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darüber gesprochen. Er bewacht den jungen Wesely – mit anderen natürlich.“

      „Interessant, interessant“, murmelte Waldheim, schien jedoch in Gedanken weit weg zu sein.

      Also wartete Judith auf die Erklärung, warum er sie nach Wien gebeten hatte. Doch die kam nicht. Der Verleger betätigte unablässig den Druckknopf seines Kugelschreibers und schaute dabei aus dem Fenster. Judith folgte seinem Blick und sah die mit Graffiti bedeckte Kaimauer am gegenüber liegenden Ufer des Donaukanals, die hohen, leicht vom Wind bewegten Pappeln und das starke Verkehrsaufkommen. Die Sonne blendete so sehr, dass sie den Blick abwenden musste.

      „In dieser Richtung“, sagte er schließlich, „nicht einmal dreißig Kilometer von hier, liegt Himberg, wo sich Hans-Josef Hebenstreit vor den Zug geworfen haben soll.“

      „Der Entführer Ben Weselys“, sagte Judith.

      „Wenn es denn so gewesen ist, wie sie behaupten. Ich möchte, dass Sie seinen Tod untersuchen, Judith.“

      „Sie haben Zweifel an seinem Selbstmord?“

      „Ich möchte Sicherheit haben.“

      „Sie kannten den Mann?“

      Der alte Verleger nickte stumm, dann sagte er: „Er hat bei uns angefangen, bevor er zu Cramar gewechselt ist.“

      „Das heißt, er war für Klaus Cramar tätig, der jetzt das große Geschäft macht mit den Berichten über die Untat jenes Journalisten.“

      „Werfen Sie einen kritischen Blick auf die Sache! Ich glaube, sie ist nicht so, wie man sie vermittelt. Ich weiß, ich kann mich auf Sie verlassen, Judith.“

      „Ich werde mich bemühen. Soll ich darüber schreiben?“

      „Im Moment nicht. Vielleicht eines Tages, wenn wir die Wahrheit kennen.“

      Als Waldheim nichts mehr sagte, nur mehr den Kopf seines Riesenschnauzers tätschelte, fragte Judith, ob es noch etwas zu besprechen gebe.

      „Entschuldigen Sie, ich habe schlecht geschlafen, nach diesem Interview. Sie halten mich auf dem Laufenden. Er hat am Dürrsee bei Münchendorf gewohnt.“

      „Hans-Josef Hebenstreit?“

      Waldheim nickte.

      Judith verabschiedete sich von ihm und verfütterte den Rest der Frolic-Ringe an Erwin, der auch nicht so munter war wie sonst. Die melancholische Stimmung seines Herrn schien auf ihn abzufärben.

      Judith fuhr über Erdberg, Kaiserebersdorf und Schwechat nach dem im Süden von Wien gelegenen Ort Himberg.

      Obwohl die kleine Marktgemeinde im Industrieviertel des Wiener Beckens lag, wirkte sie ländlich-verträumt, mit Resten ebenerdiger Häuser aus dem Biedermeier.

      Als Judith die mit Kreide beschriebene Tafel eines Gasthauses sah, die Wiener Bruckfleisch verhieß, beschloss sie, im schattigen Garten zu Mittag zu essen.

      Gerade als sie an einem der gedeckten Tische Platz nahm, ertönten die Mittagsglocken von der benachbarten Pfarrkirche. Der Glockenklang scheuchte einige Tauben auf, die müde Kreise über den Ort zogen.

      Bruckfleisch hatte Judiths Oma zu besonderen Anlässen gekocht. Die aus Innereien bestehende Speise war besonders schmackhaft, aber auch preisgünstig.

      Judith erinnerte sich an die Küche ihrer Großmutter in Bad Vöslau, in der ein großer, mit Holz beheizter Herd stand, auf und in dem ständig Köstlichkeiten buken, simmerten oder brieten.

      Großmutters Bruckfleisch bestand aus geschmortem Kronfleisch, Rinderherz, Leber, Nieren, Bries und Milz, in einer würzigen Sauce. Und all das durfte man nicht direkt vom Herd essen, es musste mindestens vom Vortag sein, nur die Semmelknödel waren frisch und flaumig.

      Judith wartete gespannt auf das Essen und hoffte, dass dieses einigermaßen mit Omas Küche mithalten konnte.

      Und tatsächlich. Das Bruckfleisch aus dem Hause Gusenbauer – so hieß das Gasthaus – schmeckte zwar anders, aber durchaus delikat. So delikat, dass Judith ein zweites Bier bestellte.

