt zu singen an, wundert sich, wundert sich nicht, wie sein junger Begleiter einstimmt, Melodie und Text weiß. Sie fahren dem Zupfgeigenhansl entgegen, Wyneken, dem Hohen Meißner mit seiner Basaltkuppe. Und ist doch nur Burg Giebichenstein in Sicht, an der Saale hellem Strande gelegen, wenn’s nur so wäre. Später erreichen sie Thüringen. Ziegler singt eine melancholische Weise, die kennt Konstantin nicht.

       Hier sitz‘ ich auf Rasen

       mit Veilchen bekränzt;

       hier will ich auch trinken

       bis lächelnd am Himmel

       mir Hesperus glänzt. …

       Das menschliche Leben

       ist schneller dahin

       als Räder am Wagen.

       Wer weiß, ob ich morgen

       am Leben noch bin? …

      „Das Lied höre ich zum ersten Mal“, sagt Mugele. „Es klingt wehmütig, korrespondiert gar mit dem Spruch alter Genossen: Kommunisten sind Tote auf Urlaub.“

      „Mag sein“, sagt der Professor, „aber es ist sehr viel älter, stammt noch aus dem 18. Jahrhundert. Mal ist es fort und vergessen, mal taucht es hervor und will gesummt und gesungen sein. Im April 1919 hatte ich nach aufregender Fahrt mit Ludwig Kroeber aus München endlich Moskau erreicht – wir wurden im Kavalerski Korpus untergebracht. Hoch auf den Zinnen des Kreml habe ich das Lied gesungen. Der Abendstern war fern und niemand störte. Wir sollten bedenken und uns daran gewöhnen, wie weit Europa reicht.“

      Moskau, ja dort müsste man einmal hin und ganz in Ruhe, denkt Mugele, aber das sagt er Bernhard Ziegler nicht. Der hatte in Moskau auch bittere Stunden erlebt und sich wieder aufgerappelt. „Fallen, das passiert. Zu den wichtigen Erfahrungen in meinem Leben gehört: Aufstehen lernen!“

      Ob der Chef mit ihm und seiner Arbeit zufrieden ist, Konstantin weiß es nicht genau. Manchmal lacht er, manchmal stöhnt er auf. So lädt die Prinzipalin des Berliner Ensembles den Professor zu einer der sehr lustigen Flinz-Proben ein, merkt im Brief auch an, sie habe in Zürich ausführlich mit einem Agenten verhandelt – der sieht das erschrockene Gesicht des Sekretarius und lacht. – So hält Mugele dem Professor für die Wahlversammlung der Schriftsteller einen Platz in der Mitte frei, der aber strebt stracks zur Wand. Die Standpauke gibt es hinterher:

      „Wenn du einen Saal betrittst, guck als erstes, wo die Türen sind und die Fenster. Begreif doch: Mit dem Rücken immer an die Wand!“ Das ist die Erfahrung des Illegalen, denkt Mugele, und sie leuchtet ein.

      Auch ein Papagei ist ungern umstellt. Er sucht einen Platz, der Schutz verspricht. Drum sind runde Käfige völlig ungeeignet. „In Pankow kenne ich eine Wohnparteigruppe“, sagt Mugele, „in der es nicht schwer fällt, auch betagte Genossen für eine Plakataktion zu gewinnen – aber zu dieser Aktion gehen sie nur nachts. Und im Januar wollen sie ihre LLL-Versammlung haben. Und kriegen sie auch. Und mitten in der Gedenkrede fällt der Strom aus, aber das macht einem LLL-Redner überhaupt nichts, er fährt einfach fort und würdigt sie alle, Lenin, Liebknecht, Luxemburg.“

      „Manche Erfahrung der Illegalität“, sagt Ziegler, „ist einfach angeraten in einer Epoche der Klassenkämpfe – oder sind wir da schon raus? Wenn du zum Beispiel unterschreiben musst, sorg, dass der erste Buchstabe missdeutbar bleibt. Schon suchen sie in der falschen Spalte.“

      Ach ja, die alten Haudegen, denkt Mugele. Und es ist ihnen ernst. Aber vertrauen sie uns Jungen oder tun sie es nicht? – Mugele fischt aus dem Packen der Tagespost, an den Leiter der Kommission für Erleuchtung gerichtet, eine Anfrage der Chefredaktion des Neuen Deutschland: Ob angesichts der aktuellen Kultursituation und der Kaderschwierigkeiten in der Redaktion die Möglichkeit bestehe, Genossen K. Mugele in absehbarer Zeit für eine feste Mitarbeit freizugeben. – O Gott, gegen dieses Angebot hat er sich schon vor sieben Jahren gewehrt. Immer mal hat er eine Rezension, eine Glosse für das Blatt geschrieben und weiß: Redakteure sind Getriebene, es peitscht sie die Zeit. Wortlos legt er das Schreiben dem Professor vor. Der überfliegt den Text, zieht die Stirn kraus und sagt: „Ja, warum eigentlich nicht? Da haben wir dann einen Mann drin.“ Augenblicke später überlegt er es sich anders. Mugele kommt ins Grübeln: einen Mann drin haben in jenem Zentralorgan, das dem Hohen Haus direkt untersteht … Oje, die alten Genossen, kominternerfahren … Aber Ziegler will ihn nicht hergeben. Da spürt er Vertrauen.

      Und

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