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Zahlen hatte sie kurz schlechtes Gewissen, denn sie freute sich auf das Schwimmen und ein Sonnenbad, doch befreite sie sich schnell von diesem Zweifel. Warum sollte sie nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden?

      Mit ihrem Jeep Wrangler Moab umkreiste sie den Teich und hielt an einem Häuschen, dessen Rollläden heruntergelassen waren. Auf der Wiese hinter dem Gebäude schlüpfte sie in den Bikini und steckte prüfend die Zehen des rechten Beines in das Wasser.

      Die Temperatur war angenehm für Mitte Juni, außerdem befanden sich in einiger Entfernung mehrere andere Schwimmer im Wasser.

      Aber bevor sie ins Wasser ging, wollte sie die Sonne genießen und legte sich auf ihr Gewand, das sie auf dem mehrere Zentimeter hohen Gras ausgebreitet hatte. Die Besitzer schienen lange nicht am Teich gewesen zu sein.

      Die Wärme der Sonne tat wohl, vom Wasser her wehte sanfter Wind. Judiths Gedanken verloren sich in Erinnerungen an Urlaub, Ferien, Kindheit …

      Als sie erwachte, spannte die Haut in ihrem Gesicht. Das Mittagessen war doch mehr als ausreichend gewesen. Nun aber war ihr nach Bewegung zumute.

      Zügig ging sie ins Wasser, das ihr bald bis zum Nabel reichte, durchpflügte den Teich im Kraulstil, wendete viermal, erst dann näherte sie sich dem Grundstück, auf dem Hans-Josef Hebenstreits Haus stand.

      Es wurde auch auf der Wasserseite bewacht. Ein junger Mann in der dunkelgrünen Uniform, die Judith von Manuel kannte, saß auf einem Campingsessel im Schatten und las ein Buch.

      Weil der Zugang zum Haus auf diesem Weg nicht möglich war, entschloss sich Judith zum Gespräch mit anderen Schwimmern und näherte sich einer Luftmatratze, auf der eine korpulente ältere Frau lag, die selbst einer aufblasbaren Matte glich.

      „Wieder ein herrlicher Tag“, sagte Judith zu ihr, und die Frau lobte das Wasser, die Sonne und das Leben überhaupt.

      Judith umkreiste, sanft paddelnd, die Luftmatratze und meinte dann: „Wie schön wäre die Welt, wenn es keine Menschen gäbe. Anwesende natürlich ausgenommen.“

      „Sie denken an Hebenstreit. Das ist allerdings tragisch. Er hätte sich doch wegen dieser blöden Sache nicht umbringen müssen.“

      „Sie haben den Jungen, den er angeblich gefangen hielt, auch nie gesehen?“

      „Nein. Sie doch auch nicht?“

      „Zumindest waren die beiden nie gemeinsam im Wasser“, sagte Judith.

      „Eben. Ich kann es nicht glauben. Und der geheimnisvolle Keller war nicht wirklich ein Geheimnis. Hans-Josef hat immer wieder von seinem Atomschutzbunker geredet.“

      „Natürlich. Der war ihm wichtig“, tastete sich Judith im Gespräch voran.

      „Die Sache musste ihn viel gekostet haben. Aber er hatte geerbt.“

      „Das Haus hatte er von …“

      „Von seiner Mutter. Die werden Sie nicht mehr gekannt haben. Sie starb vor zehn, zwölf Jahren.“

      „Er wollte sich gegen einen Atomangriff absichern.“

      „Ja, Männer haben manchmal so fixe Ideen. Dabei hätte das wenig Sinn, wenn nur er in seinem Keller übrig bliebe. Alles wäre verstrahlt. Er hätte nichts zu trinken.“

      „Und Hans-Josefs Vater?“, erkundigte sich Judith.

      „Ich weiß nur, dass die Mutter geschieden war. Ein Vater war eigentlich nie da. Hajo lebte sehr zurückgezogen, von einigen Freunden abgesehen, mit denen er hin und wieder feierte. Vermutlich Journalistenkollegen.“

      „Vor denen man jetzt das Haus schützt.“

      „Darüber sind wir eigentlich froh, mein Mann und ich. Sonst entwickelt sich unser See noch zu einer negativen Attraktion.“

      „Wie die Stelle, an der er sich vor den Zug geworfen hat.“

      „Ich mag gar nicht daran denken. Schrecklich. Wir haben einen Strauß Blumen hingelegt. Rosen aus dem Garten.“

      „Das werde ich auch tun. Wo ist dieser schreckliche Ort?“

      „Wenige Meter nach dem Bahnhof.“

      „Himberg?“

      „Ja. Auf dem Bahndamm. Sie können die Stelle nicht verfehlen. Es brennen einige Kerzen, und es liegen Blumen dort. Die Lok soll seinen Kopf abgetrennt haben.“

      „Schrecklich“, sagte Judith und entschuldigte sich. „Mir ist jetzt kalt geworden, ich schwimme zurück zum Haus.“

      Judith ließ ihren Körper in der Sonne trocknen und dachte nach.

