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habe ich ihr meine Telefonnummer gegeben. Ja, und deswegen hat sie mich gestern angerufen.

      Tanner ist richtig in Fahrt gekommen. Die Lügen sind wie flüssiger Honig aus seinem Mund geflossen. Schmid schaut ihn an, den Kopf in seiner berühmten schiefen Haltung. Wenn Tanner ihn kennen würde, wüsste er, dass Schmid ihm kein Wort glaubt. Schmid glaubt nie jemandem. Grundsätzlich nicht. Und schon gar nicht einem Tanner, der mitten in der Nacht großspurig daherkommt und mir nichts, dir nichts so locker von seinem Besuch im Puff berichtet. Dann nickt er aber Tanner anerkennend zu.

      Doch. Doch, da haben Sie uns ganz schön geholfen. Klingt alles sehr plausibel. Doch, alles klar. Vielen Dank, Herr Tanner. Dürfen wir Ihre Telefonnummer auch haben? Und Ihre Wohnadresse? Und in welchem Hotel Sie in der Stadt logieren? Bleiben Sie überhaupt noch weiter hier?

      Tanner überhört die Anzüglichkeit, die in dem Wörtchen auch steckt, und bringt die gewünschten Angaben zu Papier. Hauptkommissar Schmid starrt wieder gebannt auf die grüne Schreibunterlage. Jetzt weiß Tanner auch mit Bestimmtheit, dass Claudia vom Schlaraffenländli nicht die Polizei angerufen hat. Er erhebt sich, verabschiedet sich und wendet sich zur Tür. Schmid räuspert sich, bevor er noch einmal ruhig spricht.

      Ein bisschen verwunderlich ist es schon, dass Sie mitten in der Nacht zu uns kommen, finden Sie nicht auch? Sie hätten uns das doch alles auch direkt am Tatort sagen können, oder? Aber gehen Sie nur. Sie werden sicher müde sein. Wir sehen uns ja sowieso wieder, da bin ich mir ganz sicher …

      SIEBEN

      In der Zeitung, die Tanner zum Frühstück durchblättert, steht selbstverständlich noch nichts von der ermordeten Michiko. Sie wurde ja erst nach Mitternacht gefunden. Stattdessen liest Tanner einen kleinen Bericht über eine weitere tote Kuh, die in dem kleinen See gefunden wurde, an dem er sich niedergelassen hat.

      Wer, um Gottes willen, ermordet Kühe, schneidet ihnen die Ohren mit den gelben Erkennungsmarken ab und wuchtet die toten Kadaver in den See? Tanner beschließt, seinen Freund Serge Michel anzurufen. Vielleicht hat er mit dem Fall zu tun. Leider meldet sich aber nur der Anrufbeantworter und Tanner verspürt keine Lust eine Botschaft zu hinterlassen.

      Heute steht ein Besuch der Firma, in der sein Großvater früher gearbeitet hat, auf Tanners Programm. Er will unbedingt wenigstens die Fabrik sehen. Vielleicht gibt es noch alte Gebäude, die damals schon standen. Wenn er Glück hat, besitzt die Firma ein Archiv, in das er Einblick nehmen könnte. Gar zu gerne würde Tanner herauskriegen, an welcher Art von Unglücksfall seinem Großvater die Schuld gegeben wurde. Diese Schuld, oder diese vermeintliche Schuld, sei – nach Aussage seiner Mutter – der Auslöser für seine Krankheit gewesen. Genaueres hatte seine Mutter über die Krankheit ihres Vaters nie gesagt.

      Auf Tanners Besuchsliste stehen neben dieser Firma die örtliche Krankenkasse und die psychiatrische Klinik.

      Die psychiatrische Klinik nannte man damals kurz und bündig Friedmatt, heute heißt sie PUK. Psychiatrische Universitätsklinik. Wer die Abkürzung nur hört und Shakespeare kennt, denkt zwangsläufig an den Puck aus dem Sommernachtstraum.

      Tanner muss unwillkürlich schmunzeln.

      Ist das eine Ironie des Schicksals? Man hatte den volkstümlichen Namen Friedmatt, der für alles stand, was mit Psychiatrie zu tun hatte, endlich durch einen seriösen Namen, eine korrekte Abkürzung ersetzt und ist dadurch unbeabsichtigt bei Puck gelandet, dem koboldhaften Verstörer, der den Mädchen mit Vorliebe böse Streiche spielt, und so manchen Wanderer, der durch altenglische Moore streifte, mit seinen Irrlichtern in ein Sumpfloch, sprich: in den Tod führte. So hat es der Zufall – oder eine andere unbekannte, ordnende Macht – verhindert, dass die psychiatrische Klinik eine kühle, verwaltungstechnisch korrekte Bezeichnung bekam, sondern stattdessen einen poetisch verrückten Namen aus der Welt der Träume und der Phantasie.

