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die Lose einzeln heraus, faltete sie auseinander und las die darauf geschriebenen Namen vor. Hierauf streifte er die Ärmel wieder herunter und ersuchte den anwesenden Geistlichen, den Geschworenen den Eid abzunehmen.

      Der Geistliche, ein alter Mann mit gedunsenem, gelblich-bleichem Gesichte, im braunen Priesterrock, mit dem goldenen Kreuz auf der Brust und einem seitwärts davon auf dem Gewand befestigten Orden, trat, die geschwollenen Beine unter dem Priesterrocke langsam vorwärts schleppend, an das unter dem Christusbild befindliche Betpult heran.

      Die Geschworenen standen auf und näherten sich in geschlossener Gruppe dem Pult.

      »Ich bitte,« sagte der Geistliche, während er, das Nähertreten der Geschworenen erwartend, mit der geschwollenen Hand sein Kreuz auf der Brust betastete.

      Als alle Geschworenen die Stufen zu der Estrade hinaufgegangen waren, neigte der Geistliche seinen grauen, kahlen Kopf auf die Seite, steckte ihn durch das Schultertuch, strich darauf sein in Unordnung geratenes dünnes Haar zurecht und wandte sich an die Geschworenen.

      Der Geistliche bekleidete sein Amt bereits seit sechsundvierzig Jahren und wollte in vier Jahren sein Jubiläum feiern, wie es kurz vorher auch der Erzpriester an der Kathedralkirche gefeiert hatte. Seinen Posten beim Bezirksgericht bekleidete er seit der Einführung der Gerichtsordnung, und er war sehr stolz darauf, daß er schon etlichen Zehntausenden von Menschen den Eid abgenommen hatte, und daß er auch in seinem vorgerückten Alter noch fortfahren konnte, zum Wohle der Kirche, des Vaterlandes und seiner Familie zu wirken, welch letztere von ihm dereinst außer einem Hause ein Kapital von wenigstens dreißigtausend Rubeln in Wertpapieren zu erwarten hatte.

      »Heben Sie die rechte Hand auf, und legen Sie die Finger in dieser Weise zusammen,« sprach er langsam mit seiner greisen Stimme, während er die geschwollene Hand mit den Grübchen über jedem einzelnen Finger emporhob und die Finger zusammenlegte, als wollte er eine Prise Schnupftabak nehmen. »Nun sprechen Sie mir nach,« sagte er und begann also: »Ich verspreche und schwöre bei Gott dem Allmächtigen, vor seinem heiligen Evangelium und dem lebenspendenden Kreuze des Herrn, daß ich in dem Prozeß, in welchem ...« sagte er, nach jeder Phrase eine Pause machend. »Lassen Sie aber die Hand nicht sinken, halten Sie sie so,« wandte er sich an einen jüngeren Mann, der seine Hand hatte herabfallen lassen – »daß ich in dem Prozeß, in welchem ...«

      Der respektable Herr mit dem Backenbart, der Oberst, der Kaufmann und alle die andern hielten ihre Hände mit den zusammengelegten Fingern so, wie der Geistliche es verlangte, und zwar taten sie dies sehr exakt und präzise, als wenn es ihnen ein besonderes Vergnügen bereitete, während einige andere die Zeremonie nur lässig und ungern erledigten. Die einen wiederholten die vorgesprochenen Worte zu laut, gleichsam widersprechend, als wollten sie sagen: »Ja, ja, ich will es ja schon sagen!« – und andere wiederum sprachen nur flüsternd und blieben gleichsam hinter dem Geistlichen zurück, um dann, als wenn sie plötzlich Angst kriegten, zur Unzeit das Versäumte nachzuholen; die einen hielten ihre »Prisen« ganz fest, als fürchteten sie, etwas davon fallen zu lassen, und setzten dabei eine höchst herausfordernde Miene auf, während andere die Finger öffneten und wieder schlossen.

      Nach der Ableistung des Eides forderte der Vorsitzende die Geschworenen auf, einen Obmann zu wählen. Die Geschworenen standen auf und gingen, sich gegenseitig drängend, in das Beratungszimmer, wo fast alle sofort ihre Zigaretten hervorholten und zu rauchen begannen. Irgend jemand schlug den repräsentablen Herrn zum Obmann vor, und alle waren sogleich einverstanden. Sie warfen die Zigarettenstummel fort, traten sie aus und kehrten in den Saal zurück. Der erwählte Obmann stellte sich dem Vorsitzenden in seiner neuen Eigenschaft vor, und alle nahmen wieder, einander auf die Füße tretend, auf den Stühlen mit den hohen Rückenlehnen Platz, die in zwei Reihen für sie bereit standen.

