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Lande. Außer natürlich, wenn er von ihr eine Arbeit abschreiben durfte oder sie ihm gnädigst eine schwierige Mathematikaufgabe siebenmal erklären durfte. Was war er doch für eine Flasche in Mathematik! Sie kann nicht verhindern, dass sie lachen muss. Tanner lacht mit und denkt wohl, seine Erzählung sei witzig. Er hat gerade von dieser alten Frau erzählt, deren Haarteil nicht selten an einem tief hängenden Baumast im Garten hing. Martha hört nur mit halbem Ohr zu.

      Attraktiv ist er immer noch, denkt Martha bei sich, vielleicht sogar noch mehr als damals. Und wie er da sitzt. Wie er das Auto lenkt, als wär’s ein Teil von ihm. Sie betrachtet seine glatte Stirn. Obwohl er immer noch diese dichten Strähnen besitzt, ist die Stirn deutlich höher geworden. Dadurch wirkt seine Nase energischer. Und der Mund noch weicher. Seine Haare hätte sie früher so gerne angefasst, mehr hatte sie ja gar nicht gewollt. Mehr konnte sie sich damals auch gar nicht vorstellen. Jetzt dürfte sie wahrscheinlich alles an ihm anfassen, wenn sie nur wollte. Aber das wird nie geschehen. Das hat sie sich geschworen. Leide nie zweimal wegen demselben Mann. Ein ehernes Gesetz. Und dass sie leiden würde, war sonnenklar. Früher oder später. Wenn hier also einer leidet, dann soll er es sein. Er hat sie lange genug behandelt, als sei sie Luft. Weniger als Luft, denn die braucht man zum Leben. Diesen Moment, damals in den Bergen, wo er ihre Hand halten musste, weil der Lehrer es befohlen hatte, den wird sie allerdings nie vergessen. Da war eine Hitze in ihr, die sie später nie mehr erlebt hat. Und diesen Augenblick wird sie ihm nie verzeihen. Nie wird sie ihm verzeihen, dass er in diesem Moment nicht auch diese Hitze spürte. Im Gegenteil: dass er bei der nächsten Gelegenheit ihre zitternde Hand gleich wieder losließ und schleunigst zu dieser Schlampe, dieser Schlagersängerin aus Prag, überlief. Die einzige Genugtuung bezog sie damals aus der Tatsache, dass die ihn nicht ranließ. Die spielte nur mit ihm. Und auch nur während der Schulstunden. Kaum war nämlich die Schule aus, wurde sie von ihrem viel älteren Freund in einem schnellen Sportwagen abgeholt. Und dann litt Tanner. Und wie er litt. Es war ihm genau anzusehen. Nach ein paar Augenblicken des Genusses hatte sie dann doch Mitleid mit ihm und hasste umso mehr die andere.

      Ja, was für ein netter Teufelskreis.

      Ihre selbstvergessene Bemerkung passt an dieser Stelle zum Glück ganz gut zu der Erzählung von Tanner, der gerade berichtete, dass die alte Frau nachts in ihrem Bett Filme sah, die ein böser Nachbar projiziert haben soll. Wenn sie dann das Bett gewechselt habe, sei ihr der Film auch dort erschienen.

      Eines gefällt ihr an Tanner immer noch. Leider. Schon als Junge besaß er diese Traurigkeit, die sich niemand erklären konnte. Auch heute kann sie sich dieser Trauer kaum entziehen. Immerhin kennt sie einen aktuellen Grund. Diese Elsie, die seit über einem Jahr im Koma liegt, die liebt er anscheinend. Martha graut bei der Vorstellung. Im Koma liegen. Nicht leben, nicht sterben. Aber traurig war er schon immer. Oder war es eher der Ausdruck einer nicht zu stillenden Sehnsucht? Eine Sehnsucht, die vielleicht durch nichts und durch niemanden zu stillen ist? Martha ist sich plötzlich nicht mehr sicher. Auf jeden Fall wird sie sich wappnen. Und nicht mit ihm ins Bett gehen. Keinesfalls.

      Tanner räuspert sich und zeigt auf irgendwelche dunklen Umrisse.

      Schau, Martha, da ist das Schloss, von dem ich dir erzählt habe, weißt du? Derselbe Architekt, ein französischer Offizier, der das Haus erbaut hat, in dem ich wohne. Hörst du mir überhaupt zu?

      Martha schreckt hoch. Dann nickt sie schnell.

      Entschuldige, Tanner, ich bin plötzlich müde. Die Autofahrt hat mich jetzt doch angestrengt und ich hatte einen mühsamen Tag. Und die Hitze.

      Tanner versteht natürlich. Zum Glück sind sie gleich da. Er verlangsamt das Tempo seines Autos. Sie fahren durch ein großes Tor, der Kiesweg knirscht unter den Rädern.

      So. Da sind wir.

