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so.“, beginne ich, um einen Augenblick zu gewinnen und meine Gedanken zu sortieren. „Der Text lautet ja: ,Die sozialistischen Bruderstaaten: Vorkämpfer für Frieden und gegen Unterdrückung‘. Als Beispiele finden wir hier Angola und Mosambik. Jetzt haben wir uns gefragt, ob es einen historischen Grund gibt, dass der Sozialismus in Europa erfunden wurde und nicht in Afrika.“

      Barbara Kästner schaut mich für einen Augenblick sprachlos an. Robert wirft mir einen erschrockenen, zugleich aber auch imponierten Blick zu. „Das ist eine sehr intelligente Frage.“, stellt die Pionierleiterin fest, so als hätte sie uns so etwas gar nicht zugetraut. „Wie sehen die anderen das?“, gibt sie meine Herausforderung geschickt weiter.

      Sibylle Heinze, deren Vater ein hohes Tier am Gericht ist, prescht mit einer wohl formulierten These vor: „Ich halte es nur für eine Laune der Geschichte, dass die europäische Entwicklung der in anderen Erdteilen vorauseilt. Alle notwendigen Revolutionen auf dem Weg zum Kommunismus wurden bisher auf unserem Erdteil eingeleitet, deshalb musste sich auch der Sozialismus zuerst hier durchsetzen, bevor er seinen Siegeszug auf der ganzen Welt antreten konnte.“

      Das kann Liane Schulze nicht auf sich beruhen lassen. Sie schnippt mit den Fingern, um ebenfalls einen Kommentar beisteuern zu können: „Ich stimme Sibylle zu. Es ist nur ein Zufall. Wie man ja gerade an den Beispielen Angola und Mosambik sieht, können auch Neger sehr gute Sozialisten sein.“

      „Das hast du sehr schön formuliert, Liane.“, lobt Barbara Kästner diese ausgefeilte Analyse.

      „Ich hoffe, damit ist eure Frage hinreichend beantwortet.“, sagt sie mit einem strengen Blick zu Robert und mir.

      Wir nicken brav und senken beide den Blick auf unsere Bücher.

      „Jetzt aber noch zu einem anderen Thema.“ Die Pionierleiterin klatscht in die Hände. „Legt eure Bücher weg! Wir müssen noch über die Transparente sprechen.“

      „Transparente?“, höre ich Olaf nuscheln.

      „7. Oktober.“, klärt ihn Sirko auf. „Es ist wieder Zeit zum Demonstrieren.“

      Aus jahrelanger Erfahrung als Pioniere und FDJler sind wir auf dieses Thema natürlich vorbereitet und haben uns längst Gedanken gemacht. Nicht, dass wir ernsthaft daran interessiert wären, was letztendlich auf dem albernen Transparent stehen wird, das irgendwer vor uns hertragen wird, aber so eine Diskussion ist immer eine gute Möglichkeit, Punkte zu sammeln.

      Roberts Arm schießt nach oben. Barbara Kästner scheint mindestens genauso überrascht wie der Rest der Klasse, denn dass Robert sich freiwillig am Unterricht beteiligt, gleicht einer Sensation.

      „Ja, Robert?“, kommt die Aufforderung zum Reden dann auch sehr zögerlich.

      „Unsere Schule – Kampfplatz für den Frieden!“, schlägt Robert vor, verschränkt die Arme vor der Brust und grinst mich selbstgefällig an. Ich kann ein anerkennendes Nicken nicht unterdrücken. Dagegen kann kein Parteisekretär der Welt etwas einwenden.

      „Ich weiß nicht.“, meldet sich die dicke Yvonne zu Wort. „Das klingt irgendwie komisch, wenn man Kampfplatz und Frieden in einen Satz tut.“

      „Lern du erstmal richtig Deutsch.“, murmelt Robert in seinen Bartansatz hinein.

      „Andere Vorschläge?“, ruft die Pionierleiterin in die Runde und schreibt Roberts Satz an die Tafel.

      Wir sind natürlich nicht die Einzigen, die sich Gedanken zu diesem Thema gemacht haben.

      „Wir lernen für den Frieden.“, schlägt Jan vor.

      „Dank Euch, Ihr Sowjetsoldaten!“, ruft Katja begeistert, wird aber sogleich niedergezischt. „Das hatten wir schon letztes Jahr!“

      „Der Sozialismus – meine Welt.“, sagt Sirko ohne viel Enthusiasmus. Er hat einen todsicheren Standardspruch aus unserem Jugendweihegeschenk ,Sinn des Lebens‘ gewählt, von dem er weiß, dass er nie und nimmer gewählt wird.

