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besseres Wissen behauptete, van der Lubbe sei homosexuell. Heute bedauert van Leuven, dass er sich damals dazu hergab, "im Parteiinteresse" eine wissentlich falsche Aussage zu machen.

      Zusammen mit weiteren derartigen Zeugenaussagen ergab dann das Urteil der Kommission über Lubbe genau das, was im Braunbuch längst mit dem Schlagwort "Werkzeug der Nazis" umschrieben worden war. Die Kommission stellte fest: "Er (Lubbe) lebte von 1927 bis 1933 in einem Milieu von mehr oder minder anarchistischen Elementen, von Homosexuellen, zu denen er selbst gehörte."

      Am Abend des fünften Verhandlungstags versammelte sich die Kommission in einem Hotel-Appartement. Das amerikanische Kommissions-Mitglied Hays schildert, wie der schwerfällige und würdevolle Pritt im Badezimmer saß und auf der Schreibmaschine hämmerte, während Dr. Kurt Rosenfeld, Torglers früherer Rechtsbeistand (der zuvor als Zeuge vor der Kommission aufgetreten war), zusammen mit anderen Komiteemitgliedern die einzelnen Teile des "Spruches" redigierte. Zahlreiche Leute saßen oder standen rauchend und schwatzend herum. Das Bett war mit Papieren bedeckt. Der todmüde Hays legte sich schließlich erschöpft in irgendeiner Ecke auf den Fußboden und schlief ein.

      Der "Spruch von London", dessen Formulierung von Gaston Bergery stammt und der gezielt am 20. September, also einen Tag vor Beginn des deutschen Reichstagsbrandprozesses verkündet wurde, lautete:

      Die Kommission ist zu folgenden Schlussfolgerungen ihrer Untersuchung gekommen.

      1. Dass von der Lubbe nicht Mitglied, sondern ein Gegner der kommunistischen Partei war, dass keine Spur einer wie immer georteten Verbindung zwischen der KPD und dem Reichstagsbrand besteht, dass die Angeklagten Torgler, Dimitroff, Popoff und Taneff nicht nur unschuldig sind an dem Verbrechen, dessen sie beschuldigt werden, sondern dass sie auch in keiner Weise - weder direkt noch indirekt - mit dem Verbrechen in Verbindung bzw. in Beziehung standen.

      Diese Feststellung entsprach den Tatsachen.

      2. Dass die Dokumente und mündlichen Aussagen sowie das übrige Material, das die Kommission in Händen hat, geeignet sind, festzustellen, dass van der Lubbe das Verbrechen nicht allein begangen haben kann.

      Das war zugleich auch die These der Nazis und der deutschen Untersuchungsbehörden.

      3. Dass die Prüfung aller Möglichkeiten von Ein- und Ausgang vom und zum Reichstag es höchst wahrscheinlich macht, dass die Brandstifter den unterirdischen Gang benutzt haben, der vom, Reichstagspräsidentenpalais zum Reichstag führt.

      Das wiederum entsprach genau der Auffassung Görings.

      4. Dass ein solcher Brand zu der in Frage kommenden Zelt von großem Vorteil für die nationalsozialistische Partei war; dass aus diesem und anderen Gründen ... schwerwiegende Anhaltspunkte für den Verdacht gegeben sind, dass der Reichstag von führenden Persönlichkeiten der nationalsozialistischen Partei oder in deren Auftrag in Brand gesetzt wurde.

      Die Londoner Kommission und viele andere Juristen in aller Welt haben dem deutschen Oberreichsanwalt zu Recht vorgeworfen, dass er unter Verzicht auf jede Beweisführung gegen die Beschuldigten Torgler, Dimitroff, Taneff und Popoff Anklage erhob und sich dabei der Erklärung bediente, es sei "unerheblich, in welcher Weise die Angeklagten im Einzelnen an der Tat selbst beteiligt" gewesen seien.

      Die Londoner Gegenseite freilich war ebenso voreingenommen, denn auch in London musste man auf jede Beweisführung verzichten, weil man keine Beweise, sondern allenfalls Verdachtsmomente geltend machen konnte. Weder der Leipziger Oberreichsanwalt noch die Londoner Kommission begnügten sich mit dem tatsächlich vorliegenden Beweismaterial, denn sonst hätte man in London wie in Leipzig zu dem Ergebnis kommen müssen, dass weder die Nazis noch die Kommunisten mit dem Reichstagsbrand etwas zu tun gehabt hatten.

      An die Möglichkeit, dass van der Lubbe allein gehandelt hatte, glaubte zum Zeitpunkt des Prozesses ohnehin niemand mehr. Der ungeschlachte Holländer, der die meiste Zeit apathisch, zusammengesunken und leichenblass vor seinen Richtern saß, sollte den Riesenbrand ohne jede Hilfe entfacht haben? Er sollte seine Tat vor der Polizei in allen Einzelheiten und in einwandfreiem Deutsch gestanden haben, sollte in langen, lebhaften Diskussionen seine Argumente dargelegt, sollte hervorragend gezeichnet, ja sogar die Protokolle geändert haben?

