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einer Schwester seines Vaters, die in der kleinen Stadt am Ende des Tales wohnte, waren schon drei Kinder der Casserinos untergebracht. Und mehr passten in das Häuschen einfach nicht hinein. Sehnsüchtig wartete Tommaso darauf, dass am Samstagabend seine Geschwister heimkamen und ihm von der Schule berichteten.

      “Bitte, bitte erzählt! Was hat der Lehrer euch erklärt?“, bettelte er.

      Francesco, sein ältester Bruder, meinte genervt: „Jetzt sei endlich ruhig, ich bin froh, wenn ich nichts mehr von der Schule höre. Ich freue mich schon auf den Sonntagnachmittag, wenn ich wieder in der Stadt bin, dann muss ich mir nicht mehr deine ständige Fragerei anhören.“

      Die Frauen der Landarbeiter, die auf ihrem Weg zu den Feldern oft bei ihnen vorbeikamen, wuschelten ihm immer durch seine tiefschwarzen Locken und küssten ihn auf beide Wangen. Dabei kreischten sie: „Ach was für ein süßer kleiner Kerl.“ Er zog seine Stirn in Falten und versuchte, mit seinen schwarzen Kulleraugen so finster wie möglich drein zu schauen. Dieses Getue konnte er überhaupt nicht ausstehen. Natürlich hatte das aber auch sein Gutes, die Frauen steckten ihm immer etwas Süßes zu. Wenn er sie jedoch rechtzeitig kommen sah, suchte er schleunigst das Weite.

      Die Casserinos, das heißt seine Eltern und seine zehn älteren Geschwister, wohnten in den Grotten am Fuße des hohen Schlossfelsen. Dabei hatten sie es bei Weitem noch besser als die einfachen Landarbeiter. Als Ziegenhirte war sein Vater für eine vielhundertköpfige Herde verantwortlich, seine Mutter betreute die Imkerei.

      Es gab drei Höhlen hier unten, eine große für die neu geborenen und kranken Ziegen. Außerdem zwei Kleinere für die Familie des Hirten - eine Schlaf- und eine Wohnhöhle. Die Kinder jedoch schliefen, sobald sie alt genug waren und nicht mehr bei der Mutter sein mussten, meist unterm überhängenden Felsfuß im Freien. In der hinteren Schlafhöhle sollte es einen geheimen Abgang aus der Villa hoch oben geben. Aber Tommaso wusste nicht wo – der war ja schließlich geheim.

      Schwer lastete die Hitze über dem Tal, besonders jetzt im außergewöhnlich heißen Sommer 1731. Kein Lüftchen wehte über die kahlen, spärlich mit vertrocknetem Gras und Flechten bedeckte Hügel und Berge aus Kalkgestein. Es war wieder einer der drückend heißen Tage im Landesinnern Siziliens. Keine Bäume, nur hin und wieder ein paar Sträucher die etwas Schatten spendeten. Tief eingeschnittene und steil abfallende Täler durchzogen die Landschaft. Des Öfteren waren die Flächen von sauber aus Bruchsteinen aufgeschichteten Mauern in Parzellen geteilt. Selbst jetzt noch am späten Nachmittag flimmerte das Sonnenlicht über den blanken, weißen Felsen. Ab und zu huschte eine Eidechse über einen Stein.

      Nur unten in der tief eingegrabenen Talsohle herrschte selbst im Hochsommer eine angenehme Kühle. Einige Eukalyptusbäume, Weiden, Ulmen, etwas Ginster und sogar ein paar Feigenbäume säumten den kleinen Fluss, der sich mühsam seinen Weg über den steinigen Grund suchte.

      Zur Aufgabe des aufgeweckten Jungen gehörte es, am Tag auf die Herde der Jung- und Muttertiere aufzupassen und abends die Ziegen ins Melkgatter zu treiben. Seine Mutter und seine älteren Geschwister molken dann die Tiere. Er musste hierbei aufpassen, dass nicht aus Versehen die Jungböcke mit ins Gatter gerieten. Das war ihm schon zweimal passiert und bedeutete dann jedes Mal kein Abendessen für ihn.

      Aber jetzt am Tag war für ihn die schönste Zeit: Irgendwo im Schatten liegen und auf die Ziegen aufpassen. Er träumte dann immer mit offenen Augen vor sich hin. Manchmal kam seine Mutter Franca vorbei und brachte etwas Melone und einen kleinen Krug verdünnte Ziegenmilch. Wenn sie gut gelaunt war, erzählte sie ihm Geschichten.

      Am häufigsten, wie sie Tommasos Vater kennengelernt hatte:

      „Es war damals, vor über zwanzig Jahren auf dem Markt in Palazollo Acreide“, begann Franca ihre Geschichte. „Dein Großvater und ich, wir waren bereits vor dem Morgengrauen von unserem Zuhause, einer kleinen Hütte unterhalb der Bergspitze des Monte Cortessa, einem der höchsten Berge hier in der Gegend, heruntergekommen, um auf dem größten Markt des Jahres unseren Honig anzubieten. Das Fest des San Sebastiano war eine große Prozession und das schönste Ereignis des Jahres. Gerne hätte dein Großvater auch einmal die schwere Statue des Heiligen mit um die Piazza getragen, aber er durfte nicht. Das war nur den Meistern und Gesellen aus der Stadt erlaubt, die zu den Zünften gehörten. Man feierte damals mehrere Tage. Zum Abschluss gab es den großen Markttag, bei dem die Bauern der Umgebung und manchmal von weiterher angereiste Händler ihre Waren anboten.