      Alles ging ohne Aufenthalt vor sich, ganz rasch und nicht ohne Feierlichkeit, und diese Regelmäßigkeit, Folgerichtigkeit und Feierlichkeit machte den Beteiligten offenbar Vergnügen und bestärkte in ihnen das Bewusstsein, daß sie eine ernste und wichtige öffentliche Handlung vollzogen. Dieses Gefühl hatte auch Nechljudow.

      Sobald die Geschworenen sich gesetzt hatten, hielt der Vorsitzende ihnen eine Rede über ihre Rechte und Pflichten und ihre Verantwortlichkeit. Während er sprach, änderte er beständig seine Haltung: bald stützte er sich auf die linke, bald auf die rechte Hand, bald auf die Lehne oder die Arme des Sessels – jetzt strich er die Ränder des Papiers, das auf dem Tische lag, glatt, und dann tastete er wieder nach dem Papiermesser oder dem Bleistift.

      Ihr Recht bestand nach seiner Darlegung darin, daß sie an die Angeklagten durch Vermittlung des Vorsitzenden Fragen stellen durften, daß ihnen der Gebrauch von Bleistiften und Papier und die Besichtigung der ausliegenden Beweisstücke freistand. Ihre Pflicht bestand darin, daß sie nicht falsch, sondern gerecht richten sollten. Ihre Verantwortlichkeit aber bestand darin, daß sie über die Beratungen nichts nach außen hin verlauten lassen noch auch mit Fremden in Beziehungen treten durften, widrigenfalls sie Bestrafung zu gewärtigen hatten.

      Alle hörten mit ehrerbietiger Aufmerksamkeit zu. Der Kaufmann, der einen Branntweingeruch um sich verbreitete und vergeblich ein lautes Aufstoßen zu unterdrücken suchte, nickte bei jedem Satz beifällig mit dem Kopfe.

      9

      Als der Vorsitzende seine Rede beendet hatte, wandte er sich zu den Angeklagten.

      »Simon Kartinkin, erheben Sie sich,« sagte er.

      Simon sprang nervös in die Höhe. Seine Backenmuskeln, begannen sich noch rascher zu bewegen.

      »Wie heißen Sie?«

      »Simon Petrow Kartinkin,« antwortete er hastig, mit knarrender Stimme – er hatte die Antwort offenbar schon vorbereitet.

      »Ihr Stand?«

      »Bauer.«

      »Aus welchem Gouvernement und Bezirk?«

      »Aus dem Gouvernement Tula, Bezirk Krapiwno, Gemeinde Kupjansk, Dorf Borki.«

      »Wie alt?«

      »Dreiundvierzig Jahre, geboren achtzehnhundert ...«

      »Welchem Glauben gehören Sie an?«

      »Dem rechtgläubigen russischen Glauben.«

      »Verheiratet?«

      »Nein.«

      »Womit beschäftigen Sie sich?«

      »Ich war Korridorkellner im Gasthof ›Mauretania‹.«

      »Haben Sie schon Vorstrafen erlitten?«

      »Noch niemals, ich hab' nämlich alleweil so gelebt ...«

      »Also noch unbestraft?«

      »Ja, so wahr Gott lebt.«

      »Haben Sie eine Kopie der Anklageschrift bekommen?«

      »Ja, die habe ich bekommen.«

      »Setzen Sie sich. Euphemia Iwanowna Botschkowa,« wandte der Vorsitzende sich an die nächste Angeklagte.

      Doch Simon blieb stehen, so daß der Vorsitzende die Botschkowa nicht sehen konnte.

      »Kartinkin, setzen Sie sich!«

      Kartinkin blieb noch immer stehen.

      »Kartinkin, setzen Sie sich!«

      Doch Kartinkin stand und stand und setzte sich erst, als der Nuntius rasch auf ihn zutrat und, den Kopf auf die Seite neigend und die Augen in unnatürlicher Weise aufreißend, ihm in tragischem Flüsterton zurief: »Setzen, setzen!«

      Kartinkin setzte sich ebenso schnell, wie er sich erhoben hatte, schlug die Schöße seines Schlafrocks übereinander und begann wieder, lautlos die Backen zu bewegen.

      »Ihr Name?« wandte der Vorsitzende sich zu der zweiten Angeklagten, ohne sie anzusehen, und blätterte in einem vor ihm liegenden Schriftstück. Er hatte in der Ausübung seines Vorsitzendenamtes eine solche Routine, daß er zweierlei Arbeit auf einmal zu verrichten imstande war.

      Die

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