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      Frau Loths Traum

      CHRISTIANE DIECKERHOFF

      Frau Loth hatte einen geheimen Traum: Nur einmal, nur ein einziges Mal wollte sie etwas wirklich Gro-ßes vollbringen. So groß und einzigartig, dass ein Bild von ihr auf der ersten Seite der Oberhessischen Presse erscheinen würde. Einmal Heldin. Mindestens für Marburg. Oder besser noch für die Welt.

      Dabei ging es Frau Loth nicht um irgendeinen Ruhm. Sollte sie im Lotto gewinnen, würde sie das hübsch für sich behalten und sie würde auch niemanden umbringen, um in die Zeitung zu kommen. Obwohl? Damals, als Klaus die Neue hatte. Da hatte es sie schon in den Fingern gejuckt. Am liebsten hätte sie ihn von einer der Lahnbrücken, oder auf der Stadtautobahn aus dem Wagen geschubst. Sie hatte es dann doch nicht gemacht. Wer hätte sich dann um Jasmin gekümmert? Außerdem gab es auch nichts zu erben, keine Lebensversicherung, nichts. Und ein toter Klaus hätte keinen Unterhalt zahlen können. Das Geld reichte sowieso immer nur bis zum 20ten, in guten Monaten bis zum 25. Dann war spätestens Ultimo für Frau Loth. Also trug sie wie schon in den vergangenen neunzehn Jahren, vier Monaten und dreieinhalb Wochen frühmorgens zuverlässig Zeitungen aus und träumte in den dunklen Stunden zwischen Briefkasten und Fahrradtaschen ihren Traum vom großen Ruhm. Warum nicht mal bei der morgendlichen Runde einen überfall vereiteln, einen Mord verhindern oder zumindest ein Kätzchen retten? Es gab so viele Möglichkeiten. Irgendwann wäre sie zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Das wusste Frau Loth so sicher, wie sie wusste, in welche Briefkästen sie Zeitungen stecken musste. Ein Mal hätte es fast schon geklappt: Als die Mensabrücke einen neuen Namen bekommen hatte, war sie zufällig vorbeigekommen und hatte noch versucht, sich mit dem Fahrrad vor den Fotografen zu schieben. Vergeblich. Am nächsten Tag berichtete die Oberhessische Presse ausführlich, aber von Frau Loth sah man nur das Hinterrad und ihr Gesäß. Nicht gerade ihre Schokoladenseite.

      An schlechten Tagen rang sie der Gedanke nieder, dass ihre einzige Chance, es noch zu Lebzeiten in die OP zu schaffen, die Jubilarehrung nach dem jährlichen Ausflug sein würde: Wenn der Chefredakteur zu Salzekuchen und Kassler einlud wurde nämlich immer ein Foto gemacht, und das kam dann auf die zweite Seite. Unter dem Bild stand dann, dass die Zusteller die Oberhessische Presse bei jedem Wetter pünktlich zu den Abonnementen brachten.

      Schon wenn sie am Ausflugstag in der Druckerei an der Frauenbergstraße auf den Bus warteten, flogen die Geschichten nur so hin und her und Frau Loth knirschte vor Neid mit den Zähnen. Was da alles passierte. Man machte sich ja kein Bild. Selbst im so beschaulichen Kirchvers passierte mehr als im Südviertel. Elli aus Kirchhain hatte einen Betrunkenen vor dem Erfrieren gerettet. Im tiefsten Winter hatte sie ihn schlafend im Windfang vor seiner Haustür gefunden, den Schlüssel in der Hand. Zu betrunken, um das Loch zu finden, hatte Elli noch gedacht, aber dann hatte sie gemerkt, dass der Schlüssel nicht passte. Der Mann nuschelte nur unverständliches Zeug, als sie ihn nach seinem Namen fragte, also hatte sie in seinem Ausweis nachgeschaut und siehe da. Der Mann lag vor der falschen Haustür – kein Wunder, in diesen Neubausiedlungen sah doch ein Haus wie das andere aus – und war nicht einmal ein Abonnement. Trotzdem hatte Elli ihn an der richtigen Adresse abgeliefert. Oder Britta aus dem Südkreis. Die hatte mit ihrem Fahrrad eine Kuhherde auf die Weide zurückgetrieben. Einfach so. In Frohnhausen kannte eben jeder jeden. Nicht einmal die Zeitung war deshalb später gekommen.

      Wer gar nichts zu erzählen hatte, prahlte mit dem Wetter oder angriffswütigen Hofhunden. Im Südviertel gab es weder freilaufende Hunde, noch war das Wetter so schlecht wie auf dem Dammelsberg. Also konnte Frau Loth nur erzählen, dass sie Zustellerin in der zweiten Generation war. Auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber das taten die wenigsten Geschichten. Sie hatte den Bezirk damals von ihrer Schwiegermutter übernommen und ihn – im Gegensatz zu Klaus – auch behalten.

