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schwer misshandelt wurde.

      Und damit bin ich kein Einzelfall. Tagtäglich werden Kinder durch ihre Eltern auf unterschiedlichste und teils grausigste Weisen misshandelt, sowohl seelisch als auch körperlich. Und all dies geschieht mitten unter uns. Statistisch gesehen ist der gefährlichste Ort für ein Kind die eigene Familie. Oft war der Täter als Kind selbst ein Opfer seiner eigenen Eltern. Manchmal erstreckt sich ein solcher Teufelskreis aus psychischer oder physischer Gewalt über viele Generationen.

      Bei diesem Buch handelt es sich um persönliche Aufzeichnungen, die sieben Jahre hindurch einen wesentlichen Teil meiner Erlebnisse und Gedanken widerspiegeln. Im Internet war ich auf Selbsthilfe-Foren für Borderliner gestoßen. In einigen dieser Foren bestand die Möglichkeit, online ein halböffentliches Tagebuch zu führen, welches von anderen registrierten Forenmitgliedern gelesen und kommentiert werden konnte. Schließlich begann auch ich mit einem solchen Tagebuch. Im Laufe der Zeit realisierte ich, dass das Verfassen und - wenn auch lediglich beschränkte - Veröffentlichen meiner Einträge mir nicht nur dabei half, meine soziale Isolation zu durchbrechen. Es war darüber hinaus eine wirksame Möglichkeit, die eigenen Gedanken zu reflektieren und zu ordnen. Die Arbeit an diesem Tagebuch wurde daher zu einem festen Bestandteil meines Alltags.

      Nachdem die Texte des ersten Jahres durch die unerwartete Löschung des von mir favorisierten Forums verloren gegangen waren, begann ich damit, jeden von mir verfassten Eintrag zusätzlich auch auf dem eigenen Computer abzuspeichern. Im Laufe der Zeit wuchs der Textbestand unaufhörlich an und auch der Umfang der einzelnen Einträge nahm allmählich zu. Schließlich erkannte ich, dass ich im Begriff war, etwas Eigenständiges zu erschaffen, das womöglich einen gewissen Wert besitzen könnte. Psychisch Kranke verfügen in unserer Gesellschaft über keine Lobby. Doch mit meinen in Buchstaben gegossenen persönlichen Erfahrungen könnte ich diesem Umstand wenigstens das in meiner Kraft Stehende entgegensetzen, dachte ich mir. Von diesem Punkt aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem ersten Gedanken an eine Buchveröffentlichung.

      Obwohl meine Aufzeichnungen aufgrund ihres nicht-fiktionalen Charakters, ihrer Spontanität und Unmittelbarkeit dem Anspruch eines eingängigen Leseerlebnisses nicht in demselben Umfang genügen können wie ein konstruierter Text, habe ich mich schließlich tatsächlich für eine Veröffentlichung entschieden. In mancherlei Hinsicht mag dieses Buch sperrig, anstrengend und vielleicht sogar verstörend sein. Doch es ist auch unkonventionell, authentisch und erhellend. In seiner Form stellt es gewissermaßen eine Art von Experiment dar. Und hiermit lade ich Sie dazu ein, sich auf dieses Experiment einzulassen.

      Rechtlicher Hinweis

      Die Namen der in dem folgenden Text genannten Personen wurden durch den Autor geändert. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

      Kapitel I - Sommerhalbjahr 2006

      Sonntag, 9. Juli 2006, 18 Uhr 21

      Ein neuer Anfang.

       Die gesamten Einträge meines Tagebuchs, das ich im Forum führte, sie sind unwiederbringlich verloren - ein ganzes Jahr meines Lebens! Alles nur wegen einer einzelnen, durchgeknallten Administratorin, die das Glück hatte, das bedeutendste Selbsthilfeforum für Borderliner von dessen Gründer übernehmen zu dürfen, und die dieses Forum nun in einer Eskalation ihres Narzissmus zerstört hat!

      Das ist ein harter Schlag für mich, nicht nur wegen des gelöschten Tagebuchs. Das Forum war für mich so etwas wie eine virtuelle Heimat. Fast meine sämtlichen Sozialkontakte spielten sich dort ab. Mein fragiles Lebenskonstrukt ist zertrümmert worden.

      Doch solche Situationen sind mir eigentlich vertraut. Sie sind ein Teil von mir, diese ständigen Zusammenbrüche, denen Wiedergeburt und Neubeginn folgen. Nicht ohne Grund bin ich im Netz unter dem Alias Phoenix unterwegs. In dem Phoenix sehe ich ein Symbol für das ewig wiederkehrende und schmerzhafte Sterben im Feuer der eigenen Seelenqualen, aber auch für die hierauf folgende Auferstehung und Erneuerung. Zudem steht er für fortwährenden Wandel. Nachdem ich in der Anfangsphase meiner Netzaktivitäten meinen Alias häufig gewechselt hatte, entschied ich mich schließlich für den Phoenix als einen Ausdruck dieses Wandels. Mit ihm, einem Symbol für Identitätslosigkeit, konnte ich mich endlich dauerhaft identifizieren.

