ТОП просматриваемых книг сайта:
Alltagsgeschichten aus der DDR. Rainer V. Schulz
Читать онлайн.Название Alltagsgeschichten aus der DDR
Год выпуска 0
isbn 9783742763266
Автор произведения Rainer V. Schulz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Viel zu rasch geht es nach Berlin zurück. Die Familie parterre links ist verstört. Koko hat Schaden angerichtet: neun Büchern hat er den Rücken heruntergerissen und mit der scharfen Schnabelspitze nicht wenige Buchseiten gelocht - in Kügelgens Lebenserinnerungen eines alten Mannes, in zwei Bänden Brehms Tierleben, im Gedichtband Terzinen des Herzens und bei fünf weiteren Kostbarkeiten. „Regle du das, Konstantin“, sagt Isa, „es ist peinlich.“
Tatsächlich ist die Aufregung groß und legt sich erst, als die Tante von der Versicherung, sie wohnt in der Nachbarschaft, den Schaden in Augenschein nimmt. Mugele erläutert: „Hier, im Haushalt der Nachbarn, hat dieser Papagei ohne unseren Auftrag und unser Wissen Schaden angerichtet; Bücherschaden – die Zeugen sind anwesend.“ Flüchtig blättert die Frau in der Kladde mit den Vorschriften und entscheidet: „Die Pflegefamilie ist durch Sie rechtzeitig gewarnt worden. Für so viel Unachtsamkeit können wir nicht aufkommen, leider.“
Die zwei Mädchen stehen bedrippt. Mugele erbost sich: „Gute Frau, wissen Sie eigentlich, wen Sie da vor sich haben? Der Verursacher ist eindeutig Lord Derbys Edelsittich, aber Geld besitzt er nicht.“
„Das entscheiden wir ohne Ansehen der Person“, sagt die Versicherungsdame. Konstantin, die Police aus der Haftpflichtakte zottelnd, entgegnet: „Wegen dieses Papageien sind wir in Ihrer Versicherung, freilich egal aus welchem Geblüt. Wir kündigen, wir kündigen sofort.“
„Nun beruhigen Sie sich doch, Herr Mugele“, begütigt die Beauftragte der Deutschen Versicherungs-Anstalt. Sie entnimmt ihrer Tasche ein Formular. „Fülln se mal erst aus“, sagt sie, „vielleicht lässt sich wat machen.“
„Vielleicht, vielleicht!“ Missmutig nimmt Mugele das Blatt und beginnt auszufüllen, wobei sich seine Laune rasch bessert. Der Text ist logisch und verständlich – wann, wo, was (notfalls mit Beiblatt), Zeugen, voraussichtliche Schadenshöhe? „Schadenshöhe weiß ich nicht“, sagt Mugele. „Die Bücher müssen zum Binder. Die Terzinen des Herzens, Sie sehn es selbst, sind so durchlöchert, da hilft nur Schmerzensgeld.“ Zuletzt ist noch eine kniffliche Frage zu beantworten: Was wurde getan, damit der Vorgang sich nicht wiederholt? Die Versicherungsvertreterin, inzwischen hat sie sich neben Mugele gesetzt, guckt gespannt. Sie hat im Rahmen zweier interner Maßgaben zu agieren: 1. Abwimmeln zugunsten des Volksvermögens, aber keine Kunden vergraulen. 2. Sind die Fragen glaubhaft beantwortet, großzügig sein bei Lappalien. – Ja, was wurde getan, damit sich … Mugele trägt ein: Der Papagei wurde belehrt. – Die Firma ist es zufrieden und – zahlt.
Im Sozialismus ist niemand zufrieden, wenn er belehrt werden soll, und schon gar nicht, wenn sich die Königsebene betut. Auch sind grübelnde, gar philosophierende Parteiführer was Rares im Land. Da fällt Ziegler im Kreis der Pragmatiker auf. Auch in der überraschend angesetzten Diskussionsrunde des Sekretariats – diesmal ohne Thema und in erweitertem Kreis, die notorischen Raucher seitlich unter einer absaugenden Deckung versammelt – stört er mit seinen stolpernd vorgetragenen Thesen zu den Intentionen des jungen Marx. Es gibt Geraune, sodass der Vorsitzende Ulbricht mit einem Stift auf die Tischplatte klopft und Aufmerksamkeit verlangt. „Jeder Genosse hat das Recht, seine Überlegungen vorzutragen.“ Gemeint sind die Könige im Hohen Haus, es sind ja die Unterkönige. Sie kommen aus Bereichen wie Ökonomie, Landwirtschaft, Außenpolitik, mächtige Herrscher mit Hinterland. Die Künste haben, in den Augen der Unterkönige, ein schier ewiges Schicksal: sie bleiben zurück. Und die Zeitungen schreiben es so. Dabei hätten doch gerade die Künste voran zu preschen und Anstöße zu geben. Nein, sie stören nur und sind anstößig. Daran haben Dispute und Konferenzen, zumal die in den Chemieschwaden von Bitterfeld erfolgten, auch die Disziplinierungsversuche danach, nichts ändern können. Die Irrungen, die Missverständnisse wachsen.