      Tanner nickt befriedigt. Er steigt aus und öffnet auf ihrer Seite die Wagentür. Es ist immer noch sehr warm. Über ihnen wölbt sich ein sagenhafter Sternenhimmel. Ein dickbauchiger Mond hängt über den Hügeln. Das dicht bewachsene Haus liegt im Schatten. Es ist still. Nur die Grillen zirpen und in der Ferne bellt dann und wann ein Hund. Der Brunnen zwischen dem Haupthaus und dem niedrigeren Gärtnerhaus plätschert friedlich, als ob er eine unendliche Geschichte zu erzählen wüsste. Martha taucht ihre nackten Arme bis über die Ellbogen in das kühle Wasser. Lange verharrt sie so, wie eine Skulptur. Tanner schaut sie an und wagt nicht, sich zu rühren, als ob er Angst hätte, etwas zu zerstören. Sie dreht ihm ihr Gesicht zu, ohne die Arme aus dem Wasser zu nehmen, schaut ihn lange an. Dann spricht sie leise, aber in einem sehr bestimmten Ton. In diesem neuen Ton, der ihn so überrascht hat.

      Eines sage ich dir, Tanner. Wir werden heute Nacht nicht miteinander schlafen. Und wenn du lieb bist, dann diskutierst du jetzt nicht mit mir. Ich sage es dir und ich meine es genau so, wie ich es sage. Und ich spiele keine Spiele.

      Natürlich liegt Tanner die Frage auf der Zunge, warum sie sich überhaupt entschlossen hat, mit ihm nach Hause zu fahren. Schließlich lag sein Haus ja nicht gerade am Weg. Aber er hütet sich, etwas zu sagen. Es kommt sowieso noch mehr von Martha. Das spürt er. Sie zieht die Arme aus dem Wasser und schüttelt sie ausgiebig.

      Und wenn du dich jetzt zufällig fragen solltest, warum sie denn überhaupt mitgefahren ist, die blöde Kuh, so ist die Antwort ganz einfach. Ich war neugierig auf den Ort, wo sich unser Tanner, der sich all die Jahre so äußerst rar machte, niedergelassen hat. Und das Haus ist wirklich schön. Ja, wunderschön. Und ich wollte nicht allein zurück in meine leere Wohnung. Okay? Jetzt werfen wir noch einen Blick auf den See und danach zeigst du mir das Wunderhaus von innen. Ich bin auch sehr gespannt auf den berühmten Duft, den dieses Haus angeblich verströmt.

      Lachend nimmt sie seinen Arm und zieht Tanner ungestüm in Richtung See, quer durch den Garten, bis zu der steinernen Balustrade, die den Garten abschließt. Das kurze Teilbad im Brunnen hat sie wohl aufgeweckt.

      Hier erst begreift man, dass der Garten wie eine Terrasse ist, von der aus man praktisch den ganzen See überblicken kann. Martha lässt seinen Arm los und blickt stumm in die funkelnde Nacht hinaus.

      Da fehlen mir echt die Worte, das ist … einfach toll. Tanner, ich beneide dich. Okay! Und jetzt der Duft.

      Sie tänzelt los in Richtung Haustür, dreht sich dort auf dem Absatz um und blickt herausfordernd zu Tanner, der für ihren Geschmack ein bisschen zu langsam hinterhertrottet.

      Tanner, öffne den Sesam. Ich will den Duft. Jetzt! Schläfst du schon? Ah, jetzt mach nicht so ein Gesicht, freu dich doch, dass ich hier bin.

      Sie schnappt sich den Schlüssel aus Tanners Hand und öffnet schnell und geschickt die Tür. Sie steht im dunklen, kühlen Steinflur und nimmt einen tiefen Atemzug. Und noch einen. Dann dreht sie sich um und strahlt den etwas zu offensichtlich verstummten Tanner an. Sie hat beschlossen, darauf gar nicht einzugehen.

      Wow, du hast Recht, es riecht, wie, äh … wie wenn man zu Hause angekommen ist. Von weit her. Nach einer sehr, sehr langen, beschwerlichen Reise. Ja, genau. So riecht es hier.

      Martha hat Recht. Genau so duftet es. Tanner nickt und schließt gottergeben die schwere Haustür hinter sich. Martha schwebt in der Zeit bereits die ausgetretenen Steinstufen empor. Sie hat sich auch schon ihre italienischen Schuhe ausgezogen und sie einfach fallen gelassen. Tanner bückt sich seufzend und trägt sie hinauf. Er hört, wie Martha oben seine Wohnung aufschließt. Gleich darauf einige Laute des Entzückens. Als er oben ankommt, hat sie schon alle Türen aufgerissen und erforscht barfuß seine Wohnung. Das Mondlicht schimmert auf den dunklen Holzböden. Tanner lässt sich in der großen Zimmerflucht mit dem Blick zum See auf das Sofa fallen. Ihre Schuhe hat er immer noch in der Hand. Aus dem hintersten Zimmer, wo sein Bett steht, hört er sie lachen.

      Das ist genau die Wohnung, wie ich sie auch möchte. Unendlich viele Zimmer, die alle leer sind, ruft sie. Eine Wohnung, durch die man rennen kann.

      Er schließt die Augen und hört zu, wie sie mit ihren nackten Füßen durch seine Wohnung rennt.

      Er seufzt.

      Wie wird dieser Abend enden? Oder ist er schon zu Ende?

      Seine Wohnung ist natürlich nicht ganz leer. Aber sie hat Recht. Sie wirkt ziemlich leer, weil jedes

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