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Inselromane. Julia Meier
Читать онлайн.Название Inselromane
Год выпуска 0
isbn 9783772001727
Автор произведения Julia Meier
Жанр Документальная литература
Серия Beiträge zur nordischen Philologie
Издательство Bookwire
An dieser Stelle löst sich der auktoriale Erzähler von seinen Figuren: „Wir lassen jetzt unsere Reisende segeln oder fahren, wie es ihnen gefällt“ (IS I: 121), und wendet sich explizit an den Leser, indem er über die Möglichkeiten der Dichtung reflektiert, Landschaft in Worten wiederzugeben. In einer ironischen Wendung bemitleidet er den Leser, der in Romanen immer wieder dieselben Landschaftsbeschreibungen lesen müsse, und spottet über die romantischen Topoi der Naturschilderung: „wie grün die Wälder, wie majestätisch die Berge, wie rauschend die Wasserfälle […]. Wie die Lerchen des Morgens im Felde sangen, und die Nachtigallen am Abend im Haine flöteten“ (IS I: 122). Er hält nichts von „Wortgemälden“ (IS I: 123), da dem Dichter ausser der schwarzen keine Farben zur Verfügung stünden, und damit liessen sich nur Begebenheiten erzählen oder „den inwendigen Menschen“ malen. Dann führt er den Leser durch die holländische Landschaft, beschreibt ihm eine ganze Reihe von Szenen holländischen Lebens, die er sich ansehen könnte, doch rät er ihm von solchen Besichtigungen ab, denn all das sehe der Leser weit besser auf den Bildern der „grossen Meister der niederländischen Schule“ (IS I: 127).5 Da sich die holländischen Szenen wie Beschreibungen von Genrebildern der flämischen und niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts lesen,6 scheint hier ein Medienwechsel stattzufinden, der mit dem Phänomen der romantischen Ironie spielt, indem gemalte Szenen wiederum mit Worten gemalt werden, wodurch die Kritik gegen die „Wortgemälde“ ironisch subvertiert wird. Der Vorgang lässt sich aber auch als Hinweis auf ein Wechselspiel, eine gegenseitige „Befruchtung“ von Malerei und Dichtung verstehen.
Bezeichnenderweise ist es ein prosaischer Einwurf Hanna Hellkrafts, der den Kunstdiskurs des Erzählers beendet, so dass der Leser von der Höhe der kunsttheoretischen Reflexionsebene abrupt auf die „flache seichte Ebene“ stürzt, wie Hanna Hellkraft die holländische Landschaft bezeichnet, welche sie als „Schweizerin, auf dem Rigi geboren“ (IS I: 128), geradezu verabscheut; ihr Urteil führt bei den Gefährten zu einem Gespräch über die Lebens- und Wesensart der Holländer, wobei die Anhäufung teilweise kruder Holländerklischees wie eine Antithese zu den erwähnten romantischen Topoi wirkt.
Auf der Weiterreise werden Eberhard und seine Freunde Zeugen der Hinrichtung ihres Bekannten Obadias Schlenk, der wegen Diebstahls gehängt wird. Wie in einer biblischen Traumvision sieht Eberhard in der folgenden Nacht Obadias auf dem Regenbogen, den der Dieb einst als unnütze „Schnurrpfeiferei der Natur“ bezeichnet hatte (IS I: 88–99), gegen den Himmel klettern. Des Regenbogens bedienen sich in dieser Vision auch die nordischen und germanischen Götter, genannt werden Thor und Heimdall (IS I: 200–201). Der Regenbogen verbindet hier also nicht nur Himmel und Erde, sondern auch heidnische und christliche Mythologie. Mit der Integration der ursprünglichen Religion seines Landes in den biblischen Kontext führt der dänische Autor in gewisser Weise LeibnizLeibniz, Gottfried Wilhelm’Leibniz, Gottfried Wilhelm Vorstellung des alles in sich aufnehmenden Weltganzen fort. Synkretistische Tendenzen verschiedener Art lassen sich im Roman immer wieder feststellen, wie noch zu zeigen sein wird.
Obadias’ Leiche soll als anatomisches Anschauungsmaterial seziert werden, was Eberhard jedoch verhindert, indem er sie den Medizinern abkauft, obwohl er weiss, dass der Tote der Wissenschaft und damit den Lebenden gedient hätte. „Ich bin aber nun einmal so“, gibt er als Begründung an (IS I: 211). Eberhards pietätvolle Tat kontrastiert eine Episode aus Kramers Lebensgeschichte im 2. Teil der WF, in der ein armer Medizinstudent aus Not den Leichnam seiner eigenen Mutter an die Anatomie verkauft (WF II: 225–227).