      Neben der Friedmatt gab es für das quasi Nicht-Normale noch einen Ort: die Webstube. Werkstätten für alle, die in den Augen der Gesellschaft zwar nicht normal, aber ungefährlich waren. Das waren vor allem die Mongoloiden, wie man sie damals noch nannte. Inklusive alle anderen Arten von geistig und körperlich Behinderten, für die man noch nicht so differenzierte Bezeichnungen hatte wie heute, außer natürlich den unflätigen. Also nannte man sie allesamt die Webstübler. Man erkannte sie schon von weitem an ihren völlig deplatzierten Kleidern und Mützen. Sie wurden aus Kleidersammlungen für Arme versorgt.

      In der nächsten Umgebung der Friedmatt waren auch ein Friedhof, die Kehrrichtverbrennung, eine Knochensiederei, die Großwäscherei für Spitäler und eine Sammelstelle für Kadaver angesiedelt.

      Alles, was man in der Stadt nicht mehr haben wollte, und alles, was erst gründlich ausgekocht, gewaschen, durch die Mangel gedreht, therapiert, mit Medikamenten quasi »chemisch gereinigt« werden musste, bevor man es wieder in die Stadt hineinlassen konnte, war in diesem Stadtteil versammelt. Ort der Ausgrenzung. Ort der Verwandlung. Der Gärung. Der Zersetzung. Der alchemistischen Prozesse. Es roch nach Tod. Oder wie man in Tanners Geburtsstadt sagen würde: es schmeckt nach Tod … Heute wird er das noch mal mit anderen Augen sehen.

      In den großen Schulferien arbeitete Tanner einmal in der städtischen Kehrichtverbrennungsanlage. Er saß mit zwei Männern mittleren Alters Tag für Tag acht Stunden und fünfundvierzig Minuten in dem kleinen Haus. Ihre Aufgabe war es, sämtliche ankommende Fahrzeuge, die Kehricht brachten, aufs Genaueste zu wiegen. Nach dem Abladen wurde das leere Fahrzeug noch einmal gewogen und die drei von der Waage ermittelten mittels einer einfachen Subtraktion das gelieferte Nettokehrichtgewicht.

      Einer war natürlich der Chef. Er öffnete am Morgen, wenn’s losging, die Schranke des Werkhofs und senkte sie bei Feierabend. Er, und nur er, grüßte jeden aufs Gelände hereinfahrenden Fahrer und jeden, der das Gelände wieder verließ. Er verfügte über eine breite Palette fein abgestufter stummer Gruß- und Winkformen.

      Zum Beispiel grüßte er den Direktor der Kehrichtverbrennungsanlage, der als einziger einen Mercedes fuhr, und zwar selbstverständlich einen schwarzen, mit militärischen Ehren. Zweimal täglich. Der König kommt. Der König geht. Er stand stramm und grüßte mit mathematisch exakt angewinkelter Hand an der Stirn. Bis der König, also der Direktor, außer Sichtweite war. Dabei summte er regelmäßig eine ziemlich rassige Marschmelodie, die der Direktor allerdings nicht hören konnte. Am unteren Ende seines Grußregisters gab es nur noch ein nachlässiges, kaum angedeutetes Nicken. Sichtete er einmal wöchentlich die Frau des Direktors in ihrem roten Mercedes Coupé, hob er begeistert beide Arme und schüttelte seine beiden Hände wie zu einem verrückten Tanz, bis der Wagen nicht mehr zu sehen war. Sie war einmal Miss Schweiz gewesen und beschäftigte zu hundert Prozent die sexuelle Phantasie sämtlicher Angestellter der städtischen Verbrennungsanlage. Die Arbeiter rissen sich einmal die Woche darum, ihr Auto mitten auf dem Werkhof waschen zu dürfen. Es fehlte nicht viel und sie hätten noch auf Knien – und mit einer Zahnbürste bewaffnet – die Profile der Reifen gereinigt.

      Einen wöchentlichen Auftrag allerdings hasste Tanner. Er musste die Rechnung in die Knochensiederei bringen. Und da roch es so fürchterlich nach Verwesung und Tod, dass er anschließend jeweils noch zwei Tage glaubte, den Geruch in der Nase zu haben. Diesen Ort würde Tanner auch nicht für viel Geld noch einmal besuchen wollen.

      Er wird also in die Psychiatrische Universitätsklinik gehen. Erstens, um zu sehen, wo sein Großvater bei Ausbruch seiner Krankheit eingeliefert worden war, und zweitens, um ein Gesuch um Akteneinsicht zu stellen. Und vor allem will er noch einmal zu dem sprechenden Busch. Die Sprache des verborgenen Wesens hat ihn neugierig gemacht. Außerdem könnte er vielleicht etwas über die Mörder von Michiko erfahren.

      Am Nachmittag wird er im Gartenbad hinter dem großen Fußballstadion baden gehen. Ein weiterer Nostalgieabstecher. Außerdem verspricht der Tag wieder heiß zu werden und heute Abend will er ausgeruht und erfrischt zum Essen mit Martha erscheinen. Falls sie es nicht vergessen hat. Sie will ihn ja deswegen noch anrufen. Tanner beendet sein Frühstück und macht sich auf den Weg zum Theaterbrunnen.

      In der Stadt herrscht reges Treiben. Jeder, der kann, macht seine Einkäufe und geschäftlichen Besorgungen am Morgen, solange die Luft

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