      Wieder einmal ist es an der Zeit für eine Auferstehung. Ich werde mich auf die Suche nach einem anderen Forum machen müssen. Leicht wird das nicht werden. Denn mein bisheriges war das größte und lebendigste Forum mit einem Bezug zum Thema Borderline-Syndrom im gesamten deutschsprachigen Netz. Doch wo immer ich am Ende landen werde, der Verlust von Tagebucheinträgen soll sich jedenfalls nirgendwo wiederholen können. Von nun an werde ich meine im Netz veröffentlichten Einträge zusätzlich auf meinem eigenen Computer abspeichern. Dadurch bin ich unabhängig von dem Fortbestand eines bestimmten Forums oder der Reflexionsfähigkeit eines Administrators.

      Leider habe ich nicht ausschließlich in der virtuellen Welt mit Problemen zu kämpfen, sondern auch in der realen. Und hier sieht es weit weniger nach einer Wiedergeburt aus. Ich stecke in einem tiefen und dunklen Loch. Mit Ausnahme des Laufens bin ich zu keinem Sport mehr in der Lage. Es ist mir jede Energie abhanden gekommen. Kämpfen musste ich ja schon immer, aber nun hat die Situation sich zugespitzt. Ich bin nur noch ein depressives Häufchen Elend.

      Ist mein Leben so unerträglich geworden, weil mein Dispokredit bis zum Anschlag überzogen ist und ich trotz aller Bemühungen bisher nicht einen einzigen Euro davon abzahlen konnte? Oder liegt es an den verdammten Dauerdurchfällen, die kein Ende nehmen wollen? Sind die Ursache stattdessen vielleicht die ganzen zusätzlichen Kilos, die ich mir in letzter Zeit erneut angefressen habe?

      Letztlich ist wohl ausschlaggebend, dass ich nach all den Jahren des Strampelns immer noch keine echte Chance sehe, aus der Einsamkeit, der Erwerbsunfähigkeitsrente mit aufstockender Grundsicherung und dieser ganzen Scheiße mit dem Borderline-Syndrom inklusive einer Sozialphobie herauszukommen. Dieses verdammte ständige Rotwerden! Das ist wie ein bösartiges Tier, das hinter meiner Stirn lauert!

      Wozu noch weiter kämpfen? Ich habe einfach keine Kraft mehr, keinen Anker, keine Ziele und keine Hoffnung. Ich finde, ich habe jetzt wirklich mal etwas Glück verdient! Ich will Geld, ich will ficken und ich will raus aus dieser verdammten Stadt!

      Montag, 10. Juli 2006, 17 Uhr 25

      Es hatte sich bereits etwas Staub auf den Hantelscheiben niedergelassen. Aber ich gehe es wieder an. Es ist wie mit dem Huhn und dem Ei: Treibe ich keinen Sport, weil es mir schlecht geht oder geht es mir schlecht, weil ich keinen Sport treibe?

      Während des Hantelschwingens konnte ich wieder den wohnungseigenen Fernblick bis zum westlichen Horizont genießen, und das bei strahlendem Sonnenschein. Das hier ist eine echte Traumwohnung. Es hat mich viele Jahre gekostet, eine so schöne und vor allem auch ruhige Bleibe zu finden.

      Mittwoch, 12. Juli 2006, 16 Uhr 39

       Beim Laufen vorhin machte sich kurz vor Schluss schmerzhaft die Muskulatur auf der Rückseite des linken Beins bemerkbar. Wenn ich meine Strecke zu diesem Zeitpunkt nicht sowieso schon fast hinter mich gebracht hätte, dann hätte ich abbrechen müssen. Seit dem Frühjahr nehme ich über einen Gaststatus an einem Hochschulkurs für Savate teil, einer dem Kickboxen ähnelnden französischen Kampfsportart. Dort gehen wir in letzter Zeit oft in die Kniebeuge, um das Abtauchen vor gegnerischen Schlägen zu trainieren. Es ist wohl alles ein bisschen zu viel gerade. Dennoch hat mir das Laufen durchs Grüne wirklich gut getan, erst recht bei diesem herrlichen Wetter. Ich habe so ein Glück mit dieser Wohnung und dem näheren Umfeld!

      Doch der Rest Aachens zieht mich einfach nur noch runter. Lieber heute als morgen würde ich von hier fortziehen. Ich habe zu viel Scheiße erlebt in dieser Stadt und ihre allgegenwärtige Vertrautheit erdrückt mich.

      Mittwoch, 12. Juli 2006, 23 Uhr 30

      

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