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für mehrere Kapitel komplett ohne das Wort „und“ auszukommen. Sonia schmunzelte.

      Diesem Buch wollte sie eine Chance geben. Fünfhundertzwanzig Seiten sollten reichen, um sie für ein paar Stunden davon abzuhalten, an all diejenigen zu denken, die noch da draußen waren. Schuldig und lebendig.

      Sie ging an die Kasse, bezahlte das Buch und gönnte sich noch gleich ein neues Lesezeichen. Ihr Blick fiel auf die Kassiererin, eine kleine zierliche Frau. Sonias Gesichtszüge verfinsterten sich, ihre gespielte Freundlichkeit wechselte zu einer ausdruckslosen Starre. Die Frau war perfekt, oder? Zierlich und ohne viel Muskelmasse. Der Zeige- und Mittelfinger an ihrer rechten Hand waren von Nikotin vergilbt. Sie könnte bezahlen und vor dem Laden warten, bis die Kassiererin Feierabend hatte. Dort würde sie ihr auflauern, freundlich um eine Zigarette bitten und ihr beim Suchen in der Handtasche eins mit dem Schlagstock überziehen.

      „Vielen Dank für Ihren Einkauf.“ Die Kassiererin stopfte zwei Bücher in die Tragetasche und reichte sie Sonia. Die registrierte das Gratisexemplar gar nicht, das man ihr gerade untergejubelt hatte.

      Die ausdruckslose Starre verschwand, Sonias Lächeln kehrte zurück. Sie nahm die Tasche und verließ den Laden. Sie wollte nicht warten, es musste schnell gehen. Bis Ladenschluss waren es noch mehr als fünf lange Stunden. Sie schaute über die Straße. Ein kleiner Mann lief in einem Mantel den Gehweg hinab. Hinter ihm tauchte eine durchsichtige Sonia auf. Eine gespenstische Kopie. Sonia und nur Sonia fiel auf, dass die gespensterhafte Kopie gekonnt ein dünnes Filetiermesser aus ihrem Mantelärmel schnellen ließ, genau im richtigen Augenblick. Sie prallte mit dem dicken Mann zusammen, das Messer bohrte sich tief in sein Fleisch, sie entschuldigte sich und lief weiter.

      Der Mann jedoch fasste sich an den Bauch und ging mit blutverschmierten Händen zu Boden. Niemand schien ihm irgendwelche Beachtung zu schenken. Sonia schaute nach rechts. Eine alte Frau wartete am Zebrastreifen, dass ihr jemand den Übergang ermöglichte. Eine halbdurchsichtige Sonia trat von hinten an sie heran und bot ihr an, sich einzuhaken. Die Dame lächelte und folgte Sonia in blindem Vertrauen auf die Straße. Ein Lkw raste ungebremst auf den Zebrastreifen zu. Die halbdurchsichtige Sonia blieb stehen, machte einen Schritt zurück und schleuderte das alte Frauchen vor den Lastwagen.

      Das Gefühl der Unruhe wurde immer stärker. Sonia ergriff die Flucht vor ihren eigenen Mordfantasien und lief so lange die Straße hinunter, bis ihr die Beine schmerzten. Immer wieder erkannte sie neue Gelegenheiten. Ein gekonnt gestelltes Bein hier, ein Schubs in die richtige Richtung da. Sonia zog den Reißverschluss ihres Mantels zu und beschloss, zu ihrem Wagen zurückzukehren. Die Versuchung war überall. Da hörte sie eine Stimme aus einer dunklen Nebenstraße. Nicht mehr als ein leises Wimmern, aber es erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit ihren Büchern fest unter dem Arm lief sie vorsichtig zum Eingang der Nebenstraße, die nicht sonderlich vertrauenswürdig erschien. Hier liefen alle die Hintertüren von Geschäften zusammen, deren Praktiken mehr als zweifelhaft waren. Kneipen, die schon mehr Spelunken als gepflegte Wasserlöcher waren, Restaurants, in denen seit Ewigkeiten nichts mehr gegessen, aber trotzdem regelmäßig Geschäfte abgewickelt wurden.

      Irgendjemand saß alleine in genau dieser Nebenstraße und weinte. Vielleicht ein Kind, das sich verlaufen hatte, oder einfach nur jemand, der Sonias Hilfe brauchte? Was für ein Geschenk des Zufalls. Sie musste nachsehen. Sie musste einfach. Sonia lief in die Nebenstraße und fand eine Frau, die hinter einer Mülltonne kauerte. Sie trug einen verdreckten pinken Hosenanzug. Ihr Gesicht war verheult und an einem ihrer hohen Schuhe fehlte der Absatz.

      „Ist alles in Ordnung?“, fragte Sonia.

      „Nein. Nichts ist in Ordnung“, sagte die Frau. „Ich habe kein Zuhause mehr und bin halb verhungert. Niemand will mir helfen und mir ist kalt.“ Die Frau wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schaute zu Sonia auf.

