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Tod im Kanzleramt. Stefan Koenig
Читать онлайн.Название Tod im Kanzleramt
Год выпуска 0
isbn 9783738048872
Автор произведения Stefan Koenig
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
So kannte ich sie nicht. Ich glaube, die taffe Gabriele war lediglich unausgeschlafen.
Mit »Experten« war zweifellos Alice Schwarzer gemeint, die in Berlin ein Büro für Wettervorhersagen betrieb, ein Konkurrenzunternehmen, um ihrem Intimfeind Kachelmann das Wasser abzugraben und zugleich steuerliche Vorteile einzuheimsen. Gabriele hatte dort des Öfteren vorbeigeschaut, unter anderem, weil sie sich der ehemaligen Frauenrechtlerin und Herausgeberin einer Frauenzeitschrift sehr verbunden fühlte. Wie das halt so ist zwischen zwei Journalistinnen.
In diesem Moment war ich jedoch der Meinung, dass Frau Schwarzer einen negativen Einfluss auf Gabys Verstand ausübte, der in jeder anderen Hinsicht ausgesprochen praktisch und nüchtern war. Erst hieß es, Alice Schwarzer sei Mitglied irgend einer geheimen Gruppierung, deren Ziel die allgemeine Steuerbefreiung war, dann hieß es, sie sei bei den Scientologen als Frauenbeauftragte tätig; schließlich landete die ehemals Ungläubige nur bei einem alttestamentarischen rachsüchtigen und wütenden Gott, der alles vernichten würde, was der Unmoral anheimfiele. Sie verstehen jetzt, weshalb ich den Kontakt zu meinen Freunden nicht gerne sah. Aber diesbezüglich war Gaby ein wenig anfällig, insbesondere, wenn Alice Schwarzer ihr abgestandenes Wasser mit auf den Weg gab, das sowohl gegen Migräne, Monatsbeschwerden, aber auch gegen Quetschungen half. Hinzu kam neuerdings ein völlig unzutreffender Wetterbericht. Ich nahm Gaby in den Arm. Zugegebenermaßen hatte ich in diesem Moment gegenüber meiner Frau Alexa im fernen Lowbrook ein durchaus schlechtes Gewissen
Man konnte mit Frau Schwarzers Glauben vorhersagen, wie der nächste Winter würde, indem man im Juni die Ringe an den Raupen zählte und im August den Umfang der Honigwaben maß. Und nun also, Gott schütze und bewahre uns, DER SCHWARZE FRÜHLING von 1986 (fügen Sie selbst so viel Ausrufezeichen ein, wie Sie wollen). Ich hatte diese Geschichte auch gehört. Sie erfreut sich in manchen spirituellen Kreisen großer Beliebtheit. Auch Schweppes, der Werkstattbesitzer in meinem Heimtatstädtchen, hatte mir früher etwas vom Schwarzen Frühling erzählt. Alexa und ich hatten unseren Toyota Land Cruiser (Baujahr 1960, eine echte Rarität) im Mai zu ihm gebracht. Schweppes verstand sich auf Oldtimer und konnte auf Teufel komm raus improvisieren, wenn es keine Ersatzteile gab.
Als wir den Wagen nach einem Tag abholten, hatte ein überraschender Sturm der ganzen Gegend fast zehn Zentimeter nassen, schweren Schnee beschert, der das junge Gras und die Blumen unter sich begrub. Schweppes hatte ausnahmsweise ein wenig ins Glas geschaut und uns begeistert die Geschichte vom Schwarzen Frühling erzählt, die er mit eigenen Ausschmückungen noch dramatischer gestaltete.
Zwei Tage später schmolz der Schnee wieder. Die Natur hält immer mal Überraschungen bereit, aber hierzu einen Hokuspokus zu bemühen, das ist mir völlig fremd. Dennoch mochte ich Schweppes, gerade auch, weil er ein phantasiebegabter und völlig weltoffener Mensch ist.
Gaby, die jetzt neben mir im Garten des Kanzleramts stand, sah immer noch skeptisch drein. „Der Sturm war nur der Vorbote des Unheils“, sagte sie.
„Hör mal, sobald unsere Profis diese Bäume durchgesägt haben, die die Auffahrt versperren, kannst Du nachhause. Okay?“
„Okay“, sagte sie erleichtert. „Was glaubst du, wann auch du fahren kannst?“
Die bürokratischen Erschwernisse eingerechnet, würde ich gegen elf Uhr fertig sein.