      Es war also kein Wunder, dass keine dieser Geschichten in der Zeitung landeten, auch wenn sie zwischen den riesigen Papierrollen erzählt wurden, die in der Druckerei lagerten. Wer interessierte sich schon für betrunkene Ehemänner, und von den freilaufenden Rindern hatte nicht einmal der Bauer etwas mitbekommen. Nur Karin aus der Oberstadt hatte es geschafft. Wenn auch nur auf die dritte Seite, aber immerhin mit Foto. Sie hatte im Gehrengässchen einen Einbrecher überwältigt. Zumindest hatte es so in der Zeitung gestanden und so erzählte sie es auch. Seit zehn Jahren. Aber eigentlich war der Mann nur über ihren blauen Trolley mit dem Schriftzug der Oberhessischen Presse gestolpert, als er die Biege machen wollte. Die Polizei musste ihn nur noch aufheben und ein wenig abstauben. Frau Loth wusste das, aber sie gönnte Karin die Geschichte. Die dritte Seite war nicht ihr Ziel. Sie wollte es auf die Titelseite schaffen. Dort gehörte sie hin. Frau Loth seufzte. Sie ahnte nicht, wie nah sie der Erfüllung ihres geheimen Traums war.

      Es war ein vernieselter Morgen im November. Handschuhwetter. Oben auf dem Dammelsberg hatte es bereits geschneit. Fröstelnd zog Frau Loth den Kopf zwischen die Schultern. Wenn sie auf ihrem Rad unterwegs war, spürte sie die Kälte nicht, aber jetzt kroch sie ihr die Waden hoch.

      »Baal humer aach Schneije«, sagte Karin, mit der sie auf die Zeitungen wartete.

      »Hhm«, bestätigte Frau Loth. Morgens funktionierte ihr Kiefer nur eingeschränkt. Sie war Bauchschläfer und fühlte sich noch ganz zerknittert. »Wo er nur bleibt?«

      »Vielleicht huhse ‘en Babaierriss«, nuschelte Karin. Auch sie klang etwas zerknautscht.

      »Vielleicht«, bekräftigte Frau Loth. Es kam immer mal wieder vor, dass eine der großen Papierrollen riss. Das dauert dann immer, bis die Rotationsmaschinen gereinigt und wieder einsatzbereit waren. Hätte sie mal in der Druckerei angerufen, bevor sie losgeradelt war, dann säße sie jetzt noch bei einer schönen Tasse Tee in ihrer warmen Küche.

      »Hoste gelearse?«

      »Was?«, fragte Frau Loth.

      »Sai wirrer Inbraecher innerwegs.«

      »Wirklich?«

      »Haal die Aae off.«

      »Mach ich«, sagte Frau Loth. Unwillkürlich griff sie in ihre Jackentasche. Mist, dachte sie. Ihr Handy war noch im guten Mantel, den sie gestern getragen hatte, als sie sich in der Oberstadt auf einen Kaffee mit Jasmin getroffen hatte.

      »Ich wette, dai laese die Duuresozäje.« Karin erwärmte sich für das Thema. Frau Loth hatte den Verdacht, dass auch Karin sich gerne wieder in der Zeitung sehen würde. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, und der Artikel, den sie in einer Klarsichthülle aufbewahrte und zu jedem Ausflug mitbrachte, war schon ganz gelbstichig.

      Es war bereits halb vier, als der Fahrer mit quietschenden Reifen vor der Santander Bank hielt und ihnen die Packen vor die Füße warf.

      Mit der Taschenlampe in der Hand suchte sich Frau Loth die Packen für ihren Bezirk heraus. Noch bevor sie ihre Zeitungen zusammen hatte, wendete der Transporter und verschwand in der Nacht. Er würde noch einige Abladestellen anfahren. Schließlich versorgte die Oberhessische Presse den gesamten Landkreis Marburg-Biedenkopf mit Nachrichten. Zuverlässig. Pünktlich. Meistens.

      Mit ihrem Schweizer Messer, das mit der Taschenlampe zur Grundausstattung eines Zeitungszustellers gehörte, durchtrennte Frau Loth die Plastikbinder und verteilte die druckfrischen Exemplare in den Satteltaschen. Karin war fast schon auf dem Weg in die Oberstadt, als sie ihre Zeitungen verstaut hatte und mit der Taschenlampe in der Hand die Veränderungsliste studierte, die sie jeden Morgen von der Abonnementverwaltung bekam.

      »Hoste gelaese?« Karin wickelte sich den Schal fester um die Ohren. »De aale Meermann ias aach hie. Gott huen seelig.«

      »Ich weiß«, sagte Frau Lot. »Schade um ihn. Das war ein wirklich feiner Herr.« Aber das sagte sie schon zu sich selbst, weil Karin bereits unterwegs war. Und auch Frau Loth beeilte sich. Während sie die Zeitungen zustellte, musste sie immerzu an den alten Herrn denken. Seit seine Frau gestorben war, hatte er allein in dem spitzgiebeligen Haus gelebt. Frau Loth kannte ihn so gut, wie Zusteller Abonnenten kannten. Immer wenn sie vor Weihnachten anklingelte, um den Jahreskalender abzugeben, bat er sie ins Wohnzimmer und nahm einen vorbereiteten Umschlag vom Sekretär. In den ersten Jahren waren immer zehn Mark in dem Umschlag gewesen, danach zehn Euro. Und immer eine hübsche Karte dabei. Er war immer sehr umständlich

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