      Auf diese Weise kam sie nur langsam voran. Sie hatte immerhin von einem Atombunker, vom Tod der Mutter Hebenstreits und dem Ort, an dem er ums Leben gekommen war, erfahren, und sie würde das für ihren Chef dokumentieren. Vielleicht konnte Manuel im Gespräch mit seinen Kollegen, die das Haus bewachten, mehr über den mysteriösen Keller herausfinden, in dem Ben Wesely acht Jahre lang gefangen gehalten war.

      Noch war ihr Interesse an diesem Fall nicht geweckt. Sie bedauerte zwar grundsätzlich, dass der Journalist ums Leben gekommen war. Andererseits hatte er mit der Entführung Ben Weselys ein schweres Verbrechen begangen.

      Sie wollte wissen, wie spät es war, blickte wieder einmal auf ihr leeres linkes Handgelenk und las schließlich vom Display ihres Handys die genaue Uhrzeit ab. 15:07 Uhr.

      Sie stieg in ihren Wagen und wollte in den Navigator Himberg und Bahnhofstraße eingeben, als sie erkannte, dass es dort nur eine Bahnstraße gab.

      Auch recht, dachte sie, folgte den Anweisungen und gelangte in wenigen Minuten zum kleinen Bahnhof. Dort bog sie nach Süden, in die Anton-Diettrich-Gasse, und sah am mit verdorrtem Gras bewachsenen Bahndamm Blumen und Kerzen. Eine Frau betete an der provisorischen Gedenkstätte.

      Judith stoppte den Wagen in einiger Entfernung und legte die letzten Meter zu Fuß zurück.

      In diesem Moment ging ein metallisches Sirren von den Bahngleisen aus, und kurz darauf donnerte ein von einer Elektrolok gezogener Personenzug vorbei. Judith spürte einen kalten Luftzug und erschauderte. Sie dachte an einen Menschen, der all das hörte und dennoch auf den Gleisen liegenblieb.

      Sie stellte sich neben die in Andacht versunkene Frau und bedauerte, nicht wenigstens Wiesenblumen mitgebracht zu haben. Die Frau zu ihrer Rechten bekreuzigte sich, dann ging sie in die Knie, um Blumensträuße und Kerzen zurechtzurücken. Ihrer Handtasche entnahm sie ein Feuerzeug und entzündete damit mehrere Kerzen, die der Luftzug von der Bahn gelöscht hatte.

      „Ein böser Ort“, sagte Judith mehr zu sich selbst.

      „Ein schlimmes Ende für einen Menschen“, sagte die Frau, die irgendwie nach Chemikalien roch. Oder war das der Bahndamm oder eine zu heiß gewordene Kerze?

      „Sie kannten Hans-Josef Hebenstreit?“, fragte Judith, bemüht, interessiert, aber nicht neugierig zu klingen.

      „Er hat sich bei uns stylen lassen. Herr Hebenstreit war sehr auf sein Aussehen bedacht.“

      Jetzt wurde Judith klar, wonach die Frau roch. Nach Chemikalien aus einem Friseurladen, die für Dauerwellen und das Haarfärben verwendet wurden.

      „Sie sind Friseurin?“

      „Salon Uli“, bestätigte sie stolz.

      „Die Chefin?“

      „Ulrike Horvath.“

      „Ich bin Judith Steyn.“

      Die beiden Frauen standen eine Weile schweigend Seite an Seite, dann sagte die Friseurin: „Der Pichler hat ihn gefunden, als er vom Mittagessen zur Arbeit fuhr.“

      „Das heißt“, schloss Judith, dass Hebenstreit in den Mittagsstunden ums Leben gekommen ist und der Lokführer nichts mitbekommen hat.“

      „Sie haben recht. Er hätte sonst angehalten, und man hätte ihn früher gefunden.“

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