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      »Halbstarke« und »Negermusik«

      Die traumatisierte Nachkriegsjugend passt sich der Kultur der Besatzer an. »Deutschsein« gilt als verpönt, Amerika und technischer Fortschritt werden zum Synonym für eine lebenswerte Zukunft. In der Schlagerindustrie hat man den Kontakt zur Jugend längst verloren. Musik und Text werden nach Vorkriegsmuster an der neuen, kaufwilligen Zielgruppe vorbeiproduziert, die sich ihre »Negermusik« lieber aus Übersee holt. Wer die eigenen Platten nicht in der Musiktruhe der Eltern abspielen darf, weil im Wohnzimmer Onkel und Tante beim Kaffee sitzen, trifft sich sonntagnachmittags in Vereinsheimen oder im örtlichen Gemeindehaus zum Musikhören und Tanzen. Der tragbare Plattenspieler wird zum Statussymbol, Opas Dampfradio stellt über Radio Luxemburg oder AFN (American Forces Network, der Rundfunk der US-Armee) den Kontakt zur Welt außerhalb des deutschen Schlagersumpfs her.

      Im Jahre 1955 schießt Bill Haleys »Rock Around the Clock« aus dem Film »Saat der Gewalt« an die Spitze der deutschen Hitparade. Obwohl bald auch deutsche Interpreten wie Peter Kraus (»Sugar Sugar Baby«) oder Ted Herold (»Moonlight«) eine brave Variante des Rock’n’Roll präsentieren, bleiben sie doch Imitationen. Als Haley drei Jahre später als erster amerikanischer Rock-’n’-Roll-Star auch in Deutschland auftritt, zeigt sich das andere Gesicht einer Jugend, die nicht in den Schemata einer sich selbst verleugnenden Kriegsgeneration verharren will, sondern aufbegehrt: In Essen, Hamburg, Berlin und Stuttgart kommt es zu Tumulten, Stühle werden zertrümmert. Der Rheinische Merkur nennt Haley einen »Komet der Triebentfesselung«. Allein im Berliner Sportpalast entsteht ein Schaden von über 50.000 Mark – jenseits der Mauer süffisant kommentiert vom SED-Organ Neues Deutschland, das in den Ausschreitungen eine »Orgie der amerikanischen Unkultur« sieht. »Rock Around the Clock« wird zur Halbstarken-Hymne, die US-amerikanischen Rock’n’Roller zu neuen Jugendidolen, welche mit Texten über Teenager-Nöte und Freizeitspaß gegen den Mief der Fünfziger ansingen – eine Stellvertreterfunktion, die das Genre Rockmusik bis zum Punk der späten Siebziger kennzeichnen soll.

      Der Staat steht dem neuen Lebensgefühl seiner Jugend hilflos gegenüber. Häufig kommt es zu Überreaktionen gegen Subkultur und »linke« Presse. Im Oktober 1962 gehen die Behörden mit der Begründung des Landesverrats rücksichtslos gegen das Hamburger Nachrichtenmagazin Spiegel und seinen Herausgeber Rudolf Augstein vor. In der »Spiegel-Affäre« sehen viele eine ernste Bedrohung von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Als sich ein wirtschaftlicher Einbruch zum Ende des Nachkriegsbooms zur handfesten Regierungskrise ausweitet, zieht ausgerechnet die 1964 gegründete NPD mit überraschenden Wahlerfolgen ihren Nutzen daraus. Im Herbst 1966 wird eine Große Koalition zur Überwindung der Krise gebildet.

      Mit den ersten Erfolgen der Beatles in Deutschland – und insbesondere durch die deutschen Versionen von »I Wanna Hold Your Hand« (»Komm gib mir deine Hand«) und »She Loves You« (»Sie liebt dich«) – öffnet sich der bürgerliche Publikumsgeschmack während der Sechziger immer mehr für internationale Popmusik. Die Musikbranche trägt dieser Entwicklung Rechnung, indem sie ausländische Interpreten mit unüberhörbarem Akzent deutsche Liedchen trällern lässt. »Memories of Heidelberg« wird für Peggy March 1967 zu einem Riesenerfolg, aber auch der ehemalige Jazzsänger Bill Ramsey, Esther Ofarim, Wencke Myhre oder Connie Francis profitieren von der neuen Masche. Die Abkehr der Jugend von dem zum Inbegriff des Spießertums verkommenen Schlager ist trotzdem nicht mehr aufzuhalten.

      Wurden zu Anfang des Jahrzehnts noch die meisten Nummer-eins-Hits in deutscher Sprache gesungen, so sinkt deren Anteil in den Folgejahren auf unter zehn Prozent. Der Musikjournalist und spätere Krautrock-Produzent Rolf-Ulrich Kaiser fällt ein hartes Urteil über die Drahtzieher der Schlagerbranche: »Zu satt, zu fett, zu alt«. Eine neue Richtung, an der sich die junge Generation musikalisch orientieren könnte, hat sich in Deutschland noch nicht entwickelt. Von Hamburg aus, wo englische Bands harte Lehrjahre in den dortigen Clubs absolvieren, erobert schließlich der britische Beat den Markt.