       Wir waren bereits mehrere Stunden unterwegs, als wir an der Hängebrücke ankamen, die in schwindelerregender Höhe über dem Fiume Anapo führte. Ich hatte jedes Mal Angst, über das schwankende Holz zu laufen. Immer wieder konnte man durch den Bretterbelag tief nach unten in den reißenden Fluss sehen. Vorsichtig auftreten, sich gut am Geländerseil festhalten und aufpassen, dass kein morsches Brett dabei ist, hatte mir mein Vater eingeschärft. Ich blickte auch immer nach allen Seiten, ob nicht gerade ein Carretto, ein zweirädriger Eselskarren, die schaukelnde Konstruktion passieren wollte. Hierbei schwankte die Brücke nämlich immer besonders heftig. Je näher wir der Stadt kamen, desto mehr drückte der Korb mit den Waren auf meinen Rücken. Die trutzige Ansammlung von stattlichen Häusern, die alle nach dem großen Erdbeben vor etwa 30 Jahren neu errichtet worden waren, ragten hoch über dem steilen Felsen auf.

       Ich trug die Hauptlast, mein alter Vater hatte nicht mehr so viel Kraft, seine Beine wollten nicht mehr so wie früher. Er war ein sizilianischer Bergbauer mit wettergegerbtem Gesicht und von kleiner, schmächtiger Statur. Sommer wie Winter in der gleichen Filzjacke. Meine Mutter war bei meiner Geburt gestorben. Und seit Zia Chiara, die Schwester meines Vaters, die mich wie ihr eigenes Kind aufgezogen hatte, bei einem Unwetter vom Blitz erschlagen worden war, lebte ich mit deinem Großvater alleine auf dem Berg.

      Der wilde Ginster tauchte den Berg im Juli in ein gelbes Blütenmeer. Der Duft war im wahrsten Sinn des Wortes berauschend“, Franca schnaufte durch und versuchte sich daran zu erinnern. Nach einer kleinen Weile fuhr sie fort: „Es war die schönste Zeit im Jahr. Die Natur hatte uns unsere wichtigste Einnahmequelle geschenkt. Die von deinem Großvater gehegten und gepflegten Bienenvölker waren ausgeschwärmt und hatten reiche Ernte in die Stöcke gebracht. Dann im Herbst schleuderten wir den Honig und vermischten ihn mit verschiedenen getrockneten Blüten. Die zäh fließende Masse wurde in irdene Amphoren abgefüllt und dann mit Korken und Bienenwachs versiegelt. In diesen Krügen hielt sich der Bienenhonig frisch. Einen Teil verarbeiteten wir auch zu Wein, Likör und vor allem zu Süßigkeiten. Die Dolce de Miele erfreute sich auf jedem Markt größter Beliebtheit. So konnten wir davon recht gut leben. Gemüse und Obst bauten wir auf weiter unten am Berg liegenden Feldern an.

       Hier gab es noch aus der Zeit von Kaiser Friedrich sogenannte Freiflächen, auf denen die armen Leute ihren Bedarf anbauen durften. Gegen die wilden Ziegen - und eventuell neidischen Nachbarn - war jede Parzelle mit einer mannshohen Bruchsteinmauer umwehrt. Manchmal gab es damals auch ein wildes Kaninchen als Sonntagsbraten, das sich in einer der von deinem Großvater aufgestellten Fallen verirrt hatte.

       Unsere Hütte hatte schon der Großvater meines Vaters errichtet. Sie war aus aufgeschichteten Felssteinen erbaut und unter einem Felsvorsprung angelehnt, der im Sommer Schatten spendete und im Winter vor starken Regen, manchmal auch Schnee, schützte. Jeder von uns besaß ein einfaches Kleidungsstück und eine warme Wolldecke. Viel mehr hatten wir nicht - aber brauchte man mehr? Richtige Schuhe hatte ich in meinen vierzehn Jahren noch nie besessen. Heute aber, hatte Vater mir am Abend versprochen, sollte ich ein paar Schuhe aus Leder und ein neues Kleid bekommen.

       Nach dem Passieren der Hängebrücke erreichten wir zügig die alte Provinzstadt und einstige Sommerresidenz des Siracuser Adels, Palazzolo Acreide. Gleich nach dem Südtor bogen wir auf die Piazza ein und da sah ich ihn. Wir schauten uns in die Augen und ich starrte ihn an, den gut aussehenden, braungebrannten Hirten, erkennbar an seiner Tracht, mit der Mütze und dem Stab. Erst als ich stolperte, erwachte ich aus meiner Erstarrung und senkte den Blick. „Komm weiter, sonst sind die besten Standplätze weg“, ermahnte mich mein Vater.

       Plötzlich entstand kurz vor uns ein Tumult und Geschrei. Ein wildgewordener tonnenschwerer Stier hatte sich losgerissen

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