      Sonia lächelte. „Ich habe ein Zuhause und jede Menge zu essen. Und ein gutes Buch!“, sagte sie und hielt ihr den Booktian zum Beweis vor die Nase.

      „Das freut mich für Sie“, sagte die Frau und lächelte flüchtig aus ihrem verheulten Gesicht.

      „Mein Name ist Sonia. Wie heißt du?“

      „Vanessa, Vanessa May.“

      „Hallo Vanessa, möchtest du mit mir nach Hause kommen und etwas essen?“

      Sonia konnte erkennen, wie die Frau zögerte. Vanessa Mays Zweifel waren mehr als angebracht, vor ihr stand ihr Peiniger. Eine Frau, die sie nur noch weiter ins Unglück führen würde. Aber ein Lächeln und etwas Zuwendung im richtigen Augenblick täuschten über vieles hinweg. Vanessa griff nach Sonias Hand und stand auf. „Normalerweise würde ich so etwas nicht annehmen, aber mir fällt einfach nichts mehr ein. Macht es auch keine Umstände?“

      „Aber nein“, sagte Sonia und lächelte. „Folge mir, wir gehen zu meinem Wagen.“ Sonia lief davon und drehte sich nicht ein einziges Mal nach der Frau um, die sie nur gerettet hatte, um über ihr Verderben zu bestimmen.

      Vanessa folgte ihr stumm und die Zweifel an ihrem Retter wuchsen von einem Samen zu einem Sprössling. Als sie an ihrem Auto angekommen waren, öffnete Sonia die Tür zur Rückbank, um Vanessa einsteigen zu lassen.

      „Nach hinten?“

      „Ja, bitte.“

      Vanessa stieg in den Wagen. Sonia nahm auf dem Fahrersitz Platz und steckte den Schlüssel in die Zündung. Dann drückte sie einen kleinen Knopf an der Mittelkonsole und alle Schlösser verriegelten sich. „Kein Grund zur Sorge, das ist die Macht der Gewohnheit. Man kann nie wissen, wer einem in dieser Welt dort draußen Schaden zufügen will.“ Sie tippte mit der Fingerspitze gegen die Scheibe. „Dann wieder“, fuhr Sonia fort, „weiß man auch nicht, mit welchem Übel man sich gerade eingesperrt hat.“ Ihre Stimme klang seicht und kalt. Sie schien ihre Worte nicht an Vanessa zu richten, vielmehr redete sie mit sich selbst.

      Vanessa May rutschte unruhig auf der Rückbank umher. Im Rücksitz steckten diverse Zeitungen und Zeitschriften, unter dem Sitz lugte etwas hervor und glitzerte im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung. Ein Ring.

      „Hey, es sieht aus, als hätte jemand Schmuck verloren“, sagte Vanessa und hob den Ring auf. Sofort ließ sie ihn wieder fallen. Der Ring steckte auf einem Finger. Sie krallte sich in den Rücksitz.

      Vanessa rüttelte an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Dann schrie sie, aber niemand konnte sie hören. Das Taxi parkte weit ab vom Fußgängerverkehr der Einkaufstraße.

      Sonia blieb absolut ruhig.

      „Was haben Sie mit mir vor?“, fragte Vanessa. Schweiß trat ihr auf die Stirn, die Angst legte ihren kalten Umhang über ihren Rücken.

      „Das weiß ich noch nicht. Ist das nicht spannend? Aber es wird nicht lange dauern. Ich habe mir gerade ein neues Buch gekauft und ich kann es gar nicht mehr abwarten, es aufzuschlagen. Vielleicht müssen Sie sich unterordnen. Sehr wahrscheinlich sogar. Sagen Sie, Vanessa, haben Sie Angst vor dem Tod?“

      „Ja“, wimmerte die Frau auf der Rückbank. „Aber ich war ihm schon näher, als Sie sich vorstellen können.“

      „Tatsächlich? Na dann ist es ja, als würde man zwei alte Freunde wieder zusammenführen. Das Schlimmste am Tod ist die Ungewissheit. Das ist sie wirklich, die Ungewissheit“, wiederholte Sonia und startete den Wagen.

      „Wer sind Sie?“

      „Ich? Ich bin niemand. Aber du, Vanessa, du bist ein Geschenk. Und ich werde meinen Spaß mit dir haben. Oh ja, das werde ich.“

      Keine Antwort. Ein Schluchzen. Vanessa hämmerte gegen die Fensterscheibe, doch die hielt stand, als wären es Gitterstäbe.

      Sonia Kealy fuhr davon und mit ihr Vanessa.

      Zwei Stunden später war deren pinker Hosenanzug rot getränkt.

      1

      Einige Zeit später

      Percy starrte Milten an. Der saß am Steuer seines heruntergekommenen 1973 Ford Galaxie 500 und hatte in der

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