„Dann lade ich Dich zu mir ein und mache uns das Mittagessen auf dem Grill; wer weiß, ob der Herd nach dieser Nacht noch funktioniert. Aber du musst im Supermarkt einiges für uns einkaufen … ich habe fast keine Milch und keine Butter mehr. Und … na ja, ich schreibe dir einen Zettel.“
Eine Frau verwandelt sich eben bei der geringsten Katastrophe in einen Hamster! Ich drückte sie kurz und unauffällig und nickte. Auf dem Weg zum Hauptportal sahen wir uns noch einmal die Schäden an und entdeckten im hinteren Teil des Gartens Yousefs zertrümmertes Klettergerüst, auf dem er gestern Nachmittag noch Pirat gespielt hatte. Ein großer Baum hatte es quasi geteilt. Es war Altmaiers Lieblingsbaum, und ich hatte ihm schon vor zwei Jahren vorgeschlagen, den Baum zu fällen, da er morsch und faul war. Aber der großartige Kanzleramtsminister war von seiner moralischen Niederlage, die er sich bei Angie und mir eingefangen hatte, noch so befangen, dass er mir nicht Recht geben wollte. Nun hatten wir die Bescherung.
Yousef lief gerade vor uns her, dann blieb er abrupt stehen. Im gleichen Moment spürte ich, wie auch Gaby neben mir ganz steif stehen blieb, und ich sah es selbst: Die östliche Seite der Stadt hinter dem Kanzleramt war verschwunden. Sie war unter grellweißem Nebel begraben wie unter einer vom Himmel gefallenen Schönwetterwolke.
Mein nächtlicher Traum fiel mir wieder ein, und als Gaby mich fragte, was das sei, wäre mir um ein Haar das Wort GOTT entschlüpft.
„Stefan?“ Es war Yousef, der mich rief.
Man konnte nicht einmal eine Spur der östlichen Nachbarschaft dort drüben sehen, aber jahrelanges Betrachten der Hochhäuser, des Fernsehturms und des brodelnden Stadtverkehrs brachte mich zu der Überzeugung, dass sich der Ostteil nur wenige hundert Meter hinter der fast schnurgeraden Nebelfront befinden musste.
„Was ist das, Stefan?“ rief Yousef.
„Eine Nebelwand“, antwortete ich.
„Auf den Straßen?“ fragte Gabriele zweifelnd, und ich konnte Alice Schwarzers Einfluss in ihren Augen sehen. Dieses verdammte Weib! Mein eigenes flüchtiges Unbehagen legte sich schon wieder. Träume sind schließlich nichts Gegenständliches – ebenso wenig wie Nebel.
„Sicher. Du hast doch schon oft Nebel in der Stadt gesehen.“
„So einen noch nie. Das hier sieht mehr wie eine Wolke aus.“
„Das liegt an der grellen Sonne. Wenn man mit dem Flugzeug über Wolken hinwegfliegt, sehen sie genauso aus.“
„Aber woher kommt er? Nebel bildet sich doch sonst nur bei feuchtem Wetter.“
„Na, jedenfalls ist er jetzt da“, sagte ich. „Zumindest im Ostteil Berlins. Es ist eine Folgeerscheinung des Sturms, weiter nichts. Zwei Wetterfronten, die aufeinandergeprallt sind. Irgend so was.“
„Stefan, bist du ganz sicher?“
Ich lachte und war in Versuchung meinen Arm um ihre Schulter zu legen. „Nein, ich verzapfe bestimmt einen hanebüchenen Unsinn. Wenn ich sicher wäre, könnte ich die ARD-Wettervor-hersage in den Abendnachrichten machen. Lass uns rein und frühstücken.“
Sie warf mir einen zweifelnden Blick zu, schirmte mit der Hand ihre Augen vor der Sonne ab und betrachtete kurze Zeit die Nebelschicht. Dann schüttelte sie den Kopf. „Sonderbar!“ sagte sie und ging auf das Hauptportal des Regierungssitzes zu. Für Yousef hatte der Nebel seine Anziehungskraft bereits eingebüßt.
Ich stand da und betrachtete zuerst noch einmal den Schaden und die Helfer, dann starrte ich wieder auf den Nebel. Er schien jetzt näher zu sein, aber es war sehr schwer, das mit Sicherheit zu sagen. Wenn er jetzt aber tatsächlich näher war, so widersprach das allen Naturgesetzen, denn der Wind – eine ganz leichte Brise – wehte in der Gegenrichtung. Natürlich war das ein Ding der Unmöglichkeit.
Er war sehr, sehr weiß. Das einzige, womit ich ihn vergleichen kann, ist frisch gefallener Schnee, der in blendendem Kontrast zu einem strahlenden tiefblauen Winterhimmel steht.
Aber Schnee reflektiert tausend- und abertausendfach die Sonne, und diese seltsame Nebelbank sah zwar hell und klar aus, aber sie funkelte nicht in der Sonne. Gaby hatte vorhin etwas Falsches behauptet – Nebel ist an klaren Tagen nichts Ungewöhnliches, aber wenn er sehr stark ist, bildet sich durch die Feuchtigkeit fast immer ein Regenbogen. Aber hier sah man keinen Regenbogen.
Wieder überfiel mich ein Unbehagen, aber dann wurde ich abgelenkt durch Yousefs Ruf. Er hatte Hunger. Auch ich wollte endlich frühstücken und ging zum Gebäude zurück und fühlte mich zum ersten Mal seit dem Aufstehen etwas wohler, weil ich Yousefs