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der Teufel wusste, wo sie immer die passende Westliteratur herbekam. Aber auch der glaubte Wauer mittlerweile nicht mehr alles. Die Broschüren enthielten allerdings einige ins Neudeutsche übertragene problematische Luthertexte. Las die heute noch irgend jemand? Wauer war beeindruckt, was er da heraus bekam.

      Eigentlich hatte Luther dasselbe Problem wie er. Er verzweifelte an der Doppelbödigkeit der Moral seiner Kirche, die öffentlich Wasser predigte, die Bergpredigt des Gottessohnes Christus über alles hob und für sich selbst und ihr bevorzugtes Leben eine Unterdrückungshierarchie aufgebaut hatte, die ihresgleichen suchte. Und weil Luther an Gottes und Jesus Christus Existenz glaubte, setzte er die 97 Thesen5 über die Falschheit des Ablasshandels in die Welt, just in dem Moment, als die Erfindung des Buchdrucks eine beachtliche Vervielfältigung seiner Schriften ermöglichte. Und damit begann eine Entwicklung, die er selber nicht vorhergesehen hatte.

      Mutig war der Mann gewesen! Er hatte nicht widerrufen, wie viele andere vor ihm, die ebenfalls durchblickten. Und er hatte, getreu seinen Überzeugungen von der Sinnlosigkeit des Zölibates, eine lebenstüchtige adelige Nonne geheiratet und mit ihr ein halbes Dutzend Kinder gezeugt. Aber wie passten zu diesen Taten seine Schriften zu den Juden und zu den aufständischen Bauern?

      Hatte er Recht darin gehabt oder war er, wie die meisten Menschen, den Weg von links unten in der Jugend nach rechts oben im Alter gegangen? Mit welcher räudigen Sprache dieser Theologieprofessor über Juden und Bauernaufstände herzog, war schon ebenso außerordentlich, wie seine Sprachmächtigkeit bei seinen Bibelübersetzungen, mit denen er den Deutschen endlich eine einigermaßen einheitliche Schriftsprache gegeben hatte.

      Konnte Martin Luther für Martin Wauer ein Vorbild sein? In einer Hinsicht wohl schon: Er fiel niemals um! Er war nur sich selbst treu, mitsamt seiner unbegreiflichen Frömmigkeit. Wauer wollte es sich merken.

      In der Parteilehrjahrsdiskussion war Wauer der Bestvorbereitete. Uwe Singer und Fritz Rauch waren dennoch nicht dankbar für Wauers Beiträge. Sie schwammen im faktischen Nichtwissen. Den übrigen Genossen, vielleicht aber sogar ihnen als Parteileitung des Betriebes, wurde der Aktualitätsbezug des Lutherschen Lebens ziemlich offenbar. Fing hier die Zukunft an?

      Galileoleo Galilei

      1.

      Am Montag nach dem ersten Wochenende des Wiedersehens mit seiner schwangeren Geliebten lag ein Brief aus Frankfurt im Briefkasten. Barbara hatte nicht angerufen, sondern stattdessen eine kurze Nachricht geschrieben, dass Lothar am 28. August für das Wochenende nach Berlin kommen könne. Der Zug käme 10:01 Uhr in Karlshorst an und führe am Sonntag 16:17 Uhr von da nach Frankfurt an die Oder zurück. Sie bat um Pünktlichkeit bei Abholung und Rückfahrt. Und sie schlug vor, dass die Reiserei, wie sie es nannte, monatlich abgewechselt werden sollte und er möge sich doch bald über ihre unterbreiteten Vorschläge äußern. Wauer schrieb zurück, dass alles so in Ordnung sei und er den Sohn wie vorgeschlagen am Bahnhof abholen werde.

      Es war wieder wärmer geworden in Deutschlands Osten. Wauer war rechtzeitig mit der S-Bahn vom Warschauer Platz losgefahren, die wenigen Stationen bis Karlshorst, wo sein Sohn an diesem Sonnabend für lächerliche eineinhalb Tage zum ersten Vater-Umgangs-Wochenende seit bald drei Jahren eintreffen sollte. Karlshorst besaß gerade mal zwei Fernbahnsteige, über die aber der Eisenbahnverkehr in die östliche Richtung Fürstenwalde-Frankfurt-Oder und südlich um die Frontstadt Berlin herum nach Potsdam und Brandenburg abgewickelt wurde.

      An diesem sonnigen, aber noch kühlen, Sonnabend-Vormittag herrschte wie stets reges Treiben. Wauer stellte sich oben auf die Übergangsbrücke vom verwahrlosten Fernbahnsteig zur S-Bahn und richtete seinen Blick nach Osten. Er konnte die gerade Bahnstrecke mindestens zwei Kilometer ostwärts überblicken und so den Zug aus Frankfurt rechtzeitig erspähen. Ab da war noch genügend Zeit, um zum Bahnsteig hinunter zu laufen und das Kind in Empfang zu nehmen. Vor etwas mehr als dreißig Jahren war sein Vater über die neue Grenzstadt Frankfurt-Oder von seiner Gefangenschaft aus Russlands Tiefen kommend nach Deutschland eingereist. Heute kam nach vielen Monaten Besuchspause sein Sohn.

