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gelegen hatte. Und davor graute ihnen jetzt schon. Denn Tante Lydia war ihrer Meinung nach ein Tyrann, kommandierte alle herum und führte einfach neue Spielregeln ein, wenn sie es für notwendig oder sinnvoll hielt. An Mamas Art hatten sie sich ja im Laufe der Jahre gewöhnt, auch wenn es nicht immer einfach war, aber wer ist schon immer einfach.

      „Und? Freut ihr euch nicht für mich?“

      „Doch, doch“, beeilte der Vater sich, der Freude seiner Ehefrau beizupflichten.

      „Wann geht es denn los?“

      „Schon bald! Am 17.“

      "Das ist ja schon in zwei Wochen“, stellte Emilie fest, was ihren Bruder dazu veranlasste zu bemerken: „He, Mensch, du kannst ja rechnen.“

      Aber dieses Mal hatte er seine Beine unter dem Tisch rechtzeitig in Sicherheit gebracht und so zog Emilie sich einen blauen Fleck am Schienbein zu, weil sie den Stuhl traf. „Blödmann“, schimpfte sie und knallte das Messer so laut auf den Teller, dass es durchaus Scherben hätte geben können, was Papa wiederum dazu veranlasste zu sagen: „Na, vertragt euch gefälligst.“

      Mama bekam die Situation als Erste wieder in den Griff und verkündete : „Keine Sorge, Tante Lydia wird sich in der Zeit um euch kümmern und ich will hinterher keine Klagen hören. Schließlich kann sie hervorragend kochen.“

      „Ja“, sagte der Vater, „kochen kann sie gut.“

      An der Art und Weise, wie er das gesagt hatte, konnte die Mutter sofort erkennen, dass da noch etwas hinterherkam. „Außerdem muss sie sich in der Zeit allerdings auch um die Erziehung deiner missratenen Kinder kümmern“, sagte er mit einem Seitenblick auf die zwei.

      „Es sind immerhin unsere Kinder“, sagte die Mutter und sah ihren Ehemann scharf an. Er registrierte die Korrektur zwar, fuhr aber unbeirrt in seiner Einschätzung fort: „Ich habe nämlich in nächster Zeit einige auswärtige Projekte zu betreuen, von denen ich nicht jeden Abend in den Schoß der trauten Familie zurückkehren kann.“

      „Papa drückt sich“, flüsterte Marc seiner Schwester zu, aber Papa hatte es trotzdem gehört und der Junior entging einer Kopfnuss nur durch einen schnellen Sprung zur Seite.

      Martin nahm den Brief in die Hand und sagte, nachdem er ihn durchgelesen hatte „Mutter“, – das sagte er immer, wenn er es ernst meinte –, „das ist kein Vergnügungsurlaub, das ist eine Psychokur.“

      „Na und?“

      „Nix mit `morgens Fango, abends Tango´.“

      „Sie werden mir schon nicht den Kopf abreißen.“

      „Nein, das nicht. Aber die Ärzte, Psychologen und Therapeuten werden dich richtig durch die Mangel drehen. Die sollen ja feststellen, woher dein Burn-out kommt und sie werden dir klarmachen, was du tun musst, damit es nicht wieder passiert.“

      „Ja, ist doch gut. Dass will ich doch auch.“

      „Aber nur lustig wird das nicht.“

      „Ich freue mich aber trotzdem darauf. Lass mir doch meine Illusionen, Schatz, ich werde versuchen das Beste daraus zu machen.“

      „Okay, dann wünsche ich dir viel Erfolg.“

      Die Mutter wollte das Gespräch beenden und sagte deshalb: „Jetzt rufe ich erst mal Lydia an“, was einen allgemeinen Aufbruch zur Folge hatte.

      Marc und Emilie packten ihre Schulsachen und verabschiedeten sich, der Vater küsste seine Frau auf die Stirn und sagte: „Also dann, bis heute Abend.“

      „Schwesterherz“, sagte Erika am Telefon, „stell dir vor, es hat geklappt. Es ist soweit. Ich hatte es dir ja schon angekündigt.“

      „Wie? Was?“

      „Na, meine Kur! Die haben mir sechs Wochen auf Borkum genehmigt“, jubelte Erika.

