Скачать книгу

      »Wirklich?«, fragte Balor bissig. »In Kas’Tiel hast du jede meiner Ideen verworfen und auf dem Schiff hast du mich herumkommandiert wie einen Lakaien!«

      Jamil hob beschwichtigend die Hände. »Balor, du weißt, dass das so nicht stimmt. Ich war im Gegensatz zu dir schon auf mehreren Handelsfahrten für Vater unterwegs und kannte mich deshalb etwas besser aus. Aber das ändert nichts daran, dass wir das ohne dich nie geschafft hätten.«

      Sein kleiner Bruder ballte die Fäuste. »Das hätte alles ganz anders kommen müssen bei dem Angriff.«

      Jamil unterdrückte ein Seufzen. »Wir haben das schon unzählige Male durchgekaut, Balor.«

      »Gut, dann weißt du ja auch, dass ich nicht von meiner Sicht abweichen werde. Vater hat fatale Entscheidungen getroffen und du auch! Du …«

      Gerade als er sich in Rage reden wollte, unterbrach er sich selbst. »Riechst du das?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.

      Jamil schnupperte in den Wind. »Nein, was?«

      »Das ist Rauch.«

      Zuerst wollte Jamil etwas Schnippisches über ihre Lagerfeuer in der Senke erwidern, bis ihm auffiel, dass der Wind aus der anderen Richtung kam, vom Wald her, der völlig unberührt wirkte.

      Sein Bruder zog das Messer und eilte den Hügel hinauf, wo ein großer, mächtiger Baum stand.

      Statt einer Horde Angreifer fanden sie dort aber lediglich einen dürftigen Pfad, der zu den knorrigen Wurzeln des Baumes führte. In den tiefen Furchen der Rinde lagen kleine geschnitzte Figuren und welker Blumenschmuck.

      Balor steckte langsam das Messer weg und hob eine der Götzen auf, drehte sie zwischen den Fingern und streckte sie dann Jamil hin.

      »Hier in der Nähe leben Menschen. Und dem hier nach zu urteilen sind es irgendwelche Wilden, die diesen Baum verehren!«

      Jamil nahm ihm die Schnitzerei ab, die eine kleine Frauengestalt mit langem Zopf darstellte. »Ich würde nicht so schnell urteilen. Wir könnten Glück haben und auf Leute treffen, die uns helfen. Wir haben viel durchgemacht und könnten Unterstützung gebrauchen.«

      »Das sind Fremde! Wir dürfen niemandem trauen!«

      Auf einmal hatte Jamil das Gefühl, dass sein Bruder stur das wiederholte, was ihr Vater schon gesagt hatte. »Balor, ich bitte dich, mach jetzt keinen Fehler. Wir sind hier die Fremden.«

      Balor schnaubte. »Keine Sorge, Bruder. Ich mache keine Fehler mehr, das habe ich zur Genüge in Kas’Tiel getan, als ich dich Entscheidungen fällen ließ, die uns alle angingen!«

      Jamil spürte, dass sich die Wut seines Bruders nicht nur gegen ihn, sondern gegen die ganze Welt richtete.

      Lezanas Vater und Aldo hatten die Heirat mit der Königstochter geplant – nicht er. Doch in Balors Augen schien das nicht relevant zu sein.

      Er wollte ihn trösten, ihm beistehen, aber sein jüngerer Bruder war schon auf der ganzen Schiffsfahrt unnahbar gewesen.

      Jetzt wandte er sich ab und murmelte, dass die anderen Jäger auf ihn warteten und er erst in ein paar Tagen zurück sein würde.

      Natürlich waren die Wochen auf dem Schiff nicht ohne Spuren an ihnen vorbeigegangen. Alle Mitglieder ihrer kleinen Gemeinschaft waren vor ihrer Flucht das ruhige, friedliche Leben in der sicheren Handelsstadt gewohnt gewesen … nur durch Glück konnten sie jetzt tüchtige Handwerker und ein paar Jäger zu ihrer Gruppe zählen.

      Der Zufall – oder laut der Seherin wohl eher der Wille der Götter – hatte bestimmt, wer auf das Schiff gelangt war und daher überlebte.

      Doch diese Ereignisse rechtfertigten nach Jamils Meinung nicht das Verhalten seines Bruders.

      Seufzend betrachtete er die vertrockneten Blumenketten zwischen den Wurzeln, setzte sich hin und lehnte den Kopf an den Stamm.

