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einfach sich selbst überlassen. Das sei pure Geldverschwendung und überhaupt. Man machte sich das Leben gegenseitig schwer, ja geradezu zur Hölle. Forstwirtschaft gegen Naturschutz lautete die Devise. An eine gewinnbringende Zusammenarbeit war nicht zu denken. Jeder stellte jedem ein Bein. Irgendwann nahm der Interessenskonflikt solche Ausmaße an, dass dem Umweltminister des Landes der Kragen platzte und er mit sofortiger Wirkung beschloss, beide Parteien zwangszuversöhnen. Alle noch übriggebliebenen Forstverwaltungen wurden geschlossen und das Nationalparkamt Bergwitz als Hauptsitz bezogen. Die Führungspositionen wurden neu aufgeteilt. Beide Parteien hockten von nun an direkt auf- und nebeneinander. In den Folgejahren besserte sich die Situation allmählich. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, also gewöhnte man sich langsam aneinander. Doch von Friede, Freude, Eierkuchen konnte nicht die Rede sein. Eine gewisse Spannung lag noch immer im Raum. Dies war allein an der Art, in der beide Lager über den Nationalpark und die Kollegen sprachen, abzulesen. Während es sich für die einen um eine Herzensangelegenheit handelte, taten andere nur ihren Job und saßen die Zeit bis zum ersehnten Ruhestand ab. Der individuelle Arbeitseinsatz der Anwesenden spiegelte sich dementsprechend in stark auseinanderdriftenden Körpervolumen wider. Auf den ersten Blick lag der Altersdurchschnitt kurz vor dem Rentenalter. Frischfleisch schien hier Mangelware zu sein, der Jungbrunnen für Mitarbeiter seit Jahren versiegt. Kein Wunder, denn freiwerdende Jobs wurden entweder eingespart oder nur intern neu ausgeschrieben. Äußerst selten schaffte es frisches Blut in den eingefahrenen Beamtenapparat. Mit neuen Ideen sah es ähnlich aus.

      »Das sind ja gute Aussichten«, dachte ich für mich und sah meinen Traumjob in weite Ferne rutschen.

      Ohnehin standen meine Chancen, hier ein neues Berufsleben beginnen zu können, eher schlecht. Mir fehlte das nötige naturwissenschaftliche Studium. Aber vielleicht hatte ich ja Glück. Ausnahmen bestätigen die Regel und mein Praktikum in der Öffentlichkeitsarbeit bot zumindest eine Chance.

      Die Sitzung am runden Tisch löste sich auf. Peter stellte mich kurz dem Amtsleiter vor, so, wie es Sitte ist. Dann gingen wir zurück ins Büro. Dort wies mich mein Chef in die Arbeit ein.

      »Bis zum Wochenende wirst du dich in alles einlesen und einarbeiten, vielleicht schon ein paar Pressemitteilungen zu Papier bringen und eine persönliche Vorstellung für die Nationalparknachrichten schreiben. Bei Fragen einfach fragen. Da du aus der Medienbranche kommst, solltest du dich ja damit auskennen. Wir planen gerade einen neuen Prospekt für den Nationalpark. Dafür benötigen wir Fotos, Unmengen von Fotos. Eine deiner Aufgaben wird es sein, so viele Bilder wie möglich im Nationalpark zu schießen. Damit du einen Überblick über den Park bekommst und schon mal einiges fotografieren kannst, wirst du nächste Woche fünf Tage lang mit Klaus durch die Gegend fahren. Klaus ist Ranger, der wird dir alles erklären und zeigen.«

      Meine Aufgaben klangen nicht schlecht. Ich freute mich darauf, mit Klaus durch die Natur zu fahren und alles, was mir vor die Linse kommt, in Bildern festzuhalten.

      »Wie kommst du eigentlich immer von A nach B?« fragte Beate.

      »Mit dem Fahrrad.«

      »Respekt!« sagte Peter. »Vom Forsthaus bis hier und wieder zurück, das trainiert die Schenkel.«

      »Besonders mit Hans‘ Klappergestell«, erwiderte ich. »Bringt einen ganz schön aus der Puste. Mein eigenes Fahrrad muss ich erst noch von zu Hause holen.«

      »Also nächste Woche«, begann Peter, »nächste Woche brauchst du kein Fahrrad. Klaus wird dich jeden Tag mit dem Geländewagen vom Forsthaus abholen und auch wieder dort absetzen. Erschreck dich aber nicht, wenn du ihn siehst. Klaus ist ein ganz spezieller Fall. So was hast du bestimmt noch nie gesehen.«

      »Was ist denn so speziell an ihm?« fragte ich.

      »Das wirst du sehen, wenn er aus dem Urlaub kommt«, antwortete Beate mit einem Grinsen.

      Beide gingen wieder an ihre Arbeit. Und auch ich stürzte mich in meinen neuen Aufgabenbereich.