      „Viel zu altbacken.“, befindet dann auch Alex.

      „Außerdem stand der schon bei der Jugendweihe an der Wand.“, erinnert sich Kathrin.

      „Olaf, du hattest dich auch gemeldet.“, fordert ihn Barbara Kästner zum Sprechen auf.

      „Für Sozialismus und Frieden?“, nuschelt Olaf.

      Ein überlautes Gähnen aus der letzten Reihe kommentiert seinen Vorschlag. Ich tippe auf Alex, tue ihm aber nicht den Gefallen, mich umzudrehen.

      Der Blick der Pionierleiterin bleibt an mir hängen. Unruhig ruckle ich auf meinem Stuhl herum. Eigentlich hatte ich einen anderen Spruch herausgesucht, aber gerade ist mir etwas eingefallen, was genau zum Thema unserer heutigen Stunde passt: „Solidarität mit den revolutionären Völkern Afrikas!“, schlage ich in der Gewissheit, damit mehrere Pluspunkte sammeln zu können, vor. Barbara Kästners Augenbraue zuckt überrascht hoch, dann wendet sie sich zur Tafel um, wo auch mein Vorschlag notiert wird.

      „Alex, was ist eigentlich mit dir?“ Der stechende Blick unserer Pionierleiterin gleitet in die hinterste Bank.

      „Mit mir?“, stammelt Alex aufgeregt.

      „Ja, du hast bisher noch keinen Vorschlag gemacht.“, setzt ihn Barbara Kästner von seiner mangelnden Beteiligung in Kenntnis.

      „7. Oktober.“, sagt Alex, der sich schnell wieder gefangen hat, selbstbewusst.

      Frau Kästner glotzt ihn indigniert an. „7. Oktober?“

      „Was soll das denn für ein Spruch sein?“, meckert Yvonne.

      „Ist doch prima.“, schaltet sich Jan in die Diskussion ein. „Dann können wir das Transparent den Neuntklässlern vererben, für nächstes Jahr.“

      Er erntet einige Lacher, die unter Barbara Kästners strengem Blick aber schnell wieder verstummen.

      „Wenn man es vom Umwelschutzgesichtspunkt her sieht, ist die Idee gar nicht so blöd. Und auch volkswirtschaftlich ist es eine Verschwendung, dass zweimal im Jahr in der ganzen Republik tausende Transparente und Plakate gemalt werden, die nach ein paar Minuten herumtragen gleich wieder im Müll landen.“, unterstützt Robert den Vorschlag.

      Wir sind alle überrascht, dass Robert so tiefgreifende Gedanken in die Runde wirft, aber keiner ist so fertig wie Barbara Kästner. Mit riesigen Kuhaugen und leicht geöffnetem Mund glotzt sie Robert an. Der fühlt sich durch diese Reaktion offenbar bestätigt, denn er legt noch nach: „In Berlin gibt es ja sogar eine Umweltbibliothek. Das Thema ist also wirklich aktuell.“

      Die Pionierleiterin sieht aus, als müsse sie sich gleich übergeben.

      „Umweltbibliothek.“, brummt Alex von hinten. „So ein Schwachsinn.“

      „Das ist kein Schwachsinn.“, zischt ihn Matthias an.

      „Der Matthias hat noch gar keinen Vorschlag gemacht.“, brüllt Kalle.

      „Kalle, diese miese Ratte.“, flüstert Robert mir zu. „Was soll unser Christ denn schon beitragen?“

      Ich nicke in stummem, empörtem Einverständnis, doch jetzt kommt Matthias nicht mehr vom Haken.

      „Frieden schaffen, ohne Waffen!“, dringt seine tiefe Stimme durch den Raum.

      Barbara Kästners Kopf zuckt unruhig auf ihrem schmalen Hals vor und zurück. Ein angespanntes Raunen wabert zwischen den Tischen hin und her. Ich muss Matthias für seinen Mut bewundern, auch wenn er mir an dieser Stelle reichlich verschwendet erscheint.

      Ausgerechnet Juliane, die Oberstreberin, kommt Matthias zu Hilfe. „Wie wäre es mit ,Die Jugend kämpft für den Frieden!‘?“, schlägt sie vor. „Das würde Matthias‘ Intention wiedergeben und gleichzeitig besser auf unsere Situation passen.“

      Die Pionierleiterin wirft Juliane einen dankbaren Blick zu und schreibt ihren Vorschlag unter die anderen.

      Nachdem es zuerst so viele Vorschläge gehagelt hatte, hat plötzlich

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