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Bis Utopia. Marlon Thorjussen
Читать онлайн.Название Bis Utopia
Год выпуска 0
isbn 9783742761620
Автор произведения Marlon Thorjussen
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Er entledigte sich seiner restlichen Kleidung im Flur, stopfte Socken, Unterhose und Unterhemd in den Wäschekorb im Schlafzimmer und stellte sich unter die Dusche.
Heißes Wasser wusch dem Mann seinen Schweiß von der Haut. Er schob den Duschvorgang zur Seite und betrachtete sich beim Duschen im Spiegel des Spiegelschrankes. Nicht groß war Peer und nicht fett war Peer. Ein paar Haare am Körper hatte Peer. Der Spiegel ließ sich schnell bedunsten und verschleierte so das mittelmäßige Antlitz des Peer Flint.
Peer begann damit, sich die Brust zu rasieren. Er kühlte eine Einwegrasierklinge mit kaltem Wasser und schmierte seinen Oberkörper mit Rasiergel ein. Dann entfernte er fein säuberlich jedes Haar, das er sehen konnte. Er machte mit seinem Schamhaar weiter, rasierte sich die Hoden und die Achselhöhlen. Die paar Haare um seinen After herum ließ er aus, denn darin hatte er einfach keine Übung. Und einen Schnitt dort stellte er sich unangenehm vor.
Bei ihm hatte eben alles für ihn Relevante immer irgendwie funktioniert, wenn auch nicht immer erfolgreich. Eine Afterrasur hatte bisher noch keiner für relevant erachtet, wenn es um Peer ging. Wahrscheinlich war Peers Arschloch einfach wenig interessant für die Damen gewesen, mit denen er sich im Laufe seine Lebens vergnügt und abgemüht hatte, und daher blieb dort ein Haarkranz stehen, der zarte Ausläufer an seinen Hinterbacken zu bilden wusste. In unregelmäßiger Form gingen die braunen Härchen, die seinen nie bestaunten Hintern bedeckten, in seine etwas dichtere Beinbehaarung über, diese aber - scheuernder Bewegungen im Alltag sei Dank – wies an einigen Stellen Lücken auf. Vor allem an den Innenseiten seiner Oberschenkel, knapp oberhalb der Kniekehlen, fehlten dem nackten Mann Haarpolster, was daran lag, dass er eben diese Körperstellen gerne über sein Bürostuhlpolster scheuerte. Dies geschah ganz automatisch während der Arbeit, stellte aber kein ästhetisches Problem dar; denn selbst, wenn Peer es je schaffen würde, eine Partnerin zu finden, die sich ernsthaft für jedes Detail seines Körpers interessierte, würde sie sich noch immer nicht genug für seine Merkmale interessieren, dass ihr nicht viel eher der überflüssige Haarkranz zwischen den oberen Enden seiner Oberschenkel auffallen würde als die nackten Flächen an den unteren Enden seiner Oberschenkel.
Peer wusch sich ohne Gedanken an seine eigenen körperlichen Unzulänglichkeiten den Schaum, die rasierten Haare und ein wenig Blut vom Leib und schloss den Duschvorhang wieder. Der Spiegel war kurz darauf völlig beschlagen und bestreikte prophylaktisch jeden aufkommenden Narzissmus.
Das Wasser floss durch die Leitung unter seinem Badezimmerboden entlang, traf dann in Lage der Badezimmerecke auf die Hauptabwasserleitung des Hauses und fiel dann einfach in die Tiefe. Zufälligerweise führte dieses Rohr auch durch die Küche des Mongolen, der gerade den Frust über seine Erfolglosigkeit an seiner Frau in der Form ausließ, als dass er versuchte, ihrem Gesicht mit bloßen Händen eine Tonleiter zu entlocken.
Er scheiterte kläglich, denn ihre stoische Art gönnte ihm nicht einmal ein paar variierte Ausdrücke des Schmerzes. Stattdessen rauschte es nur für ein paar Sekunden, wieder einmal, durch die Küche und der Geschäftsmann ließ von seiner Frau ab. Er stampfte wütend auf und verfiel dann in jämmerliches Gezetere und Geheule.
Peer, der ja irgendwo auch eine Mitschuld an den Dramen in dem Bistro trug, trocknete sich ab, rubbelte sich das Haupthaar anschließend halbtrocken und besah sich dann noch einmal im Spiegel, nachdem er mit dem Handrücken wieder klare Sicht geschaffen hatte.
Da stand er noch immer, völlig unverändert, und blickte aus wachen und doch verwirrten Augen in sein eigenes Gesicht. Krampfhaft suchte er Veränderungen, wurde aber nicht fündig.
Das Gesicht hatte er ja schon am Morgen rasiert, das Haar war nicht so kurz, dass es ihm unangenehm war, sondern so, dass man noch gerade hindurch wuscheln konnte. Leider ließen sich damit die Geheimratsecken, die sich langsam ausbildeten, nicht mehr kaschieren. Peer störte sich aber wenig daran.
Er dachte darüber nach, wie es möglich sein konnte, dass gerade er als genetisches Musterexemplar herhalten sollte. Und weil ihm nichts Besseres einfiel, fragte er Gott um Rat.