      »Nur einen Moment Ruhe, bevor es weiter geht und unser neues Leben beginnt«, murmelte er und sah hinauf in die prächtige Krone des Baums, bevor er die Augen schloss und matt lächelte. »Immerhin den Baum kann nichts erschüttern. Ich werde dafür sorgen, dass er den Äxten nicht zum Opfer fällt.«

      Seine Gedanken kreisten noch um die Pläne seines Vaters, als er hinabsank, in die Tiefe von Erschöpfung.

Bild3

      Wasser. Es sprudelte aus allen Ritzen im Schiffsbauch, in dem er eingeschlossen war. Innerhalb eines kurzen Atemzugs hatte es das halbe Schiff gefüllt, riss ihn von den Füßen und trieb ihn nach oben.

      Jamil sah nur noch Spiralen aus tanzenden Luftblasen. Sein Kopf prallte gegen das Zwischendeck. Er schlug mit den geballten Fäusten gegen die geschlossene Luke über sich und brüllte, doch das Wasser zog ihn bereits in die Tiefe. Es zerrte an seiner Kleidung, während die Luft aus seinen Lungen wich … Alles wurde schwarz … und plötzlich waren da Flammen! Das Wasser selbst schien sich zu wandeln, wurde zu einem Feuerball, der alles um ihn verschlang.

      Gesichter, voller Asche und schwarz angesengt, tauchten zwischen den Flammen auf, starrten ihn aus toten Augen vorwurfsvoll an … Er sah Freunde aus Kas’Tiel, den Vater von Felik und Farnir … die alte Mutter von Marifa … so viele bekannte Gesichter. Er musste ihnen helfen, sie aus dem Feuer holen! Doch wenn er die Hände nach ihnen ausstreckte, zerfielen sie zu Ruß und Kohle und verschwanden. Sein Grauen wuchs und wuchs – bis Lezana in den Flammen erschien.

      Lezana. Tochter ihres Königreiches Loranien …

      Tränen hatten lange Striche in ihr rußverschmiertes Gesicht gezogen. Sie streckte die aschebedeckte Hand nach ihm aus und ihr Blick war schrecklich, verzehrend und anklagend.

      »Du hast mich nicht beschützt, Jamil! Warum warst du nicht bei uns und hast dieses Unglück verhindert? Ich leide! Ich brenne!«

      Ihre Finger berührten ihn … ihre langen blonden Haare wallten im heißen Wind um ihr Gesicht … und ihre Augen entflammten in einem feurigen Rot und sprühten Funken.

      »Ich brenne!«

      Jamil schreckte ruckartig aus dem Traum auf. Glitzerndes Sonnenlicht drang durch das Blätterdach über ihm.

      Schwer atmend setzte er sich auf und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, um die Haare wegzustreichen.

      Langsam beruhigte er sich wieder. Er war nicht mehr auf dem Schiff … und auch nicht mehr in Kas’Tiel.

      Bei der Erinnerung an Lezanas Blick wurde ihm schwer ums Herz. Auch wenn er nicht an die Götter und ihre Dämonen glaubte, die sie als Strafe manchmal auf die Menschen losließen, so erschien ihm dieser Traum doch als seltsames Omen. Er hatte nie einen dieser Todesengel zu Gesicht bekommen, doch es waren immer wieder Boten in Kas’Tiel eingetroffen, die von ihren schrecklichen Taten berichteten. In den letzten Jahrzehnten waren sie besonders häufig in dem Gebiet des grauen Königreiches aufgetaucht … und angezogen von Tod und Hass sollten sie laut der Erzählung so aussehen, wie in seinem Traum – mit glutroten Feueraugen und umgeben von Flammen.

      Jamil seufzte, erhob sich und betrachtete den großen, mächtigen Baum, an dessen Stamm gelehnt er eingenickt war. Zuvor war er so auf seinen Bruder fixiert gewesen, dass er diesen Ort kaum hatte wertschätzen können, jetzt wollte er nicht mehr über den Traum nachdenken und sich bewusst ablenken. Seltsamerweise schien er der einzige zu sein, dem bisher die Schönheit dieser Natur aufgefallen war.

      Die Wurzeln des Baumes klammerten sich wie lange, knorrige Finger in den Boden, während sich der gewundene Stamm in den Himmel streckte.

      Von der Kuppe dieses Hügels aus konnte Jamil einen sanften Rauchschleier über dem Wald erkennen. Das fremde Dorf musste hinter dem nächsten oder übernächsten Hügel liegen, vermutlich auch in der Nähe einer Bucht.

      Die Landschaft wellte sich fast regelmäßig an der Küste entlang, die Senken zwischen den Hügeln mündeten jedes Mal in kleine Buchten.

      Jamil atmete

Скачать книгу