Die Vorgänge um Obadias’ Tod beeindrucken Lademann so tief, dass er an einem heftigen Fieber erkrankt und ins Delirium gerät. Die Mittel des Arztes bessern seinen Zustand kaum. Was ärztliche Kunst nicht vermag, gelingt jedoch seiner eigenen: Er komponiert eine Seelenmesse für Obadias, spielt sie auf der Orgel der nahen Kirche und ist geheilt.
Während Eberhard den Freunden seine Reflexionen zur erdgebundenen Baukunst, der körperlosen, immer entschwindenden Musik und der Dichtkunst als Bindeglied zwischen beiden vorträgt, gelangen sie nach Saardam, wo sie Peter dem Grossen begegnen, der dort als Schiffszimmermann arbeitet; mit ihm werden die Kunstgespräche fortgeführt, teilweise auch in der Form von Umsetzungen zu konkreten Bühnenwerken. Sie reisen weiter nach Amsterdam, der vermeintlich letzten Station ihrer gemeinsamen Reise. Eberhard trifft dort, wie vereinbart, Kapitän Wolfgang, und erhält von ihm einen Brief, in dem Albert Julius seinen jungen Verwandten in Gedichtform zu sich, dem „hundertjähr’ge[n] Greis/Am hohen Felsenstrande“ einlädt (IS I: 334). Das erste Zeichen Alberts im Roman ist also wie bei Schnabel ein Brief an den Urgrossneffen, doch verleiht die Versform dem Schriftstück ein künstlerisches Gepräge und erhebt so Alberts ersten „Auftritt“ auf die Ebene der Kunst.
Die nun folgende Schiffsreise, zu der sich auch Litzberg und Lademann sowie der ebenfalls aus den WF bekannte Pfarrer Schmelzer einfinden, beschreibt Eberhard in seinem Tagebuch; sein „Ich“ tritt damit an die Stelle des auktorialen Erzählers. Das Tagebuch enthält eine Vielfalt von Gattungen: eine Hymne ans Meer, verfasst in freien Rhythmen, allgemeine Betrachtungen über die Seefahrt sowie die Erzählung diverser Episoden der gegenwärtigen Schifffahrt, zu denen auch die Schilderung eines Sturmes auf hoher See gehört, der die Passagiere zu Tode ängstigt; nur Lademann zeigt keinerlei Furcht, im Gegenteil: er nimmt den Sturm als „Concert sonder Gleichen“ wahr (IS I: 368), hört ihn als grosses musikalisches Kunstwerk und bedauert nur, dass er die ganze Komposition kaum werde zu Papier bringen können. Für ihn überwindet die Kunst den Tod oder zumindest die Todesangst, ähnlich, wie sie sein Delirium nach Obadias’ Hinrichtung heilte.
Eine längere Episode spielt auf Teneriffa, wo die Schiffsreisenden nach dem Sturm Halt machen. Auch in den WF landet die Reisegesellschaft nach überstandenem Sturm auf Teneriffa, und wie bei Schnabel will Eberhard den Pic nicht besteigen. Während in den IS Lademann und Litzberg den Pic erklettern, spaziert Eberhard zusammen mit seinem Hund Suchverloren durch die Wälder der Insel; dabei entdeckt der Hund eine Höhle, in die auch Eberhard eintritt und auf eine grosse Zahl mumifizierter Guanchen stösst. Ganz ähnlich wie in der Episode im Kölner Dom, die der Text explizit in Erinnerung ruft (IS I: 379), läuft Eberhard wieder Gefahr, lebendig begraben zu werden, diesmal in der Gesellschaft von Toten, denn er findet den Weg aus der Höhle nicht mehr. Der Pudel Suchverloren, der seinen Namen nicht umsonst trägt, weist ihm schliesslich den Ausweg und rettet ihm so das Leben.
Bis zur Rückkehr seiner Freunde liest Eberhard in alten Reisebeschreibungen Berichte über die Besteigung des Pic. Als die Gefährten erschöpft zurückkehren, gibt Eberhard in einer detaillierten Erzählung seine Lektüre als eigene Gipfelbesteigung aus. Lademann, der Eberhards Schilderung für bare Münze nimmt, kann nicht verstehen, wie jener alles so genau im Gedächtnis behalten konnte, während er, Lademann, der tatsächlich auf dem Pic war, das meiste schon wieder vergessen habe. Die Lektüre vermag also das Erlebnis zu ersetzen; dessen Wirkung ist in der literarischen Gestaltung tiefer als das reale Erleben.
Ganz zum Schluss, als letztes Kapitel des ersten Teils, wird mit Kapitän Wolfgangs Erzählung seiner Lebensgeschichte erstmals ein zentrales Strukturelement der WF aufgegriffen, die Wiedergabe einer Vielzahl autobiographischer Erzählungen. Bevor Wolfgang beginnt, erörtert er eingehend seine Erzählstrategie und entwirft damit eine auf die Rezipienten zielende Poetik