Doch der antwortete nicht.
Deshalb kehrte Peer zu seinem ursprünglichen Plan zurück, nämlich, sich im Karpfenschlund ein paar Bier zu genehmigen. Er zog sich an, schlüpfte in seine Winterschuhe, weil diese gerade am nächsten standen und in seine unscheinbarste Jacke und ging. Beim Schließen der Tür kam er nicht umhin, Rubens Arbeit zu bewundern: Die Tür war wie neu. Sie quietschte nicht und das Schloss lief geschmeidiger als je zuvor.
Auf dem kurzen Weg zur Kneipe versuchte Peer, an nichts zu denken. Stattdessen sah er ständig auf sein Handy. Irgendwer würde vielleicht anrufen und ihm sagen, dass alles ein großes Missverständnis war. Schließlich war es ja auch der erste April und an genau diesem Tag konnte alles Mögliche passieren. Gummispinnen, gefälschte Todesanzeigen und Genexperimente waren, so versuchte er es sich einzureden, dem ersten April doch eindeutig immanent.
Doch niemand rief ihn an und er folgte seinem Weg zielstrebig. Die letzten Winterblumen waren verblüht und kümmerten bräunlich vor sich hin. Nackte Bäume flankierten Peers immer gleichen Pfad zur Kneipe, deren Namen man mit verbogenen Hufeisen an die Tür geschweißt hatte.
Wie zu erwarten, war Peer nicht der einzige Gast, aber keiner seiner Freunde war hier. Es roch nach Zitrone und dem Knoblauchatem einiger Gäste – ein vertrauter Duft. Das Rauchen war hier schon einige Zeit untersagt, aber insgesamt hätte es die Luft wohl nicht noch mehr verpestet. Peer kam auch nur hierher, weil er hier halt seine Freunde traf.
Vor ein paar Jahren hatten sie eine Karte der Stadt genommen und waren dann gemeinsam zur geographischen Mitte zwischen ihren Wohnungen gepilgert. Damals fanden sie sich dann an einer Tankstelle wieder, die ihnen als Sozialisationspunkt aber denkbar ungeeignet schien. Der nette Herr von der Nachtschicht hätte gewiss einen guten Wirt abgegeben – darin waren die drei sich einig – aber es fehlte an Gemütlichkeit. Darum fragten sie den Tankwart einfach, wo denn die nächste Kneipe sei und der verwies auf den Karpfenschlund. Und seitdem ging man hier eben hin. Man hinterfragte es nicht, denn es war die Kernqualifikation dieses Etablissements, einfach erreichbar zu sein.
Man störte sich auch nicht an Koi, dem Barkeeper, der zur Begrüßung meist einfach nur nickte. Er war ein bulliger Japaner, der irgendwann mal aus Düsseldorf kam, diesen Laden kaufte und nun betrieb er eben eine Bar. Niemand wusste, wie alt er war, was er mal gemacht hatte und wohin er wollte. Es war generell schwierig, sich mit ihm zu unterhalten. Nicht, weil seine Deutschkenntnisse nicht ausreichend gewesen wären (im Gegenteil: Koi sprach kein Wort Japanisch und beherrschte lediglich Deutsch und Englisch), sondern weil er einfach ein Mensch war, den man als Außenstehender auf seine Aufgabe reduzieren konnte. Und das verkörperte Koi auch einfach und widmete sich in der Regel nur den Aufgaben, denen man sich als Wirt zu widmen hatte.
Also brummte Koi, dessen Name eigentlich Yoshihiro Yamamoto war, seinen Stammgast nur zu, nickte und machte sich daran, ihm das Getränk seiner Wahl zu servieren: Fassbier, kurz gezapft, keine Schönheit in der Schaumkrone. Dieses Fassbier war auch das einzige Bier, das Koi anbot, denn es war dieses mit der besten Gewinnmarge. Ansonsten konnte man noch verschiedene Weine bei ihm ordern, für die er einen halbwegs erlesenen Geschmack hatte, was aber kaum ein Gast würdigen konnte, oder eben die klassischen Spirituosen. Aus sämtlichen Mixgetränken machte sich der Wirt nicht viel, weshalb er dem Ordern eines Gin Tonic, Bourbon Cola oder Wodka Lemon meist mit einem zusammengekrampften Mund, der Kois wahnsinnig spitze Eckzähne komplimentierte, begegnete. Freilich gab es im Karpfenschlund keinen Sake. Oft genau darauf angesprochen, kommentierte Koi diese dumme Frage mit immer neuen pampigen Antworten.
„Habe den Reis dafür gefressen!“ war eine davon. Andere Variationen waren: „Musste ich den Yakuza als Schutzgeld überlassen!“ oder „Zum Sushi?“.
„Früh dran“, kommentierte Koi Peers Erscheinen und machte sich daran, ein Bier zu zapfen.
Und wie gern hätte er sich währenddessen eine Zigarette angezündet, aber er war sich nicht einmal sicher, ob er als Wirt genug Hausrecht hatte, um dies zu tun. Nun hatte