      Etwas schläfrig geworden, überlegte sie, wie sie wohl am besten Hans-Josef Hebenstreits Spuren folgen konnte und griff nach einem Exemplar der Tageszeitung Österreich aktuell, die in einem Zeitungshalter aus gebogenem Weidenrohr neben Waldheims Familie Österreich und der Presse, dem Standard und einer Gratiszeitung lag.

      Sie las einen Artikel über die Entführung Ben Weselys vor acht Jahren, der mit einem Kinderfoto des nunmehr 18-Jährigen illustriert war, als die Kellnerin fragte, ob sie eine Nachspeise bringen dürfe. „Wir haben Sachertorte, Apfelstrudel mit Schlag, Cremeschnitten …“

      Judith bat um die Eiskarte. Es war ziemlich heiß für Mitte Juni. Die Schafskälte schien sich in diesem Jahr zu verspäten oder gar auszufallen.

      „Schrecklich“, sagte die Servierkraft mit dem jugendlich zu einem mädchenhaften Pferdeschwanz gebundenen Haar, obwohl sie an die sechzig sein mochte. „Schrecklich das alles. Dabei war Hajo ein ausgesprochen netter junger Mann.“

      So jung auch nicht mehr, mit seinen 37 Jahren, dachte Judith, hielt jedoch ihre Zunge im Zaum, weil sie mehr erfahren wollte.

      „Er hat bei Ihnen gegessen?“, erkundigte sie sich bei Frau Gerti, wie die Kellnerin von den übrigen Gästen gerufen wurde.

      „Am Samstag und am Sonntag regelmäßig, während der Woche war er in Wien. Manches Mal kam er noch auf ein Bier, kurz bevor wir zusperrten. Keiner von uns hätte gedacht, dass er … Na, Sie wissen schon …“

      „Dass er ein Kind entführt hat?“

      „Dass er andersrum war. Warum sonst hätte er den Jungen all die Jahre eingesperrt?“

      „Und niemand hat etwas bemerkt?“

      „Sicher, er ist nie mit einer Frau gekommen, aber sonst …“

      „Ich meine den Jungen, Ben Wesely. Den hat offenbar niemand gesehen.“

      „Der muss die ganze Zeit im Keller gewesen sein, sonst wäre er den Nachbarn begegnet.“

      „Am Dürrsee.“

      „Das ist ein Schotterteich. Privat, mit lauter Häusern rundherum, zum Teil Wochenendhäusern von Wienern.“

      Als ein Gast zahlen wollte, bestellte Judith rasch einen Fruchteisbecher mit Hohlhippen und wunderte sich erneut. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand einen Knaben acht Jahre in einem Keller gefangen halten sollte. Wieder fiel ihr Waldheims Hund ein. Hatte der Junge im Keller dieselbe Funktion wie ein Haustier gehabt? Hatte er dazu gedient, dem Journalisten die Einsamkeit vergessen zu lassen? Nein. Eine einigermaßen vernünftige Beziehung konnte sich nur entwickeln, wenn man dem Partner Freiraum gewährte.

      Ihre Gedanken schweiften ab zu ihrer Beziehung mit Manuel. Er hatte ursprünglich mit ihr zusammenarbeiten wollen, wie in Bad Gastein. Bis er feststellte, dass das für ihn nicht ging. Er wollte Judith als Partnerin, nicht als Chefin.

      Das schadet meiner Potenz, hatte er gesagt, obwohl Judith in dieser Hinsicht nicht zu klagen hatte.

      Dann hatte er seine Ausbildung zum Bodyguard bei seinem ehemaligen Ausbildner auf der Polizeischule begonnen und arbeitete jetzt für dessen Agentur Guardian Angels.

      Ein dunkelgrüner Wagen von Guardian Angels stand vor dem ebenerdigen Fertighaus am Dürrsee, den man kaum sah, so eng lagen die bebauten Grundstücke am Wasser nebeneinander, mit keiner Möglichkeit, den Teich zu erreichen, ohne eine Besitzstörungsklage zu riskieren. Hebenstreits Haus wurde offenbar von Koziks Leuten bewacht.

      Judith dachte nach, wie sie mehr über den verstorbenen Journalisten herausfinden könnte und kam auf den Gedanken, es vom Wasser her zu versuchen, bei einem Haus, dessen Besitzer nicht anwesend waren.

      Dazu benötigte sie einen Schwimmanzug. Sie fuhr zurück nach Himberg, wo sie in der Hauptstraße ein Sportgeschäft gesehen hatte.

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