      Die Reaktion auf der anderen Seite war bedeutend weniger euphorisch. „Ach so, ja, wie schön für dich. Wann soll es denn losgehen?“

      „Schon am 17., also in zwei Wochen.“

      „Da hast du aber Glück. Ich komme nämlich erst am 15. von der Fahrt mit dem Gesangverein aus Bayern zurück.“

      „Na, das passt ja prima. Du brauchst ja keine großen Vorbereitungen zu machen und meine drei sind doch pflegeleicht, oder?“

      „Na, pflegeleicht würde ich nicht gerade sagen, aber wir werden uns schon zusammenraufen. Das letzte Mal hat es ja auch geklappt.“

      „Und um Martin wirst du dich kaum zu kümmern brauchen. Der wird in dieser Zeit häufig auswärts sein, hat er gesagt.“

      „Na, na, na“, unkte Lydia. Aber Erika sagte nur: „Quatsch, was du immer gleich denkst. Er ist mit der Firma unterwegs, auf Montage.“

      „Ach, so nennt man das heute“, stichelte die Schwester weiter.

      „Also abgemacht“, stellte Erika fest und überging die anzügliche Bemerkung ihrer Schwester, „ich ruf dich aus der Kur an und frag‘, wie es so läuft. Und – danke – Schwesterherz, mach‘s gut.“

      Und noch bevor `Tante Lydia´ reagieren konnte hatte ihre Schwester schon aufgelegt.

      Erika war eine Frau der Tat. „Ich fahre doch nicht sechs Wochen irgendwo hin, wo ich mich nicht auskenne, ohne mich nicht vorher zu informieren“, hatte sie gesagt und kurzerhand das Fremdenverkehrsbüro der Stadt Borkum angeschrieben und um Informationsmaterial gebeten. Schon nach drei Tagen erhielt sie einen DIN A 4 Briefumschlag mit allerlei Prospekten, einer Inselkarte, einem Veranstaltungskalender und folgendem Brief:

      „Moin, Frau Schwarz,

      wir freuen uns über Ihre Anfrage und Ihr damit verbundenes Interesse an unserer schönen Insel Borkum mitten im Hochseeklima.

      Anbei die von Ihnen gewünschten Informationen.

      Ob für eine Atempause, einen Kurzurlaub oder einen ausgedehnten Ferienaufenthalt: Borkum wird Ihnen gut tun. Unsere Insel ist zu jeder Jahreszeit eine Reise wert. Genießen Sie den endlosen Strand, die sanft geschwungenen Dünen und den faszinierenden Weitblick über das Meer. Bei uns auf der Insel trennt Wasser nicht, es verbindet. Überall spürt man die Begeisterung für die reizvolle Landschaft, wohltuende Natürlichkeit und Lebendigkeit.

      Herzliche Grüße von der Insel Borkum.“

      „Das gefällt mir jetzt schon“, sagte sie zu ihrem Mann, „die Ostfriesen scheinen wirklich nette Leute zu sein.“

      Erika war noch nie in Ostfriesland und auch nicht auf einer ostfriesischen Insel gewesen. Sie war in Kassel geboren und aufgewachsen, hatte eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht und war viele Jahre in diesem Beruf tätig gewesen. Als ihr dann eines Tages die Leitung des Kindergartens übertragen worden war, erfüllte es sie mit Stolz. Aber als dann eine weitere Gruppe eröffnet wurde ohne zusätzliches Personal einzustellen, hatte sie es nur eine gewisse Zeit durchgehalten. Dann war sie zusammengebrochen.

      „Burn-out“, hatte ihr Hausarzt festgestellt und sie bis auf weiteres krankgeschrieben. Und nun war es endlich soweit: Raus aus der Familie, raus aus der gewohnten Umgebung, raus aus Kassel. Sie liebte diese Stadt zwar, das pulsierende Leben in den verschiedenen Einkaufszonen, die kulturellen Angebote und vor allem das Grün, das es überall gab, in der Aue und im Naturpark Wilhelmshöhe. So oft es ihre Zeit erlaubt hatte war sie dort spazieren gegangen. Der Park war riesig, dazu die Kaskaden und die Wasserspiele am Herkules, das Schloss und die Löwenburg.

      Das würde sie sicher vermissen. Andererseits konnte das auch durchaus reizvoll sein, was die Prospekte versprachen: Dünen und Strand, das weite Meer und der schier unendliche Himmel. Sie freute sich auf die neue Erfahrung.

      Als ihre Kinder sie am Abreisetag am Bahnhof Wilhelmshöhe verabschiedeten, gaben sie ihr noch einige gutgemeinte Ratschläge mit auf die Reise: „Vergiss nicht, immer deinen Strohhut aufzusetzen, sonst bekommst du wieder einen Sonnenstich.“ - „Schwimm nicht so weit raus, die Nordsee

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