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Borderliner teil. Sie war Anfang des vergangenen Monats gegründet worden und es ist die einzige Gruppe zum Thema hier in der Gegend. Die Treffen finden zwei Mal im Monat statt. Einschließlich mir selbst sind wir drei Mitglieder, heute kam eine vierte Betroffene dazu. Sie will wiederkommen und die Gruppe auch anderen Borderlinern empfehlen.

      Freitag, 14. Juli 2006, 22 Uhr 6

       Nach drei Stunden Schrägbanktraining habe ich nun wieder mit meiner sterblichen Hülle fusioniert. Ohne Sport müsste ich wahrscheinlich wirklich auf kurz oder lang Antidepressiva nehmen oder wieder kiffen. Zwar habe ich den Konsum von Haschisch und Gras nicht ohne Grund nun schon seit längerem auf besondere Anlässe beschränkt. Zudem habe ich alles aus meiner eigenen Wohnung verbannt, was mit dem Kiffen im Zusammenhang steht. Doch ich denke, im Zweifelsfall würde ich mich für den beruhigenden und entspannenden Rauch entscheiden. Er hat weniger Nebenwirkungen als das Schlucken von Pillen. Ich will ich nicht zu einem Pharmazombie verkommen.

      Ohnehin musste ich meine Erfahrungen machen mit den Ärzten und dem, was sie als Behandlung bezeichnen. Seit man mich im zarten Alter von vierzehn Jahren aufgrund einer Fehldiagnose unnötig am rechten Oberschenkel operierte, das Bein anschließend sechs Wochen lang in Gips steckte und mich danach ohne Rehamaßnahme entließ, habe ich nun jahrzehntelang gehumpelt. Nach wie vor ist das rechte Bein deutlich dünner als das linke, vor allem direkt oberhalb des Knies. Nach einer endlosen Odyssee durch Orthopädiepraxen, die ich wegen meiner Kniebeschwerden auf mich genommen hatte, kam ich schließlich selbst darauf, dass ich nur die Beinmuskeln gezielt hätte aufbauen müssen und außerdem auf dem Sportplatz regelmäßig ein paar Runden hätte drehen müssen, um mir diesen Leidensweg zu ersparen. Keinem der zahlreichen Ärzte, die mich mit diversen Verfahren behandelt hatten, waren derartige Gedanken gekommen.

      Jetzt wird zwar der Zustand des geschädigten Beins von Monat zu Monat besser. Aber dieses langjährige Humpeln, das mir schon so lange Zeit anhaftet, steckt mir im wahrsten Sinne des Wortes tief in den Knochen. Immer noch belaste ich das linke Bein stärker als das rechte, auch wenn ich schon seit längerem Lauftraining betreibe und viel mit dem Rad fahre.

      Eigentlich lege ich alle meine alltäglichen Wege mit dem Fahrrad zurück, jetzt schon seit mittlerweile drei Jahren, im Sommer wie im Winter. Irgendetwas wird mir vermutlich auch das gebracht haben. Allerdings war ich ursprünglich nicht aus gesundheitlichen Gründen vom Bus auf das Fahrrad umgestiegen. Die Kosten für das Monatsticket sind selbst im Sozialtarif noch viel zu hoch, und zudem stellt es eine extreme psychische Belastung für mich dar, über einen längeren Zeitraum hinweg mit Menschen zusammengepfercht zu werden.

      Die Folge solcher Situationen sind häufig innere Abstürze, die auch nicht mit der jeweiligen Busfahrt enden, sondern mich selbst nach meiner Heimkehr noch den Rest des Tages über verfolgen - in Form von Ich-Auflösung, Selbstabwertungen, höhnischen inneren Stimmen, Agonie und Chaos. Jedoch ist auch ein mit dem Fahrrad durchfahrener Winter eine ziemlich unangenehme Angelegenheit und mit dem Rad kommt man natürlich überall immer völlig verschwitzt an.

      Heute habe ich schon wieder zu viel gefressen. In letzter Zeit habe ich erneut zugenommen. Aber immer schön ein Problem nach dem anderen. Zumindest habe ich wieder trainiert.

      Montag, 17. Juli 2006, 23 Uhr 58

      Es zieht mich einfach immer mehr runter, wie sehr ich durch meine finanzielle Situation und meine Erkrankung eingeschränkt bin. Alles, was über eine bloße Existenz hinausgeht, scheint unerreichbar zu sein für mich. Wenn man sich die Entstehungsgeschichte, das zugrunde liegende Trauma meiner Störung ansieht, ist es ein Wunder, dass ich überhaupt noch irgendwas kann, was über ein sediertes In-der-Ecke-Liegen hinausgeht. Schön, das legitimiert zwar meine psychischen und sozialen Defizite, spricht mich mir selbst gegenüber frei vom Vorwurf des Versagens. Aber was nützt mir das letztendlich?

      Soll ich weiter auf ein Wunder hoffen? Oder aber resignieren und meine Situation hinnehmen? Wenn ich Letzteres nur könnte, das würde so vieles einfacher machen! Aber ich kann und will dieses beschissene Leben nicht akzeptieren! Weil es mich zerstört! Ich fühle mich wie ein eingesperrtes Tier!