      Der Zug war wider Erwarten pünktlich. Lothar stieg nicht allein aus. Er war in Begleitung eines etwas größeren Jungen. Diesen stellte er, nachdem er eine einigermaßen liebevolle Begrüßung seines Vaters hingelegt hatte, als seinen besten Freund Jakob vor. Wauer war für Sekunden überrascht und dann doch erleichtert. So würde sich das Treffen vielleicht weniger kompliziert gestalten lassen, dachte er. Barbara machte es ihm also nicht mehr unnötig schwer.

      „Wie lange wart ihr nicht in Berlin?“, fragte er die zwei.

      „Och, vielleicht ein Jahr nicht“, antwortete Lothar.

      „Und - habt ihr schon Pläne geschmiedet, was ihr mit mir machen wollt?“

      „Ja, wir wollen ins Naturkundemuseum“, riefen beide fast gleichzeitig.

      „OK, und dann? Könnt ihr Skat spielen?“, hakte Wauer nach. „Wie alt bist du?“, fragte er zu Jakob gewandt.

      „Ich werde zwölf.“

      Zehn und zwölf, dachte Wauer, das ist nicht so schlecht. Wenig später vernahm er, dass Jakob der Sohn des neuen Freundes seiner Geschiedenen war. Sie fuhren ins Naturkundemuseum in der Invalidenstraße, immer eine große Attraktion für Groß und Klein, und verbrachten dort die Stunden bis zur späten Mittagszeit. Er selbst spielte nur eine unwichtige Rolle.

      Die beiden Freunde amüsierten sich in den verschiedenen Abteilungen des Museums und kamen nur hin und wieder zu ihm zurück, wenn sie eine besondere Frage hatten. Es beglückte ihn, dass er ihnen Rede und Antwort stehen konnte. Dann hatte er die Idee, dass er sie ins Fernsehturm-Restaurant einladen könnte. Als sie aber, nachdem sie dort mit der Linie 11 angelangt waren, die langen Menschenschlangen am Eingang warten sahen, entschieden sie sich lieber für den Ratskeller im Roten Rathaus, der nach einigen Überredungskünsten Wauers noch Platz für die Drei anbot. Erst am späten Nachmittag trafen sie in Wauers Wohnung am S-Bahnhof Warschauer Straße ein. Er machte Tee für die Jungen und schüttete Spekulatius in eine Schale. Sie fraßen, als hätten sie nicht soeben ausgiebig zu Mittag gegessen. Dann versuchte er, ihnen Skat beizubringen.

      „Ein Junge muss einige wichtige Sachen können“, erklärte er. „Eine davon ist Skatspielen. Ein Junge, der nicht Skat spielen kann, wird kein Mann“, meinte er und vergaß das Augenzwinkern dabei nicht. Beide stellten sich nicht dumm an, wollten aber nach einer Stunde Westfernsehen.

      „Ist auch nicht besser, als unseres“, bremste er, stellte es aber an. An diesem Sonnabendabend lief im ZDF Ilja Richters Disco. Die Jungen fanden es sehr aufregend. Wauer servierte ihnen Apfelsaft und Selters und trank seinen Wodka-Cola. Nach einer Weile wollten sie davon kosten. Er machte für jeden ein kleines Glas zurecht und trank mit ihnen Brüderschaft und auf ewige Freundschaft. Er erzählte dabei von Old Shatterhand und Winnetou und sie fanden es gut. Er versprach, ihnen den Band „Winnetou I“, welchen der Verlag Neues Leben gerade für die DDR herausbrachte, zu besorgen. Zehn Uhr brach Wauer ab und baute für die Beiden aus Luftmatratzen und Schlafsäcken ein Lager an der Fensterseite. Er selbst klappte seine Bettcouch aus. Sie waren schnell eingeschlafen. Er selbst blieb noch lange wach und staunte darüber, wie einfach alles gewesen war und wie natürlich es ablief. Dass Jakob mitgekommen war, hatte es ungemein erleichtert.

      Am Sonntagmorgen bereitete er das Frühstück, für das er umfangreich eingekauft hatte. Er ließ sich und seinen jungen Gästen Zeit und sie kamen ins Reden. Er erfuhr vieles, was er in den vergangenen Jahren verpasst hatte; über Lothars Fortschritte in der Schule, seinen Zensurenstand in den einzelnen Fächern, die neue Arbeit seiner Mutter im Frankfurter Halbleiterwerk und über Jakobs Vater, den neuen Freund Barbaras. Er bemühte sich, entspannt zu bleiben. Es ging Lothar nicht schlecht. Der Junge hatte das Scheidungstrauma anscheinend einigermaßen überwunden.

      „Fahren wir im Winter zusammen weg?“, fragte Lothar dann.

      „Ja, wieso nicht. Wohin willst du denn?“

      „Wir könnten in die Niedere Tatra zum Skilaufen fahren, da soll es sehr schön sein.“

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