      Trotz der Prophezeiung, in der nächsten Woche kein Fahrrad zu benötigen, fuhr ich am Wochenende zurück nach Burgstadt, um nicht länger auf Hans‘ Drahtesel angewiesen zu sein. Während meiner Abwesenheit pflegte eine gute Nachbarin meine Zimmerpflanzen. Ansonsten stand die Wohnung für die Zeit meines Praktikums leer. Ein Auto besaß ich nicht. Radio Burgstadt lag nur zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Die Strecke legte ich meistens mit dem Fahrrad zurück. Manchmal ging ich auch zu Fuß. Für alles andere gab es Bus und Bahn. Seit 20 Jahren radelte ich nun schon mit demselben Zweirad durch die Lande. Ich hatte es mir gleich nach der Wende vom ersten ersparten Taschengeld gekauft. Darauf war ich mächtig stolz. Heute fährt es immer noch. Das bestätigt gute Qualität. Nur die Gabel und das Vorderrad waren nicht mehr original. Zwei Unfälle hat das Fahrrad überstanden. Bei beiden war ich noch recht jung. Einmal hielt ich damit unfreiwillig ein Auto auf dem Fußgängerüberweg an. Ich übersah einen Lada und rollerte auf den Zebrastreifen. Es knallte und mir wurde schwarz vor Augen. In meinem Kopf dröhnte es, als hätte jemand auf einen großen Gong geschlagen. Nicht verwunderlich - mein Gesicht war mit voller Wucht auf der Windschutzscheibe aufgeschlagen. Meine linke Schulter hatte zudem den rechten Rückspiegel des Wagens abgerissen. Das ist nicht die beste Art einen Fußgängerüberweg zu überqueren. Als ich wieder zu mir kam, standen viele aufgeregte Leute um mich herum. Ein Krankenwagen war unterwegs. Der Fahrer des Wagens fragte mich aufgeregt, ob alles in Ordnung sei.

      »Mein Fahrrad liegt noch auf der Straße«, soll ich entsetzt darauf geantwortet haben.

      Angeblich lag ich mehrere Minuten bewusstlos auf der Fahrbahn. Für mich passierte jedoch alles ganz schnell: Aufprall - Gong - wieder wach. Ich setzte mich auf den Bordstein und wartete mit zwei blutenden Platzwunden im Gesicht und einem angerissenen Band in der Schulter auf die Ambulanz. Unter Schock verspürte ich keinerlei Schmerzen. Die kamen erst später. Im Krankenhaus angekommen, geriet ich in eine sehr peinliche Situation. Als sich der unfreiwillige Zusammenstoß ereignete, kam ich gerade vom Volleyballspielen mit Freunden. Auf die belebende Dusche danach hatte ich verzichtet. Das wollte ich zu Hause nachholen. Meine Sportkleidung hatte ich deswegen immer noch an. Und nun zogen mir zwei hübsche Krankenschwestern meine durchgeschwitzten Sachen und die stinkenden Käsestrümpfe aus. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Nach drei Tagen mit einem fanatischen Fußballfan im Zimmer, konnte ich das Krankenhaus wieder verlassen. Der BVB-Fan nervte gewaltig. Ich hätte den Typen mit meinem Kissen ersticken können. Nachts schnarchte er wie eine Dampfmaschine und tagsüber hörte er mit seinem Kassettenrekorder ständig die Borussia-Hymne. Als wäre dies der Folter nicht genug, ließ er es sich auch nicht nehmen, lauthals mit zu grölen.

      »Borussiaaaaaaa! Booorussiaaaaaa!« schallte es durchs Zimmer.

      Auch deshalb hasse ich Krankenhäuser. Man weiß nie, mit wem man in ein Zimmer gesteckt wird. Die drei Tage erschienen mir wie eine Ewigkeit. Doch ich hielt tapfer durch. Meine zwei Narben im Gesicht verschwanden irgendwann nahezu. Und auch die lädierte Schulter heilte gut. Mein Fahrrad hatte den Unfall zu meinem Erstaunen besser überstanden als ich. Nur ein paar Kratzer hatte es davongetragen. Doch ein Fahrradunfall kommt selten allein. Ein anderes Mal verfing sich eine Plastiktüte mit einer Jeans in den Speichen. Ich hatte sie an den Lenker gehängt und baumeln lassen. Bei voller Fahrt auf einer Hauptstraße blockierte plötzlich das Vorderrad. Ich überschlug mich in hohem Bogen und landete auf dem Asphalt. Zum Glück kam hinter mir kein Auto, sonst hätte es mich überrollt. Die Gabel und die Speichen hielten dieser Belastung nicht stand und mussten in Folge ausgetauscht werden. Wie auch mein rechtes Kreuzband, das den direkten Aufschlag des Knies auf den harten Boden nicht überlebte. Erneut landete ich im Krankenhaus. Diesmal jedoch in einer Spezialklinik in Hüttenhausen. Dort gab es angeblich die besten Kniechirurgen des Landes. Man rasierte mir das halbe Bein und bemalte es mit einem rosafarbenen Stift. Ausgerechnet rosa! An einem Dienstag sollte ich unters Messer kommen. Der Termin fiel aber aus.

      »Die Lampe im Operationssaal hat gerade den Geist aufgegeben. Vor Donnerstag bekommen wir keine neue. Solange musst du dich noch gedulden«, erklärte mir der Chefarzt freundlich.

      »Bis Donnerstag bleibe ich doch nicht hier liegen«, dachte ich mir und traf eine tollkühne Entscheidung.

      Von Hüttenhausen bis Burgstadt benötigte man nur 45 Minuten mit dem Zug.

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