      Mittwoch, 19. Juli 2006, 23 Uhr 28

      Auf kurz oder lang muss ich weg hier aus Aachen, wo mich alles an meine Vergangenheit erinnert. Seit meiner Geburt lebe ich hier. Ich brauche einfach endlich etwas Neues! Berlin wäre vielleicht ganz gut. Ich glaube, dort könnte es mir gefallen.

      Und dort bräuchte ich mir zumindest nicht mehr den Kopf über einen vernünftigen und bezahlbaren Kampfsportverein zu zerbrechen. Die Auswahl diesbezüglich ist in Berlin deutlich größer. Das Savate-Training an der Hochschule ist zwar besser als nichts, und vor allem ist es äußerst preisgünstig. Doch das Kickboxen liegt mir irgendwie mehr. Zudem ist Savate in Deutschland eine ziemlich exotische Sportart, die nur an ganz wenigen Standorten angeboten wird. Leider hielt ich es in meinem alten Kampfsportverein, in dem auch Kickboxen gelehrt wurde, insgesamt nur etwas mehr als ein halbes Jahr lang aus, bis mich meine psychosozialen Probleme die Flucht antreten ließen. Als ich einige Zeit später wegen eines möglichen Wiedereinstiegs anfragte, wurde das nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen. Die unglückliche Form meines Austritts hatte Anlass zu Fehlinterpretationen geboten.

       Es ist nicht absehbar, wie ich jemals einen Umzug in eine andere Stadt finanzieren können sollte. Wenn kein Wunder geschieht, dann werde ich noch eine ganze Weile hierbleiben müssen. Der Verfügungsrahmen für mein Bankkonto ist mit sechzehnhundert Euro bereits um hundert Euro überzogen. An der Abbezahlung dieser Summe werde ich noch lange zu knabbern haben. Aber falls es mein Schicksal ist, aus Aachen wegzuziehen, dann wird halt tatsächlich irgendein Wunder geschehen.

      Samstag, 22. Juli 2006, 22 Uhr 7

      Derzeit träume ich nachts wieder schlecht. Aber das ist ja in Abstufungen eigentlich fast immer so.

      Mein Leben ist ein Herumtreten in tiefem Morast. Irgendwann ist man außer Atem und sieht Sternchen, aber man ist noch keinen Schritt vorwärts gekommen auf dem Weg zu seinen Zielen. Sind meine Ziele zu hoch gesteckt? Ist ein Scheitern zwangsläufig? Oder ist mein Problem mein Zeitplan, das Ignorieren der Tatsache, wie schwer das psychische Päckchen ist, dass ich mit mir herumtrage? Ich finde, im Vergleich zu einigen anderen, die mein Schicksal teilen, funktioniere ich noch ganz gut. Ich sollte endlich aufhören, mich an den sogenannten Gesunden zu messen und mir mehr Freiräume zugestehen. Es ist an der Zeit, meine Belastung zumindest ein wenig zurückzufahren.

       Wohl bedingt durch meine Durchfälle, habe ich immer öfter mit Muskelkrämpfen zu tun, vor allem während des Savate-Trainings. Nach einer jahrelangen Ärzte-Odyssee wegen meiner Verdauungsstörungen wurde mir kürzlich vom Internisten eine Unverträglichkeit gegenüber Fruchtzucker diagnostiziert. Wie ich im Netz recherchierte, können in solchen Fällen die Moleküle dieser Zuckerart nicht die Wand des Dünndarms passieren, weil ein dafür notwendiges Transportprotein nicht vorhanden ist. Und dieser nicht aufgenommene Fruchtzucker führt im weiteren Verlauf des Verdauungsvorgangs zu einer ganzen Reihe von Problemen.

      Nach all den Jahren, in denen mir kein Arzt helfen konnte bezüglich der Ursache meiner Durchfälle, habe ich irgendwann begonnen, ein Ernährungstagebuch zu führen. In dieses trage ich ein, was ich zu mir nehme und was am Ende dabei herauskommt. Meine Absicht war, durch Auslassen bestimmter Lebensmittel herauszufinden, welche mir Probleme bereiten und welche nicht. Den Faktor Fruchtzucker hatte ich dabei allerdings leider nie auf dem Schirm.

      Bis ich durch das Meiden von fruchtzuckerhaltigen Nahrungsmitteln symptomfrei bin, werde ich jetzt erst einmal eine Weile aussetzen mit dem Kampfsport. Der nächste Savate-Kurs an der Hochschule beginnt im Oktober, nahezu zeitgleich mit dem Wintersemester. Die Zeit bis dahin ist lang genug, um ein oder zwei Dinge in Ordnung zu bringen. Ich sehe das bisherige Training als einen Probelauf. Im Oktober kann ich dann mit einer gewissen Erfahrung wieder loslegen.

      Vorläufig ziehe ich nur mein Grundprogramm durch, bestehend aus Lauf- und Schrägbanktraining. Bereits früher machte ich gute Erfahrungen mit einer Auszeit vom Kampfsport, als ich nach einem Schlaganfall für

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