Mugele geniert sich wegen des offen bekundeten Desinteresses, das schon beleidigend ist. Nach dem so ergebnislos verlaufenen Disput sagt Professor Ziegler. „Konstantin, es ist nicht so wie es ist.“ – Merkwürdiges Trostwort. Noch zu Haus geht es Mugele durch den Kopf. Wie sollte es anders sein als es ist?
Koko ist ihm zur Begrüßung auf die Schulter geflogen und will gekrault sein, heute ein wenig nur. Schon hört er auf, zärtlich zu sein. Mugele verweist ihn auf seine Schaukel. In Wirtschaft und im Militärwesen, überlegt Mugele, bei Staat und Recht, bei der Industrie, selbst im Sport, überall sind Fachleute gefordert – bei Künsten und Kulturpolitik? Jeder der Mächtigen redet mit, das ist schon in Ordnung. Aber jeder entscheidet auch, freilich nach persönlichem Geschmack, ob ein pikanter sowjetischer Spielfilm, der im ganzen Land läuft, auch in Leipzig gezeigt wird, oder was sich zu Bernau ein Leierkastenmann herausnimmt, auf seiner Drehorgel abzunudeln. Nun Kommission, erleuchte mal. Dabei kann sich der Kommissionsleiter nicht von den eigenen Prägungen freimachen.
Die Theoretiker in der Hauptstadt empfehlen den Autoren plötzlich, sich die Sicht der Königsebene zu erarbeiten. War bislang der Blick von unten gefragt, ja gefordert, zu gestalten, was die Künstler an der Basis, in Betrieben und Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften gesehen und erlebt hatten, war nun mit den neuen Werken, die zu Tage traten, ob der Genauigkeit der Spiegelung der Schrecken groß. Selbst der Dichter KuBa wird wegen seines Theaterstücks Bauernkantate angezählt: er liebe die Bauern nicht. Das behauptet Genosse Ernst Wulf, Vorsitzender einer mecklenburgischen Muster-LPG. Er sagt es auf dem ZK-Plenum, das den Bauernkongress bewertet. Das lässt der dickköpfige Dichter nicht auf sich sitzen, und reicht dem Muster-LPG-Vorsitzenden sein Skript:
„Da, lies erst mal und streich an, womit du deine Behauptung begründen könntest.“ Und vor dem Gremium verlangt er eine Analyse des Stücks, und die wird ihm zugesagt. Aber die versammelten Funktionäre, obwohl manche von ihnen die Bauernkantate in Rostock-Marienehe gesehen hatten, können sie ihm nicht bieten. Der inkommodierte Schriftstellerverband vermag es auch nicht, selbst die unglücklich bemühte Akademie der Künste kommt mit dem Stück nicht zurande, findet zu keiner Verurteilung, und eine Analyse hat sie auch nicht. Und ging es überhaupt um Liebe? – Ein Dichter hat seinen Zeitgenossen den Spiegel vors Gesicht gehalten! Nun soll die Kommission für Erleuchtung den Fall abschließen. Der Vorsitzende lädt die berufenen Kommissionsmitglieder erst gar nicht ein, sondern nimmt die Angelegenheit selbst in die Hand, stößt aber auf beharrlichen Widerspruch des Dramatikers. Besessen, wie Shylock sein Pfund Fleisch verlangt, fordert der: „Versprochen ist eine Analyse des Stücks. Ich will die Analyse haben.“ Lautstark. Bis der Professor entnervt resümiert: „Jedes Ding muss doch ein Ende finden, Genosse KuBa. Man muss auch mal eine Kröte runterschlucken.“
„Wenn du das kannst, Kröten schlucken“, sagt der, „dann schluck. Ich kann es nicht.“
Männerstolz vor Königsthronen? Konstantin ist es von KuBa gewohnt. Und er bewundert ihn. Er selber – ein Lernender. Aufmerksam genug? Gut zwei Jahre ist er jetzt beim Ziegler. Den Professor sieht er kritischer als zuvor.
Der Alte macht aber auch Fehler. Statt angesichts der notorisch geist- und literaturfeindlichen Attacken der Adenauer, von Brentano und Erhard gegen die Schriftsteller eine Bresche für mehr Libertät, mehr Experimentierfreude einzufordern, kommt er dem versammelten Sekretariat mit Marxens Philosophisch-Ökonomischen Manuskripten. Die hat der geschrieben, so was weiß man doch, da war Marx noch gar nicht Marxist.
Der Alte gilt als einfühlsam, wenn er mit jungen Schriftstellern über deren Manuskript disputiert, denkt Mugele, aber wenn er dabei auf eine Textstelle trifft, die er als feindlich empfindet, wird er urplötzlich kiesig. „Du bist verantwortlich für das, was aus dir herausquillt.“ Er beginnt also, mit Fritzing Reuter gesagt, herut zu untersäuken. „Wie kommt so was in deine Feder? In dir muss es doch stecken, wie käme es sonst heraus?“ Und das sagt einer, der frei spricht, anregende Gedanken vorbringt und manchmal Hanebüchenes.
Statt mit dem Werk des viel zu früh verstorbenen Bertolt Brecht zu wuchern, der sich als kommunistischer Künstler die DDR erwählt hatte, um gegen die Alte Welt anzutreten, und nicht eben ein bürgerlich-antifaschistischer Mitstreiter war, verhält sich Ziegler wie alle Moskowiter in der Parteiführung, zaudernd. Aber