      Was aber stand denn in diesen Protokollen? Gab es sie überhaupt? Wer hatte sie je gesehen? Münzenbergs Männer in Paris waren mit der Antwort schnell bei der Hand: Die Nazis hatten das erste Polizei-Protokoll verschwinden lassen, weil darin für sie gefährliche Dinge standen. Heißt es im Braunbuch I:

      "Es wurde vor Gericht nie festgestellt, was in diesem ersten Protokoll stand. Das Verschwinden dieses ersten Protokolls ist eine der großen 'Merkwürdigkeiten' des Reichstagsbrandprozesses."

      Münzenberg und seine Redakteure wussten recht gut, dass dieses Protokoll keineswegs verschwunden war, zumal aus den Verhandlungsniederschriften des Reichsgerichts in Leipzig hervorging, dass es in der Gerichtsverhandlung häufig zitiert wurde. Also zogen sie sich auf die Tatsache zurück, dass man das Protokoll vor Gericht nie "verlesen" hatte. Dies war ihnen Beweis genug, dass für die Nazis unangenehme Dinge in diesem Protokoll stehen mussten.

      Die Braunbuch-Kommunisten hatten jedoch offensichtlich keine Ahnung von der deutschen Strafprozessordnung. Denn nach dem Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsprinzip bestand für das Gericht normalerweise gar keine Möglichkeit, die von der Polizei aufgenommenen Vernehmungsprotokolle in der Hauptverhandlung verlesen zu lassen. Nur das, was von Zeugen unmittelbar bekundet wird, darf Verwendung finden, damit sich das Gericht vom Zeugen und seinen Aussagen ein eigenes Bild machen kann.

      Die von den Braunbuch-Autoren aufgebrachte Legende, die Nazis hätten das Protokoll der Kriminalpolizei verschwinden lassen, geistert seither durch nahezu alle Berichte über den Reichstagsbrand, die nach dem Krieg erschienen sind. Auch Dr. Richard Wolff, der Anfang dieses Jahres verstorbene Verfasser jenes offiziösen Forschungsberichts über den Reichstagsbrand, der heute in der Bundesrepublik in Hunderttausenden von Exemplaren existiert und als Unterrichtsmaterial verwendet wird, hat die Legende kritiklos übernommen.

      Dr. Wolff, der 1938 emigrierte, sich in Nairobi niederließ und britischer Staatsbürger wurde, erhielt 1955 von der Bonner Bundeszentrale für Heimatdienst einen gutdotierten Forschungsauftrag. Mit Unterstützung westdeutscher Behörden sollte er versuchen, das Geheimnis des Reichstagsbrandes endlich zu klären. Der Forschungsbericht, den Wolff schließlich vorlegte, steckt nicht nur voller zum Teil leicht nachweisbarer Fehler und Ungenauigkeiten, er gehört auch zu dem Naivsten, was je über den Reichstagsbrand geschrieben wurde.

      Dr. Wolff beklagt, dass es ihm nicht gelungen sei, ein Exemplar der sieben Kopien des Polizeiprotokolls aufzutreiben. Sie seien von den Nazis "systematisch vernichtet" worden. Überhaupt wundert er sich über den "erstaunlichen Quellenmangel", der ihm viel zu schaffen gemacht habe: "Es ist mir nicht gelungen, ein amtliches Stenogramm der Anklage des Oberreichsanwalts und der Reichsgerichtsverhandlung aufzutreiben oder auch nur festzustellen, wer von den maßgebenden Juristen des Prozesses noch am Leben ist."

      Forschungsbeauftragter Dr. Wolff kann nicht sehr eingehend geforscht haben; denn es existieren nicht nur die Protokolle der Kriminalpolizei, auch Anklageschrift und Urteil liegen im vollständigen Text vor. Zudem leben noch viele der am Verfahren beteiligten Kriminalbeamten und Juristen. Zwar zeigen sich zumal die ehemaligen Reichsgerichtsräte, die das Grauen der russischen Internierungshaft überlebt haben, nicht allzu begierig, über den Reichstagsbrand zu sprechen; ihre Anschriften sind aber durch die Justizverwaltung der Bundesrepublik ohne Schwierigkeit zu beschaffen.

      Obwohl Dr. Wolff also an die entscheidenden Quellen gar nicht herangekommen ist, betrachtete er es "als erwiesen", dass van der Lubbe nur ein harmloser Strohmann war und dass in Wahrheit die SA mit Zustimmung Hitlers den Reichstag angesteckt habe.

      Dr. Wolffs mit Bundesgeldern erstellter Forschungsbericht wurde bald zur wichtigsten Unterlage zahlreicher "Dokumentarberichte", die in den letzten Jahren in der deutschen und ausländischen Presse erschienen. Da auch die Autoren dieser Berichte nicht an die Originaldokumente herankamen, übernahmen sie nur zu gern neben anderen Legenden auch die These von den verschwundenen Polizeiprotokollen. Schrieben die Gemeinschaftsautoren Heydecker/Leeb in der "Münchner Illustrierten" Nr. 51/1957: "Alle acht Exemplare dieses inhaltsschweren

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