      Identifikationsmodell Beat

      »Die englischen Beat-Gruppen haben etwas Neues gemacht«, erinnert sich Roman Bunka. »Ich weiß noch deutlich, wie die ersten Sendungen des Beat-Club im Fernsehen kamen, die wir begeistert verfolgt haben.« Als am 25. September 1965 die erste Folge des legendären TV-Formats von Radio Bremen live ausgestrahlt wird, beginnt eine mediale Durchsetzung der jüngeren Bevölkerungsgruppen, die sich wohl nur noch mit der Wirkung von MTV in den Achtzigern vergleichen lässt. Die Stars aus Großbritannien und Übersee flimmern erstmals zum Greifen nah über die Bildschirme der Wohnstuben. Musik, Kleidung, Instrumente, Haarschnitte sind nun direkt erlebbar und ergeben das Gesamtbild einer neuen Kultur, die zum Vorbild für die deutsche Jugend wird – auch für Bunka: »Das war DIE Serie, wo zum ersten Mal Beatmusik im Fernsehen kam. Meine Mutter hat voller Entsetzen ein paar Kommentare dazu abgegeben. Ein paar von den Jungs mochte sie aber auch. Es gab eben die Guten und die Bösen. Die Pretty Things waren die Bösen.«

      Auf deutschen Bühnen tummelt sich englischer Pop-Import, Jugendliche feiern fanatisch ihre Idole. Die bürgerliche Gesellschaft ist angesichts dieser neuen Hysterie verunsichert. Lothar Stahl, späterer Schlagzeuger der Karlsruher Checkpoint Charlie, erinnert sich:

      »Hauptsächlich sind damals englische Bands rübergekommen, da war es immer voll. Alle Kids sind hingerannt. Die Schwarzwaldhalle in Karlsruhe, wo drei-, viertausend Leute hineingehen, war übervoll, und es standen nochmal ein paar hundert, vielleicht tausend Leute vor der Tür. Dann wurde die Halle gestürmt. Wir sind als Kids um die Halle gekreist und haben geguckt, wo man noch reinkönnte, ob vielleicht einer ein Klofenster offen gelassen hat oder sowas. Irgendwann ging eine Scheibe zu Bruch, dann kamen sie mit Hundestaffeln und haben angefangen, alles abzusichern.«

      2. Vorbilder und erste Gehversuche

      »Es gab in Deutschland verschiedene Musikkulturen, bedingt durch die verschiedenen Besatzungszonen. Im Norden waren die Engländer, im Süden die amerikanische Zone. Die ganzen deutschen Beat-Bands kamen daher aus Hamburg und nicht unbedingt aus Bayern.«

      – Roman Bunka –

      Beat-Bands in Deutschland

      Bald beginnen auch deutsche Musikgruppen, die Briten zu kopieren. Bands wie The Lords und The Rattles eifern in Musik, Text und Kleidungsstil (oft erfolgreich) ihren Vorbildern nach. In Schulaulen und Kneipensälen entwickelt sich zaghaft eine deutsche Beatszene: »Während der Beat-Zeit habe ich in Kassel gewohnt«, erzählt Roman Bunka. »Meine erste Beat-Band habe ich mit dreizehn, vierzehn auf dem Weg zur Schule gesehen – da wurde ein Eiscafé eröffnet. Man trat auch viel in Sportclubs, bei Schulfesten und Uni-Feten auf. In Kleinstädten wie Rothenfels am Main fanden Beat-Wettbewerbe mit Gruppen aus der Gegend statt.«

      Besonders im Norden der Bundesrepublik entsteht, unter dem Einfluss der von den Beatles geprägten Hamburger Clubszene, eine ambitionierte Liga von Imitatoren. Anschauungsmaterial gibt es reichlich: Viele, auch weniger bekannte britische Bands spielen regelmäßig auf dem »Kontinent«, Hamburg wird zum deutschen Mekka des Beat. In der Gruppe The Cavern Beat spielt und singt der junge Frank Bornemann: »Wir haben viel von den Beatles nachgespielt – ich musste immer die McCartney-Stimmen singen.« Von einer lokalen Musikerszene im heutigen Sinne ist man freilich auch im Norden noch Jahrzehnte entfernt. »Vor allem die Schlagzeuger waren damals zum Teil furchtbar schlecht«, sagt Bornemann. »Die Bassisten waren auch nicht gerade zum Angeben. Wir mussten ja alle erstmal lernen – Musik war noch kein Breitensport wie heute.«

      Die Nähe zum Beat-Mutterland England erweist sich jedoch als künstlerische Offenbarung. Bornemann ist heute noch begeistert: »Man hatte sehr engen Kontakt zur englischen Szene. Das waren ja vorwiegend Bands aus England, die dort spielten, und als deutsche Band rutschte man so mit rein. Für uns war das ideal: Wir haben ihnen die Riffs und die Gitarrentechniken abgeguckt. Was ich genial fand, war das Gitarrenspiel dieser Londoner Bands. Manchmal hat man sich auch hinter der Bühne unterhalten und gefragt, ›Wie machst du denn das, kannst du mir das mal zeigen?‹

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